Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Es wird bei wichtigen Erörterungen in diesem Bundestage leider immer wieder notwendig, einige Bemerkungen über den Stil unserer parlamentarischen Auseinandersetzungen zu machen.
Der Gegenstand, mit dem sich die heutige Regierungserklärung befaßt, ist nicht etwa irgendein internationaler Vertrag üblicher Art, wie wir ihn ja oft in diesem Hause zu behandeln haben. Mit der Errichtung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wird eine Entwicklung eingeleitet, die die gesamte wirtschaftliche Struktur Europas wesentlich verändern wird, ja, die man gewissermaßen als ein Stück europäischer Verfassungsgeschichte bezeichnen kann. Mir scheint, daß es dann nicht angemessen ist, daß die Ausschüsse des Bundestages erst vier Wochen vor der Unterzeichnung eines solchen Vertragswerks die Möglichkeit haben, sich zu unterrichten;
eine Unterrichtung, die im übrigen unzulänglich bleiben mußte, weil nicht einmal die endgültigen Vertragstexte vorlagen. Dann scheint es mir auch nicht angemessen zu sein, daß das Parlament selbst erst vier Tage vor der Unterzeichnung zu einem derart wichtigen und grundlegenden Problem Stellung nehmen kann.
Ich darf eine zweite Bemerkung in ähnlicher Richtung machen. Die Regierungserklärung zu einem derartig wichtigen Gegenstand wurde uns heute weder vom Kanzler noch von einem Minister, sondern von dem Herrn Staatssekretär des Auswärtigen Amts vorgetragen. Dabei muß ich mit Bitterkeit daran denken, daß in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vor kurzem eine Meldung zu lesen war, daß zur Unterzeichnung ides Vertragswerkes in Rom der Herr Bundeskanzler fahren müsse, und zwar handle es sich dabei um protokollarische Gründe:
da zur Zeit der Herr Außenminister nicht verfügbar sei, müßte an seiner Stelle der Herr Staatssekretär unterzeichnen, und die Unterschrift eines Staatssekretärs wiege für ein so wichtiges Vertragswerk zu leicht. Für das Parlament ist offenbar nach Auffassung der Bundesregierung das Gewicht des Herrn Staatssekretärs in einer solch wichtigen Sache schwer genug!
Mir scheint, ein solches Verfahren entwertet die Debatte über die wichtige Frage, die wir heute zu behandeln haben.
Damit komme ich zur Sache. Es ist beinahe genau fünf Jahre her, daß sich der Bundestag der Bundesrepublik Deutschland mit dem ersten Versuch einer europäischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit, nämlich mit dem Schumanplan befaßte. Wir haben daher eine Erfahrung von einem halben Jahrzehnt hinter uns, die uns wertvolle Kriterien für die Beurteilung des Vertragswerkes geben kann, das uns heute hier vorgelegt wird. Sie wissen, daß meine Fraktion damals den Schumanplan aus Gründen, die wir auch heute noch für berechtigt halten, abgelehnt hat. Wir haben ihn damals nicht abgelehnt, weil wir gegen eine europäische Zusammenarbeit waren, sondern weil wir die Konstruktion der Montanunion für unglücklich und gefährlich hielten. Als die Montanunion ein Faktum war, haben die sozialdemokratischen Vertreter in der Gemeinsamen Versammlung, wie jedes Mitglied dieser Versammlung bestätigen kann, mit aller Energie mitgearbeitet, um die Schwierigkeiten, die aus dieser Konstruktion entstehen mußten, zu überwinden. Denn wir wünschten nicht, daß die Konstruktionsfehler der Montanunion zu einer Diskreditierung des Gedankens der europäischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit führen sollten.
Als sich nach der Messina-Konferenz im Juni 1955 Möglichkeiten abzeichneten, die europäische Zusammenarbeit auf eine breitere und tragfähigere Grundlage zu stellen, da waren es Sozialdemokraten, die zu den ersten Mitgliedern des Aktionskomitees für die Vereinigten Staaten Europas gehörten, das von dem früheren Präsidenten der Hohen Behörde, Herrn Jean Monnet, ins Leben gerufen worden war.
Die drei Hauptargumente, die unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten gegen die Konstruktion des Vertrags über die Montanunion gegeben waren, sind folgende. Im Vordergrund der Überlegungen stand die Tatsache, daß die Montanunion sich beschränkte auf einen kleinen, begrenzten, aber wichtigen Teil der beteiligten Volkswirtschaften, nämlich auf Kohle und Stahl. In diesem Hause ist damals von der gespaltenen Volkswirtschaft gesprochen worden. Wohl niemand kann bestreiten, daß die Teilintegration auch heute noch d a s Problem der Montanunion ist. Die Gemeinsame Versammlung hat daher bereits im Juni 1953 in einer einstimmig angenommenen Entschließung darauf hingewiesen, wie notwendig eine Koordinierung der Wirtschafts-, Finanz-, Währungs- und Kreditpolitik der beteiligten Staaten mit der Politik der Montanunion sei.
Im Oktober 1953 hat der Ministerrat der Montanunion einen feierlichen Beschluß gefaßt, die Politik der Regierungen mit der Politik der Hohen Behörde abzustimmen. Leider ist aus dieser Zusammenarbeit auf breiterer Grundlage in den vergangenen Jahren nichts geworden, sondern die Versuche einer Koordinierung der Wirtschaftspolitik der verschiedenen Länder sind zum erheblichen Teil an den Widerständen der Länderregierungen gescheitert. Daraus haben sich große Schwierigkeiten ergeben. Nach einer ernsthaften Überprüfung muß man sagen, daß die Montanunion im Grunde an dieser mangelnden Koordinierung und Zusammenfassung der Wirtschaftspolitik gescheitert ist; denn sie hat bis heute ihre zentrale Aufgabe, nämlich zu einer Ausweitung der Wirtschaft, zu einer Steigerung der Beschäftigung und zu einer Erhöhung des Lebensstandards beizutragen, nicht erfüllen können.
— Ich werde Ihnen gleich den Beweis bringen.
Es war auf ,der letzten Tagung des Straßburger Ministerrates vom 15. Februar 1957, also in diesem Jahre, als wiederum ein einstimmiger Beschluß gefaßt wurde, in dem bedauert wird, daß es bisher ungeachtet der Entschließung des Ministerrats vom Oktober 1953 nicht möglich war, ausreichende Fortschritte in der Harmonisierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten zu erzielen, die zur Durchführung des Vertrags erforderlich sind. Das Ergebnis ist, daß in Ermangelung einer solchen Zusammenarbeit auf breiterer Grundlage die Montanunion ihre eigentliche Aufgabe bisher nicht erfüllen konnte und zur Stagnation verurteilt ist, wenn nicht ein größerer und weiterer Rahmen für diese wirtschaltliche Zusammenarbeit gefunden wird. Ich möchte sagen: die Vorlage der Verträge, die diese Erweiterung des Rahmens geben, ist letzten Endes eine verspätete Rechtfertigung der Haltung der Sozialdemokratie zur Montanunion.
Wir werden bei unserer Stellungnahme zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu überprüfen haben, ob und in weichem Umfang dieser Mangel überwunden ist.
Der zweite Einwand war folgender. Durch die Beschränkung der Kohle- und Stahlgemeinschaft auf sechs Staaten bestand die große Gefahr einer Abschließung gegen die Umwelt, einer Blockbildung und der mangelnden Zusammenarbeit mit den übrigen europäischen Staaten und der sonstigen Welt. Wir sind innerhalb der Montanunion stets für eine Ausdehnung über diesen Rahmen der Sechs hinaus eingetreten und haben es begrüßt, als er zu einem Assoziierungsvertrag zwischen der Montanunion und Großbritannien kam. In dieser Beschränkung auf die sechs Staaten sahen wir eine große Gefahr für die Entwicklung dieser Sechs, eine Gefahr für eine gesunde Zusammenarbeit mit dem übrigen Europa. Vor allen Dingen aber sahen wir einen großen Mangel darin, daß wichtige Staaten des Nordens mit weltoffenen Auffassungen und fortschrittlicher politischer Gesinnung von der Teilnahme an der Montanunion ausgeschlossen waren. Die Europäische Sozialistenkonferenz, die sich am 25./26. Januar dieses Jahres in Luxemburg mit diesem Problem befaßt hat, hat in diesem Zusammenhang feststellen müssen, daß die Vorteile einer Wirtschaftsausweitung, die durch die Errichtung der Gemeinschaft für Kohle und Stahl gefördert wurde, hauptsächlich den Unternehmen zugute kamen, ohne daß die Arbeitnehmer ausreichend an diesen Vorteilen teilhatten.
Bei den neuen Projekten werden wir zu überprüfen haben, ob die Tendenz zur Autarkie und zur Abschließung überwunden ist und eine freiere und fortschrittlichere Entwicklung möglich gemacht wird.
Eine dritte Frage, meine Damen und Herren. Die Montanunion war zusammen mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und der Europäischen Politischen Gemeinschaft ein Dreiklang, der sich wie eine schützende Glocke über Europa
legen sollte. Als diese Glocke mit schrillem Klang zersprang und EVG und EPG in der Versenkung verschwanden, zeigte sich die erste entscheidende große Krise der Montanunion. Weshalb? Mir scheint die Begründung sehr einfach zu sein. Solange die Frage der wirtschaftlichen Zusammenarbeit Europas und die darauf gegründeten Organisationen nur als Schachfiguren in der machtpolitischen Auseinandersetzung und als Mittel der ideologischen und militärischen Blockbildung angesenen werden, sind sie kein brauchbares Instrument für eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung Europas.
Denn unter diesen Voraussetzungen wird die europaische wirtschaftliche Zusammenarbeit immer nur dann grobgeschrieben, wenn der kalte Krieg oder die machtpolitischen Auseinandersetzungen auf dem Hönepunkt sind. Das ist gerade die Zeit, die zu vernúnttigen wirtschaftlichen Entwicklungen denkbar ungeeignet ist. Und die europäische wirtschatliche Zusammenarbeit wird immer dann kleingeschrieben, wenn die Spannungen nachlassen, weil dann diese europäischen Organisationen als Mittel der Blockpolitik keine Bedeutung mehr haben. Das ist gerade die Zeit, die für konstruktive wirtschaftliche Aufbauarbeit denkbar gut geeignet ist.
Nach dem Scheitern der EVG wurde eine grundlegende Entscheidung getroffen, indem man die Fragen der Militärpolitik in Europa loslöste von dem Problem der Montanunion und diese damit aus dem Bannkreis der reinen Machtpolitik befreite. Mir scheint, daß es nur dadurch möglich gewesen ist, die Krise zu überwinden, in der sich die Montanunion seinerzeit befand. Für die Zukunft der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wird es darauf ankommen, ob sie unabhängig von der jeweiligen, zufälligen Machtkonstellation als ein wichtiges Instrument der europäischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit oder nur als ein Anhängsel der ideologischen und militärischen Blockpolitik angesehen wird.
Damit komme ich zu der Frage: Welche Aufgabe ist der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gestellt?
Wir werden nicht die einzigen gewesen sein, die vor einigen Tagen mit Verwunderung feststellten, daß die Bezeichnung „Gemeinsamer Europäischer Markt" plötzlich durch die Bezeichnung „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft" ersetzt wurde. Das scheint mir auf die Erkenntnis hinzudeuten, daß die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes keine ausreichende Zielsetzung für eine wirklich europäische Politik ist, sondern daß man einer solchen neuen Organisation eine europäische wirtschaftliche Aufgabe stellen muß.
Warum ist wohl die Montanunion seinerzeit in weiten Kreisen des deutschen Volkes als ein brauchbarer Versuch zu einer Neuregelung angesehen worden? Deswegen, weil man von ihr einen wirtschaftlichen Aufschwung, die Schaffung neuer Arbeitsplätze und einen größeren Anteil aller Menschen an den Gütern dieser Erde erhofft hat. Und warum haben wir heute eine gewisse Enttäuschung, ein Desinteressement an der Montanunion? Sicherlich ist das Gefühl weit verbreitet, daß in der labilen Lage, in der sich heute alle europäischen Staaten wirtschaftlich befinden, die Montanunion kein rocher de bronze sei, keinen besonderen Halt für die Sicherung der wirtschaftlichen Entwicklung biete. Wenn heute viele Menschen an die Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Hoffnungen knüpfen, dann, weil sie meinen, daß diese zu einer gesünderen Entwicklung der Wirtschaft, zum Schutz gegen Krisen beitrage, daß eine solche Europäische Wirtschaftsgemeinschaft wirksame Maßnahmen gegen einen wirtschaftlichen Rückgang, gegen Arbeitslosigkeit und für wirtschaftliche Sicherheit treffen könne.
Meine Damen und Herren, das rührt an die Grundlagen des Vertrags. Hier geht es um die Frage: Welche Aufgaben sind der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gestellt? Wem soll diese Gemeinschaft letzten Endes dienen? Lassen Sie mich zu dieser Frage einige Ausführungen machen.
Solange der Wirtschaftsablauf in den einzelnen Staaten durch den Mechanismus der Goldwährung beeinflußt und gestaltet wurde, war für die innerwirtschaftliche Entwicklung der Zu- und Abfluß von Gold entscheidend. Der Ausgleich der Zahlungsbilanz führte häufig zu großen wirtschaftlichen Opfern, zu drastischen Konjunkturdrosselungen, zu Betriebsstillegungen und Arbeitslosigkeit. Es waren also außenwirtschaftliche Momente, die letzten Endes über die Zahlungsbilanz und über den Währungsmechanismus den innerwirtschaftlichen Ablauf bestimmten. Ich habe das Gefühl, daß mancher heute mit Trauer jener Zeit nachsieht, in der ihm der außenwirtschaftlich bestimmte Währungsmechanismus die Verpflichtung zu innerer wirtschaftspolitischer Aktivität nahm.
Diese Dinge haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte wesentlich verändert. An die Stelle der Goldströme ist zwar das Auf und Ab der Zahlungsbilanzen getreten, aber sie sind für die innere wirtschaftliche Entwicklung nicht mehr entscheidend. Seitdem etwa 30 % des Sozialprodukts über öffentliche Haushalte laufen, ist der Geldstrom der öffentlichen Kassen im Zusammenhang mit der Zentralisierung der Kassenhaltung bei der Notenbank ein mindest gleichwichtiges Element für die innerwirtschaftliche Entwicklung. Die Erörterungen über den Juliusturm in der Vergangenheit haben uns das ganz besonders stark zu Gemüte geführt. Große Straßen- und Eisenbahnbauten, große Wohnungsbauten, Sozialreform und Rüstungsausgaben sind viel entscheidender für den Wirtschaftsablauf als z. B. die Notenbankpolitik.
Das scheint mir der eine Gesichtspunkt zu sein, den wir 'beachten müssen, wenn wir von den Aufgaben der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sprechen.
Und noch ein zweiter. Ausgangspunkt aller Überlegungen über Konjunkturpolitik ist heute bei allen modernenn Staaten nicht mehr der Zahlungsbilanzausgleich, sondern im Zentrum der Überlegungen zur Konjunkturpolitik stehen die Frage einer hohen Beschäftigung, die Frage der Preisstabilität, die Frage der finanziellen Stabilität, letzten Endes die Frage eines wirtschaftlichen Gleichgewichts. Das heißt: für die Konjunkturpolitik sind binnenwirtschaftliche Gesichtspunkte von entscheidender Bedeutung. Die wirtschaftliche Entwicklung hängt von der Aktivität der inneren staatlichen Wirtschaftspolitik ab.
Herr Dr. Hans Langelütke, der Leiter des IfoInstituts in München, hat das kurz und prägnant dahin ausgedrückt, daß jeder Regierung heute das Hemd der Vollbeschäftigung näher sitzt als ,der Rock der Weltmarktinterdependenz.
Das Ergebnis dieser kurzen Überlegung ist für mein Empfinden folgendes. Kernpunkt und zentrale Aufgabe jeder Konjunkturpolitik — es gibt heute kaum irgendwelche Wirtschaftspolitik, die keine Konjunkturpolitik ist — ist die Aufrechterhaltung des binnenwirtschaftlichen Gleichgewichts, die Sicherung der wirtschaftlichen Entwicklung, die Sicherung der Arbeitsplätze, die Sicherung .der Preise und die Sicherung des Lebensstandards. Das bedeutet zugleich, daß, wenn das die Zielsetzung der Wirtschaftspolitik ist, unter Umständen die innere Entwicklung gegen die Einflüsse über die Zahlungsbilanz abgeschirmt werden muß.
Meine Damen und Herren! Hier scheiden sich die Geister. Wer wirklich wirtschaftliche Stabilität und gesunde soziale Struktur der europäischen Völker wünscht, kann die Entwicklung nicht dem Währungs- und Zahlungsbilanzmechanismus überlassen, sondern diese Entwicklung kann nur durch wirtschaftspolitische Aktivität gestaltet werden. Die Frage ist, ob für eine solche wirtschaftspolitische Aktivität die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft das geeignete Instrument ist.
Wenn man die Konstruktion der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft einmal von allen Vorbehalten, Formeln und dergleichen mehr befreit, kann man, glaube ich, zwei entscheidende Zielsetzungen feststellen.
Das eine ist die Schaffung einer Zollunion, d. h. die Beseitigung aller Binnenzölle und aller sonstiger Beschränkungen für den innerwirtschaftlichen Verkehr. Das bedeutet eine einheitliche Handelspolitik nach außen. Die Zollhoheit innerhalb der Zollunion liegt nicht mehr bei den einzelnen Mitgliedstaaten, sondern bei ,den Organen der Gemeinschaft, in diesem Fall beim Ministerrat. Das ist die eine Seite.
Die zweite Seite der Angelegenheit ist, daß in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die Mitgliedstaaten in ihrer Währungs- und Wirtschaftspolitik trotzdem autonom sein werden.
Die Ansätze zu einer Koordinierung der Wirtschafts- und Währungspolitik innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sind denkbar gering. Bei der Koordinierung der Währungspolitik ist z. B. davon die Rede, daß sie in dem für das Arbeiten des Gemeinsamen Marktes erforderlichen Umfang koordiniert werden soll. Im übrigen sind die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer sonstigen internationalen Verpflichtungen sogar zur selbständigen Feststellung der Wechselkurse befugt.
Meine Damen und Herren! Aus dieser Konstruktion — einheitliche Zollunion mit Herausnahme der Zollhoheit aus dem Bereich der Einzelstaaten und trotzdem Autonomie der Einzelstaaten für Währungs- und Wirtschaftspolitik — ergeben sich für das Vertragswerk ganz bestimmte Konsequenzen. Sie bestehen darin, daß Frankreich seine Ausfuhrbeihilfen und seine Einfuhrabgaben — die an sich ja ein Widerspruch zu einem Gemeinsamen Markt sind — beibehalten darf, und zwar praktisch ohne jede strenge zeitliche Begrenzung. Sie liegen auch darin, daß z. B. Italien besondere Sonderrechte in Anspruch nehmen darf. Und zwar muß bemerkenswerterweise die Europäische Kommission, wenn sie in einer Zahlungsbilanzkrise Italien bestimmte Auflagen machen will, dabei beachten, daß die Verwirklichung des Zehnjahresplans Italiens und die Hebung des Lebensstandards im Vordergrund zu stehen haben, während sie im übrigen bei der Vertragskonstruktion nicht im Vordergrund stehen.
Schließlich ergibt sich aus dieser Konstruktion, daß sämtlichen Staaten gewisse Ausweichmöglichkeiten zustehen, indem sie in einer Zahlungsbilanzkrise eine Beschränkung des freien Verkehrs über die Grenzen vornehmen dürfen.
Das sind alles autonome Maßnahmen der einzelnen Länder, die letzten Endes praktisch die Einheitlichkeit des Gemeinsamen Marktes aufheben.
Das ist der Widerspruch, der in diesem Vertrage liegt. Tatsächlich sind eine Zollunion und autonome Wirtschafts- und Währungspolitik der Mitgliedstaaten nicht miteinander vereinbar. Denn für die Wirtschafts- und Währungspolitik der Einzelstaaten fehlt eines der wichtigsten Instrumente, nämlich die Kontrolle des Außenhandels, so daß jeder Einzelstaat den Auswirkungen der autonomen Wirtschafts- und Währungspolitik der anderen Mitgliedstaaten ausgeliefert ist. Darum muß es Ausweicnklausem geben, die im Grunde genommen mit einem einheitlichen Wirtschaftsraum nicht vereinbar sind und die, je weiter die Entwicklung fortschreitet, an Wirksamkeit einbüßen müssen, wenn nämlich die Umstrukturierung der europäischen Wirtschaft diesen Maßnahmen ihre Wirksamkeit nimmt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hier wird eine Konstruktion geschaffen, in der die einzelnen Mitgliedstaaten, denen die Autonomie der Wirtschaftspolitik verbleibt, praktisch keine wirksame Konjunkturpolitik mehr entfalten können, wahrend aie Zollunion, die die Zollhoheit besitzt, für die Konjunkturpolitik nicht zuständig ist. Damit sind insgesamt die Möglichkeiten in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu einer wirtschaitspolitischen Aktivität — sei es auf der Seite der Regierungen, sei es auf der Seite der Organe der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft — denkbar gering.
Hinter dieser Konstruktion stehen bestimmte wirtschaftliche Grundauffassungen. Diese Konstruktion steht letzten Endes in Übereinstimmung mit der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung, die im Prinzip aktive Wirtschaftspolitik ablehnt und die Regulierung der Wirtschaft im wesentlichen dem Mechanismus der Zahlungsbilanzen bzw. der Notenbankpolitik überläßt.
Zwei Dinge scheinen mir sehr bezeichnend zu sein. In den Vertragsentwürfen war eine Bestimmung enthalten, dali die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eine gemeinsame Wirtschaftspolitik entwickeln solle. Diese Bestimmung ist auf deutsches Drängen gestrichen worden.
Ich habe den Eindruck, daß der Herr Bundeswirtschaftsminister auf diesen Erfolg noch stolz ist. Außerdem enthielten die ursprünglichen Vertragsentwürfe eine Bestimmung, daß die Europäische Kommission und der Ministerrat eine gemeinsame Konjunkturpolitik entwickeln sollten. Auch diese Bestimmung ist auf Drängen der deutschen Bundesregierung gestrichen worden.
Das ist jener Verzicht auf eine eigene Wirtschaftspolitik, der letzten Endes dazu geführt hat, daß in den vergangenen Jahren sowohl die wirtschaftliche Entwicklung wie auch die Preisentwicklung der Bundesregierung aus den Händen geglitten sind.
— Meine Damen und Herren, Sie müssen mir schon gestatten, daß ich zur näheren Konkretisierung dessen, was ich bezüglich der europäischen Wirtschaftsunion sage, auf bereitliegende Beispiele aus der deutschen Innenpolitik, die für alle in Deutschland überzeugend sind, zurückgreife.