Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Vertretung des Herrn Bundesministers des Auswärtigen darf ich für die Bundesregierung folgendes erklären:
Die Verträge über den Gemeinsamen Markt und Euratom, die am 25. März in Rom unterzeichnet werden sollen, sind das Ergebnis einer langen, beharrlichen Arbeit der sechs Partnerstaaten der europäischen Kohle- und Stahlgemeinschaft. Man kann die Verträge als die direkte Folge des Gemeinsamen Marktes für Kohle und Stahl bezeichnen. Schon bei der Schaffung der Montangemeinschaft im Jahre 1952 nämlich waren sich die Vertragschließenden darin einig, daß die Errichtung eines wirtschaftlich und ,politisch geeinten Europa fortgesetzt werden müss durch den Ausbau gemeinsamer Institutionen, die fortschreitende Verschmelzung der nationalen Volkswirtschaften, die Schaffung eines großen gemeinsamen Marktes für alle Güter und die allmähliche Hebung des Lebensstandards.
Ober die Notwendigkeit dieses Zusammenschlusses der europäischen Staaten in unserem Zeitalter, in dem sich politische und wirtschaftliche Macht in einem entscheidenden Maße auf wenige große Weltmächte konzentriert, braucht kaum mehr etwas gesagt zu werden — nach allem, was sich in den letzten Jahren und namentlich in der ängsten Vergangenheit in der Welt und in Europa im besonderen abgespielt hat. Wir wissen, daß einenge
Vereinigung der alten europäischen Staaten heute für uns die einzige Chance ist, Europa im Konzert der Mächte seine alte Stellung zu wahren oder zurückzugewinnen, ja wahrscheinlich die letzte Chance des Überlebens, die letzte Möglichkeit der Sicherung unseres freiheitlichen Daseins, unseres wirtschaftlichen Gedeihens und unseres sozialen Fortschritts. Und um insbesondere die wirtschaftliche Bedeutung dieses Zusammenschlusses zu unterstreichen, brauche ich nur an zwei oft angeführte Beispiele zu erinnern: Weder eine leistungsfähige Flugzeugindustrie noch eine leistungsfähige Atomindustrie könnte heute in einem der sechs Partnerstaaten allein aufgebaut werden. Die Schaffung dieser für unser Zeitalter symptomatischen Unternehmen setzt größere Wirtschaftsräume voraus.
Ich will mich hier nicht bei der Vorgeschichte und der Geschichte der Vertragsverhandlungen aufhalten. Ihre Etappen sind wohlbekannt: Der belgisch-niederländisch-luxemburgische Vorschlag hinter dem schon die Initiative des belgischen Außenministers Paul Henri Spaak stand, vom Frühjahr 1955, dann die Konferenz der Außenminister der sechs Montangemeinschaftsstaaten in Messina im Sommer 1955, die eine europäische Sachverständigengruppe unter Führung von Spaak einsetzte, schließlich die Konferenz von Venedig Ende Mai 1956, wo durch die Annahme des Berichts der Sachverständigen die Pläne feste Gestalt gewannen, in dem die wesentlichen Schlußfolgerungen dieses Berichts akzeptiert wurden. Auf seiner Grundlage hat dann seit Juli 1956 eine Konferenz bevollmächtigter Regierungsvertreter die Verträge selbst ausgearbeitet.
Diese Brüsseler Regierungskonferenz hat ihre Arbeiten jetzt abgeschlossen und den sechs Regierungen die Vertragsentwürfe für eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und eine europäische Atomgemeinschaft vorgelegt.
Über den Gang der Verhandlungen sind die Auswärtigen Ausschüsse des Bundestages und des Bundesrats mehrfach, meist im Anschluß an die genannten Konferenzen, unterrichtet worden. Alle diese Berichte konnten natürlich nur Teilberichte über den jeweils erreichten Stand sein. Daß ein systematischer Gesamtbericht erst am Ende der Verhandlungen gegeben werden kann, liegt daran, daß wichtige, ja sehr wichtige Einzellösungen, die nahezu alle Teile des Vertragswerkes berühren, erst in den besonders schwierigen Schlußverhandlungen gefunden worden sind. Um so dankbarer ist die Bundesregierung dafür, daß das Hohe Haus ihr durch Einsetzung eines Unterausschusses die Möglichkeit gegeben hat, in den letzten Wochen die Grundfragen des Vertragswerkes eingehend und ausführlich zu erläutern und zu erörtern.
Lassen Sie mich Ihnen jetzt zunächst einen kurzen Überblick über den Inhalt des Vertrags über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft geben. Wie dieser Inhalt zu bewerten ist, darauf will ich später eingehen. An dieser Stelle möchte ich nur sagen, daß man für die Beurteilung des Ganzen nur dann den richtigen Standpunkt gewinnt, wenn man sich bewußt wird, daß für das Zustandekommen eines solchen gemeinsamen Werkes von allen Beteiligten Opfer gebracht werden müssen, in manchen Fällen sehr fühlbare materielle Opfer. So müsssen auch unsere eigenen deutschen Leistungen als ein Beitrag unseres guten Willens gewürdigt werden, der gemeinschaftlichen Sache zu dienen —
und zugleich als ein Ausdruck unserer Hoffnung, daß das künftige Wirken in der Gemeinschaft immer von dem Geiste echter Zusammenarbeit der beteiligten Staaten getragen sein wird; denn nur auf dieser Grundlage kann das große Werk Leben gewinnen. Natürlich kann ich nicht auf alle Einzelheiten des vielschichtigen Vertragswerkes eingehen, das etwa 240 Artikel umfaßt. Meine bescheidenere Absicht ist vielmehr der Versuch, das System des Vertrages und die Grundlinien der Lösungen darzustellen — selbstverständlich mit dem Vorbehalt von Ergänzungen in der Debatte.
Der Kern des Vertrages ist die Errichtung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als einer mit eigenständigen Befugnissen ausgestatteten Gemeinschaft von Staaten. Der Vertrag regelt nicht wie ein gewöhnliches Wirtschafts- und Handelsabkommen nur Rechte und Pflichten der beteiligten Staaten auf zwischenstaatlicher Grundlage. Eine derartige Regelung hätte weder den politischen noch den wirtschaftlichen Zielen genügt, die die sechs Staaten anstreben. Der Vertrag ruft vielmehr ein europäisches Gebilde mit besonderen organisatorischen Elementen ins Leben. Diese Feststellung weist zugleich auf den eminenten politischen Charakter des Vorgangs, auf die großen in ihm ruhenden politischen Möglichkeiten; sie zeigt die Größe des Entschlusses, den die sechs Staaten mit der Gründung der Gemeinschaft zu verwirklichen sich anschicken. Wichtige Befugnisse, die den Vertragsstaaten auf dem Gebiet der Wirtschaft vorbehalten waren, werden der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft übertragen.
Die tragenden Elemente dieser Gemeinschaft sind ein gemeinsamer Markt und gemeinsame Organe.
Hauptstück des Gemeinsamen Marktes ist die Zollunion, die schrittweise in drei Etappen von jeweils vier Jahren alle unter den sechs Mitgliedern vorhandenen Binnenzölle abbaut und im Endzeitpunkt, spätestens nach 15 Jahren, einen von allen Zollhindernissen freien, durchgehenden Wirtschaftsraum schafft. Dieses Stück allein ist von so umwälzender Tragweite, daß wohl keiner von uns bereits jetzt die volle Wirkung in allen Einzelheiten ermessen kann. Zum Abbau der Zölle tritt als Ergänzung die Beseitigung der mengenmäßigen Beschränkungen im Handel der Mitgliedstaaten untereinander. Außerdem wird ein gemeinsamer Außentarif geschaffen, und es werden Regeln für eine gemeinsame Handelspolitik aufgestellt.
Auch die Landwirtschaft unterliegt grundsätzlich den Regeln des Vertrages, jedoch sind für sie Sonderregelungen getroffen. Praktisch bedeutet das: die in den einzelnen Mitgliedstaaten bestehenden verschiedenartigen Marktordnungen bleiben bis zur Schaffung einer gemeinschaftlichen Marktordnung erhalten.
Notwendig zum Funktionieren des Gemeinsamen Marktes ist ferner der freie Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr, ,der bis zum Ende der Übergangszeit hergestellt werden soll. Auch eine Koordinierung der Verkehrsregeln in den Mitgliedstaaten 'erschien notwendig. Der Vertrag selbst enthält bereits ein besonderes Diskriminierungsverbot für ,den Verkehr und Vorschriften über Unterstützungstarife, Wettbewerbstarife und Grenzgebühren. Darüber hinaus schließt er die Aussicht in sich, in Zukunft zu weiteren Fortschritten in der Richtung auf notwendige gemeinsame Regeln zu kommen. Der Vertrag enthält ferner Wettbewerbsregeln, fiskalische Bestimmungen und Vorschriften
über die Annäherung der Rechtsvorschriften. Im Bereich der Wirtschaftspolitik im besonderen sind Regeln für die Konjunktur- und Handelspolitik sowie für die Zahlungsbilanzpolitik .aufgestellt.
Wichtig ist schließlich, daß der Vertrag Grundsätze der Sozialpolitik formuliert und einen europäischen Sozialfonds vorsieht. Eine Verbesserung und Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer wird sowohl als eine natürliche Wirkung des Gemeinsamen Marktes wie auch als Folge der Angleichung der Rechtsvorschriften erwartet. Die Europäische Kommission hat die Aufgabe, eine enge Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten auch in sozialen Fragen zu fördern. Sie berichtet daher der Versammlung jährlich besonders über die Entwicklung der sozialen Lage. Der Sozialfonds dient dazu, die Beschäftigungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer zu verbessern und auch damit zur Hebung der Lebenshaltung beizutragen. Er fördert die Arbeitsmöglichkeiten und die örtliche und berufliche Beweglichkeit der Arbeitskräfte. Das gilt besonders dann, wenn die Beschäftigung von Arbeitnehmern infolge von Umstellung von Betrieben auf andere Produktionsziele beeinträchtigt wird; dann kann nämlich der Fonds die Hälfte der Kosten decken, die für eine Umschulung oder Umsiedlung ,aufgewandt werden. Er kann auch, wenn Arbeitskräfte infolge von Umstellung vorübergehend unbeschäftigt sind, Beihilfen gewähren.
Ich schließe diese Übersicht, meine Damen und Herren, mit einer Skizze der Organisation der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Der Vertrag sieht, insoweit dem Vorbild der Kohle- und Stahlgemeinschaft folgend, vier gemeinsame Hauptorgane vor:
Der Ministerrat koordiniert die allgemeine Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten und trifft die wesentlichen Entscheidungen.
Die Europäische Kommission gewährleistet das ordnungsmäßige Arbeiten und die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes. Sie sorgt für die Anwendung des Vertrages und der von den Organen erlassenen Bestimmungen. Die Kommission besteht aus neun Mitgliedern, deren Status im Vertrag im einzelnen geregelt ist. Die Amtszeit beträgt vier Jahre.
Die Versammlung ist das parlamentarische Organ der Gemeinschaft mit Beratungs- und Kontrollbefugnissen. Sie tritt zugleich an die Stelle der Gemeinsamen Versammlung der Montangemeinschaft.
Der Gerichtshof schließlich sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages und nimmt zugleich die Funktionen des Gerichtshofes der Montangemeinschaft wahr.
Zu diesen vier Hauptorganen kommt als Hilfsorgan ein Wirtschafts- und Sozialausschuß mit beratenden Funktionen, der in bestimmten Fällen von Rat und Kommission gehört wird.
Ich fasse zusammen: Es liegt in der Natur eines so umfassenden Vertragswerkes, daß es zunächst dem Betrachter wenig übersichtlich erscheint, daß vor allen Dingen auch eine Zahl von Ausnahmebestimmungen ,die Regeln durchkreuzen — ich denke insbesondere an die Schutzklauseln des Vertrages — und damit gewisse Zweifel in bezug auf das einwandfreie Funktionieren des Vertragsorganismus wachrufen. Aber wir haben zu bedenken, daß Perfektionismus — der Perfektionismus des „alles oder nichts"! — hier fehl am Platze wäre, daß nicht alles in einem Zuge und an einem Tag getan werden kann, daß auch ,die Staaten nur Schritt für Schritt aufeinander zugehen und dabei nicht die notwendigen eigenen Sicherungen außer acht lassen können. Bei einem solchen Vertrag, wie ihn diese Zollunion darstellt, ist eine Summe von berechtigten schutzbedürftigen Interessen gegeneinander und miteinander abzuwägen; zwischen ihnen muß notwendigerweise ein Kompromiß gefunden werden. Indessen können wir sicher auf eines vertrauen: auf die eigene Dynamik des geschaffenen Werkes, auf die ihm innewohnenden, nach Vervollkommnung strebenden Kräfte, auf die Zunahme des gegenseitigen Verständnisses der Vertragspartner füreinander, die sehr bald ein rechtes Verhältnis aller Teile zueinander herstellen und eine immer wirksamere Verschmelzung des Ganzen herbeiführen werden.
Soviel als Umriß des Vertrages.
Ich möchte nun, meine Damen und Herren, im folgenden auf sechs Punkte des Vertrages etwas näher eingehen, die gerade bei uns letzthin Gegenstand der allgemeinen Erörterungen gewesen sind. Das sind erstens die französischen Sonderwünsche. Diese Sonderwünsche, durch die besonderen Schwierigkeiten motiviert, denen sich die französische Wirtschaft bei einem unvermittelten Übergang zum Gemeinsamen Markt ausgesetzt sehen würde, bestanden vor allem in drei Forderungen:
die sozialen Lasten der Industrien der Gemeinschaft sollten harmonisiert werden,
der Übergang von der ersten zur zweiten Etappe sollte nur durch einstimmigen Beschluß des Ministerrates möglich sein,
das System der Einfuhrausgleichsabgaben und Ausfuhrbeihilfen sollte von Frankreich beibehalten werden dürfen.
Was den ersten Punkt, die soziale Harmonisierung, anlangt, so sind nach dem Vertrag eine Angleichung der Männer- und Frauenlöhne bei gleichwertiger Arbeitsleistung und eine Angleichung der bezahlten Feiertage vorgesehen. Keine Verpflichtung besteht dagegen zur Angleichung der Überstundenzuschläge.
Sodann: Der Übergang von der ersten Zollsenkungsetappe in die zweite unterliegt der folgenden Regelung. Die Feststellung, ob die Ziele der ersten Etappe erreicht sind, geschieht durch einstimmigen Ministerratsbeschluß; kommt ein solcher Beschluß nicht zustande, so wird der erste Zeitabschnitt zunächst verlängert. Spätestens nach Ablauf ,des sechsten Jahres entscheidet der Ministerrat, jedoch mit qualifizierter Mehrheit. Es besteht also für keinen Vertragspartner das Recht, den Übergang von der ersten in die zweite Etappe von seinem Ermessen abhängig zu machen und womöglich die Existenz des ganzen Vertrages in Frage zu stellen. Die Mitglieder sind an den Vertrag gebunden, sie haben kein Rücktrittsrecht, und sie müssen die Zollunion innerhalb bestimmter Frist herstellen.
Schließlich - das betrifft den dritten Punkt — wird Frankreich gestattet, bis zum Ausgleich seiner Zahlungsbilanz sein jetziges System der Ausfuhrbeihilfen und Einfuhrabgaben aufrechtzuerhalten. Wir haben, als diese Frage zur Regelung anstand, vor einer schwierigen Entscheidung gestanden. Tatsache ist, daß, wie Sie wissen, eine Disparität besteht zwischen dem französischen Franc und der
Währung ,anderer Partnerstaaten. Diese Disparität wird durch das zur Zeit in Frankreich angewandte System von Einfuhrabgaben und Ausfuhrbeihilfenausgeglichen. Aber während Frankreich hinsichtlich der Ausgestaltung dieses Systems bisher freie Hand hatte, unterliegt es künftig einer Reihe wichtiger Beschränkungen. Das französische System wird nämlich jährlich durch die Kommission und den Rat überprüft werden, und die ,am 1. Januar 1957 geltenden Sätze von höchstens 15% dürfen nicht erhöhtwerden.
Ich spreche zweitens zum gemeinsamen Außenzoll: Zum Wesen einer Zollunion gehört ein gemeinsamer Außentarif. Sobald die Binnenzölle wegfallen, ist jede Einfuhr von außen in ein Mitgliedsland automatisch eine mögliche Einfuhr in alle anderen Mitgliedsländer. Der gemeinsame Tarif der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist in der Regel gleich dem arithmetischen Mittel der am 1. Januar 1957 von den Mitgliedstaaten tatsächlich angewandten Zölle; jedoch werden diese Sätze für eine große Zahl von Positionen herabgesetzt, wenn sie eine bestimmte Höchstgrenze überschreiten, z. B. für Rohstoffe auf 3 %. Es gibt auch noch andere Ausnahmen. Fast in allen Fällen kann zudem die Europäische Kommission eine vorübergehende Aussetzung ,dieser Zollsätze durch die Gewährung von Zollkontingenten erlauben. Ferner kann sie bei besonderen Schwierigkeiten einen Mitgliedstaat ermächtigen, die Herabsetzung oder Erhöhung der Sätze für bestimmte Positionen seines Zolltarifs aufzuschieben.
Für die Einführung dieses gemeinsamen Zolltarifs ist im Vertrag schrittweises Vorgehen vorgesehen. Die erste Angleichung der Zollsätze der Mitgliedstaaten gegenüber dritten Ländern muß am Ende des vierten Jahres nach Inkrafttreten des Vertrages erfolgen. Spätestens wird der gemeinsame Zolltarif bei Ablauf der Übergangszeit, also spätestens nach 15 Jahren, in vollem Umfang angewandt.
Nun ist unbestreitbar die Festsetzung eines neuen Zolltarifs im Leben ,der Staaten immer ein Vorgang von einschneidender Bedeutung, seine Wirkungen greifen in den Haushalt eines jeden einzelnen Bürgers ein. Es ist daher nicht verwunderlich, daß in der öffentlichen Meinung der beteiligten Länder, auch bei uns, dieser Punkt besonderes Interesse findet, ja daß er Sorgen hervorgerufen hat. Die Befürchtung indessen, der neue Außenzolltarif werde eine erhebliche Verteuerung der Lebenshaltung mit sich bringen und daher das innere Gefüge unserer Volkswirtschaft in Mitleidenschaft ziehen, ist nicht gerechtfertigt, und zwar aus folgenden Gründen:
Zunächst wird etwa ein Viertel des gesamten Außenhandels der Bundesrepublik in Zukunft Binnenhandel, nämlich Handel zwischen der Bundesrepublik und den übrigen fünf Partnerstaaten. Dieser Handel wird also von Zöllen überhaupt befreit sein.
Sodann sollte nicht übersehen werden, daß die Bundesrepublik mit ihrem Zollniveau etwa in der Mitte der beteiligten Staaten liegt und deshalb ihre Sätze am wenigsten zu verändern braucht, während beispielsweise Frankreich und Italien stark senken, ,die Beneluxländer dagegen anheben müssen.
Wir dürfen ferner darauf vertrauen, daß wir auf der Grundlage der jetzt vorgesehenen Zölle durch Verhandlungen mit anderen Staaten zu einer weiteren Liberalisierung des Welthandels kommen werden. Dies gilt vor allem für die Beziehungen zu Großbritannien und anderen Mitgliedern der in Aussicht genommenen Freihandelszone. Gerade die Teilnahme so freihändlerisch gesinnter Staaten wie der Bundesrepublik und der drei Beneluxländer begründet die Aussicht, daß die kommende Außenzollpolitik der neuen Gemeinschaft liberal geführt werden und die Tür zum Welthandel offengehalten wird. Dies bleibt wahr, auch wenn man zugibt, daß bei einer solchen Gemeinschaft von sechs Staaten mit sehr verschieden gearteten volkswirtschaftlichen Traditionen immer die Notwendigkeit für einen Kompromiß natürlich auch in der Frage des Außenzolltarifs gegeben sein wird.
Endlich möchte ich darauf hinweisen, daß die Bundesrepublik in die Berechnung des arithmetischen Mittels ihre teilweise bis zu 30 % gehenden konjunkturellen Zollsenkungen eingebracht und damit einen ganz wesentlichen Beitrag dazu geleistet hat, daß der Außenzolltarif niedriggehalten wird.
Aber, meine Damen und Herren, selbst wenn wir den vorgesehenen Außenzolltarif zugrunde legen, so wird sich, wenn man von den gegenwärtigen Inlandspreisen ausgeht, eine wesentliche Verteuerung unserer eigenen Lebenshaltung nicht ergeben. Konsumartikel wie Textilien und Schuhe werden durch den Zolltarif in ihrer Preisgestaltung gar nicht beeinflußt werden. Die landwirtschaftlichen Produkte, ,die für den Volkskonsum ausschlaggebend sind und die Lebenshaltung am spürbarsten beeinflussen, bleiben überhaupt außerhalb jeder zollbedingten Preisbewegung, da, ich sagte es schon, die einzelnen landwirtschaftlichen Marktordnungen bis zur Schaffung einer gemeinsamen europäischen Marktordnung bestehen bleiben.
Darüber hinaus werden die wichtigen Rohstoffe für den Massenverbrauch wie Baumwolle, Jute, Kupfer und Zinn wahrscheinlich praktisch zum Zollsatz O eingeführt werden, so daß auch von dieser Seite eine Verteuerungsgefahr nicht besteht.
Ich komme zum dritten Punkt der Haupterörterung und der Kritik, der Assoziierung der überseeischen Länder und Gebiete. Diese Frage ist bekanntlich zuerst von dem französischen Außenminister auf der Konferenz in Venedig im Mai vorigen Jahres mit Billigung seines belgischen Kollegen aufgeworfen worden. Daß sie erst verhältnismäßig spät konkret und präzise zur Diskussion gestellt worden ist, mag an vielerlei Ursachen liegen, besonders wohl an der bekannten innerfranzösischen Auseinandersetzung hierüber. Denn es ist ja nicht so, daß in Frankreich dieser Schritt nur Beifall fände und jedermann dort darin ein gutes Geschäft sähe. Wir müssen uns vielmehr erinnern, daß in Frankreich seit Jahren eine starke Opposition gegen jede Art der engen Verbindung der überseeischen Länder mit anderen europäischen Staaten besteht.
In mühsamen Verhandlungen, die teilweise auf höchster Ebene geführt werden mußten, sind nunmehr die sechs Regierungen in folgendem übereingekommen:
Der Vertrag selbst enthält die Grundsätze für die handelspolitische Assoziierung und für Beiträge zu den Investitionen, die für die Entwicklung der überseeischen Länder und Gebiete von den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft geleistet werden. Ferner
wird ein erstes Durchführungsübereinkommen für fünf Jahre geschlossen werden, wonach die Gesamtbeteiligung der Mitgliedstaaten an den Investitionsleistungen während dieser fünf Jahre auf 581 Millionen Dollar festgesetzt wird. Davon entfallen auf Deutschland für diese fünf Jahre 200 Millionen Dollar.
Die Zölle und mengenmäßigen Beschränkungen werden während der ersten fünf Jahre im Verkehr der Mitgliedstaaten mit den überseeischen Gebieten in der gleichen Weise abgebaut wie zwischen den Mitgliedstaaten selbst. Wo ein überseeisches Gebiet einen Schutzzoll auch gegenüber seinem eigenen Mutterland anwendet, bleibt er bestehen. Nach Ablauf von fünf Jahren hängt es von einem einstimmigen Ministerratsbeschluß ab, wie die Assoziierung fortgeführt werden soll.
Eine Sonderregelung gilt für die französischen Überseegebiete, die staatsrechtlich Teile des Mutterlandes sind.
Marokko und Tunis werden eingeladen, mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft besondere Assoziierungsverträge abzuschließen.
Lassen Sie mich Ihnen, meine Damen und Herren, nun die Gründe darlegen, die die Bundesregierung veranlaßt haben, der vorgesehenen Regelung zuzustimmen.
Wir müssen zunächst von der Tatsache ausgehen, daß die überseeischen Gebiete in mannigfach abgestuften Formen von Zoll-, Wirtschafts- und Währungsunionen mit ihren europäischen Metropolen eine wirtschaftliche Einheit bilden. Es war unseren Partnerstaaten im Gemeinsamen Markt nicht zuzumuten, aus dieser seit langem bestehenden wirtschaftlichen Einheit auszuscheiden und allein in die neue Europäische Wirtschaftsgemeinschaft einzutreten. Die handelspolitische Assoziierung der überseeischen Gebiete mit dem Gemeinsamen Markt war daher eine Forderung, deren Berechtigung sich keiner der Partnerstaaten verschließen konnte.
Dazu kommt ein weiterer und, wie ich glaube, entscheidender Gesichtspunkt: Es kann uns weder vom humanitären noch vom sozialen, vor allem aber nicht vom politischen Standpunkt gesehen gleichgültig sein, ob die Entwicklung dieser Gebiete fortschreitet oder nicht, ob die Lebensverhältnisse dort sich bessern und ob allmählich eine Hebung des allgemeinen Lebensstandards und eine kulturelle, soziale und wirtschaftliche Erschließung stattfinden. Wir wissen sehr wohl, daß, wenn diese Aufgaben, für die große Mittel aufgebracht werden müssen — Frankreich hat im Jahre 1956 allein für soziale, kulturelle und wirtschaftliche Zwecke in Übersee über 2 Milliarden DM aufgebracht —, nicht durch die europäische Staatengemeinschaft übernommen würden, andere versuchen würden, die Lücke zu füllen und die Entwicklung der afrikanischen Gebiete in ihrem Sinne, einem uns sehr schädlichen Sinne, zu beeinflussen. Einer solchen Perspektive können wir nicht gleichgültig gegenüberstehen.
Wenn wir aus diesen Gründen den Gedanken einer Assoziation der überseeischen Gebiete akzeptiert haben, so haben wir bei seiner Ausgestaltung eine Reihe von Vorkehrungen getroffen, die alle ein bestimmtes Ziel verfolgen. Sie bilden eine Garantie dafür, daß die europäischen Leistungen zugunsten der überseeischen Gebiete dem wahren Interesse dieser Bevölkerungen dienen und daß sie als eine besondere und zusätzliche Leistung der
europäischen Staatengemeinschaft neben den laufenden Zuwendungen der Mutterländer in Erscheinung treten. Aus diesem Grunde wird in der Präambel des Vertrages und in dem Vertragsartikel über die Assoziierung auf die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen Bezug genommen, nach denen die Mitglieder der Vereinten Nationen verpflichtet sind, den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Fortschritt in den von ihnen abhängigen Gebieten sicherzustellen. Ferner wird bestimmt, daß in den überseeischen Gebieten nur solche Projekte durchgeführt werden sollen, die die Billigung der Vertreter der einheimischen Bevölkerung gefunden haben.
In diesem Zusammenhang ist es wesentlich zu wissen, daß das französische Parlament vor kurzem ein Gesetz verabschiedet hat, das in 13 überseeischen Gebieten Frankreichs die Einrichtung frei gewählter parlamentarischer Körperschaften und die Einsetzung von Exekutivbehörden vorsieht, die diesen Parlamenten verantwortlich sein werden. Dadurch ist gesichert, daß die Bevölkerung dieser Gebiete in der Lage sein wird, selbständig zu den von der europäischen Gemeinschaft geplanten Maßnahmen Stellung zu nehmen.
Schließlich ist klargestellt, daß sich die europäische Gemeinschaft nicht global an den Erschließungskosten der überseeischen Gebiete beteiligt, sondern daß Projekte, die von ihr einzeln ausgewählt werden, und zwar Projekte teils sozialer, teils wirtschaftlicher Natur, finanziert werden. Die Entscheidung über die Auswahl der Projekte treffen ausschließlich europäische Organe, die Europäische Kommission und der Ministerrat. Im Ministerrat hat die Bundesrepublik entsprechend der Höhe ihrer finanziellen Beiträge ein starkes Gewicht. Von insgesamt 100 Stimmen verfügt sie über 33.
Wir glauben somit, jede nur mögliche Garantie erlangt zu haben, daß die Anstrengungen der europäischen Staatengemeinschaft von den überseeischen Gebieten als ein echter und in ihrem eigenen Interesse liegender Beitrag zu ihrer Entwicklung angesehen werden und daß nicht der Schatten eines Verdachts bestehen bleiben kann, die Bundesregierung oder irgendein anderer Partnerstaat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft verfolgten in diesen Gebieten eigene Interessen unter Vernachlässigung der Interessen der Bevölkerung. Die von uns gefundene Konstruktion hat keine auch nur entfernte Ähnlichkeit mit den mit Recht heute allgemein abgelehnten kolonialen Methoden vergangener Zeiten. Sie folgt vielmehr dem Vorbild der Entwicklungshilfe, die wir den sogenannten Entwicklungsländern angedeihen lassen. Ebenso wie wir uns entschlossen haben, mit voller Billigung dieses Hohen Hauses in den Entwicklungsländern Schulen, Krankenhäuser, Mustergüter und ähnliche Einrichtungen zu schaffen, geben wir eine gleiche Hilfe auch den überseeischen Gebieten unserer Partner im Gemeinsamen Markt.
Ich gehe zum vierten Punkt über, der unsere deutsche öffentliche Meinung in den vergangenen Wochen und Tagen in starkem Maße beschäftigt hat: dem Verhältnis der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Wiedervereinigung Deutschlands, zu Berlin und zum Interzonenhandel.
Es ist eine tief beklagenswerte Tatsache, daß Deutschland in die neue europäische Gemeinschaft eingefügt wird, belastet mit der schweren politi-
schen Hypothek unserer erzwungenen Teilung. Aber ebenso wahr ist, daß keine deutsche Bundesregierung, welcher Zusammensetzung auch immer, je ihre Zustimmung zu einer Anerkennung oder zu einer Vertiefung der deutschen Teilung oder zu einer Beeinträchtigung der Stellung des freien Berlin und zu einer Unterbindung oder Erschwerung der Beziehungen geben wird, die uns heute mit unseren Landsleuten in dem anderen, in dem unfreien Teil Deutschlands verknüpfen.
Die Bundesregierung hat daher bei Abfassung des Vertragswerks ihr ganzes Betreben darauf gerichtet, alle Möglichkeiten einer Wiedervereinigung Deutschlands offenzuhalten und die künstliche Spaltung nicht zu vertiefen. Sie hat in den Brüsseler Verhandlungen ausdrücklich die Erklärung abgeben lassen — ich zitiere wörtlich —:
Die Bundesregierung geht von der Möglichkeit aus, daß im Fall der Wiedervereinigung Deutschlands eine Überprüfung der Verträge über den Gemeinsamen Markt und Euratom stattfindet.
Die Formulierung „Überprüfung der Verträge" ist absichtlich gewählt, um alle Möglichkeiten zu dekken, die sich im Falle der Wiedervereinigung ergeben können. Außer den beiden extremen Möglichkeiten einer Beteiligung oder Nichtbeteiligung des wiedervereinigten Deutschland an den Verträgen kommt ja eine dritte Möglichkeit in Betracht — und das ist vielleicht die wahrscheinlichste —, nämlich die, daß das wiedervereinigte Deutschland sich an der Gemeinschaft zu beteiligen wünscht, aber eine Anpassung der Verträge an die neu entstandene Lage erbitten muß.
Die Bundesregierung hat damit ihre bekannte Auffassung zum Ausdruck gebracht, daß ein wiedervereinigtes Deutschland volle politische Handlungsfreiheit in bezug auf vorher für einen Teil Deutschlands abgeschlossene völkerrechtliche Verträge haben muß. Das Risiko für unsere politischen Freunde ist wahrhaftig nicht groß, daß ein wiedervereinigtes Deutschland eine mit dem Geist der europäischen Einigung im Widerspruch stehende Haltung einnehmen wird. Wir wollen und können aber dem wiedervereinigten Deutschland keine formellen Bindungen auferlegen.
Ich darf hinzufügen, daß, als der deutsche Delegationsleiter in Brüssel jene Erklärung abgab, dagegen nicht nur keinerlei Widerspruch laut wurde, sondern im Gegenteil von unseren Verhandlungspartnern zum Ausdruck gebracht wurde, daß die deutsche Erklärung etwas ausspreche, was an sich schon selbstverständlich sei.
Unsere Erklärung als ausdrückliche Bestimmung in den Vertrag aufzunehmen, bestand in dieser Lage keine Notwendigkeit. Es gibt sogar gute Gründe, die eine solche Vertragsbestimmung nicht als zweckmäßig erscheinen lassen. Wie Sie wissen, stehen nicht nur die Bundesregierung, sondern auch ihre Vertragspartner auf dem Standpunkt, daß ein wiedervereinigtes Deutschland auch in bezug auf andere große politische Verträge, die für die Bundesrepublik geschlossen sind, Handlungsfreiheit hat, und zwar obwohl in diesen Verträgen — außer dem Deutschlandvertrag, der eine Sonderstellung einnimmt — keine besonderen vertraglichen Bestimmungen dieser Art getroffen worden sind. Nehmen wir in den vorliegenden Vertrag, und nur in ihn, eine ausdrückliche Vertragsbestimmung auf, so riskieren wir, was der Jurist ein argumentum e contrario nennt: daß nämlich das Fehlen dieser Klausel in den anderen Verträgen zu Zweifeln darüber führt, ob auch für sie die Handlungsfreiheit gilt.
Nicht weniger sorgfältig haben wir uns schließlich bemüht, die Stellung Berlins und den Ablauf des deutschen Interzonenhandels zu schützen. Wir wissen alle, was wir der Stadt Berlin und ihren tapferen Bewohnern schuldig sind, und es liegt uns daran, das von uns entwickelte Instrument des Interzonenhandels nicht nur zu erhalten, sondern weiter auszubauen.
In den Vertrag über den Gemeinsamen Markt ist daher die ausdrückliche Bestimmung aufgenommen worden — ich zitiere —,
daß die Durchführung des Gemeinschaftsvertrags weder eine Änderung der gegenwärtigen Vorschriften für den innerdeutschen Handel noch eine Änderung der gegenwärtigen tatsächlichen Gestaltung dieses Handels mit sich bringt.
Damit ist klargestellt: die gegenwärtige Regelung, daß nämlich der Interzonenhandel eine innerdeutsche Angelegenheit ist, bleibt bestehen; die Zonengrenze wird ebensowenig wie bisher eine Zollgrenze sein, und die Bundesregierung behält ihre Freiheit in der Gestaltung des Interzonenhandels.
Aber im Interesse der deutschen und vor allem der Berliner Wirtschaft bedurfte es einer weiteren Regelung. Es mußte sichergestellt werden, daß der Interzonenhandel nicht durch Dreiecksgeschäfte über andere Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ausgehöhlt werden kann. Auch mußte die Möglichkeit geschaffen werden, einem etwaigen Warendumping der Sowjetzone oder des Ostblocks zu begegnen. Die sechs Regierungen sind daher übereingekommen, daß jeder Mitgliedstaat dafür Sorge trägt, daß sein Handel mit der Sowjetzone nicht den Grundsätzen des Gemeinsamen Marktes widerspricht und daß jede Schädigung der übrigen Volkswirtschaften vermieden wird. Schließlich kann jeder Mitgliedstaat geeignete Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, daß sich für ihn aus dem Handel eines anderen Mitgliedstaates mit der Sowjetzone Schwierigkeiten ergeben.
Zusammenfassend darf ich also sagen, daß mit dieser Regelung die Beibehaltung des bisherigen Charakters des Interzonenhandels sichergestellt ist. Unsere Verhandlungspartner haben uns in diesem Punkt volles Verständnis und Entgegenkommen gezeigt.
Diese Tatsache und die in jüngster Zeit abgegebenen mehrfachen Bekräftigungen des französischen, des italienischen und des belgischen Außenministers über die Notwendigkeit der deutschen Wiedervereinigung und über die Vereinbarkeit der Wiedervereinigung mit der Ordnung der Gemeinschaft berechtig en uns zu dem vollen Vertrauen, daß wir in unseren Partnern wie bisher verläßliche Bundesgenossen haben werden. Mir liegt daran, dies auch hier besonders zu unterstreichen; denn wir wissen alle, daß wir ohne die Unterstützung unserer westlichen Bundesgenossen unser fundamentales Anliegen, die Wiedervereinigung Deutschlands, nicht verwirklichen können.
Lassen Sie mich nun zu einem Blick auf die anderen europäischen Staaten übergehen und damit
den fünften wichtigen Punkt der öffentlichen Diskussion einleiten: die Beziehungen der Gemeinschaft zu dritten Staaten, insbesondere den Mitgliedstaaten der OEEC und des GATT. In mannigfachen Erklärungen der Bundesregierung und der übrigen fünf Regierungen ist von jeher .der Gedanke ausgesprochen worden, der Zusammenschluß der sechs europäischen Mächte dürfe keinen Ausschließlichkeitscharakter haben. Unser wirtschaftliches und politisches Interesse muß dahin gehen, die Bindungen zu allen europäischen Staaten so eng wie möglich zu gestalten. Ob auch die jüngsten sowjetischen Verlautbarungen über eine gesamteuropäische wirtschaftliche Zusammenarbeit Möglichkeiten eröffnen und welche, werden wir zweckmäßigerweise prüfen, wenn unser eigenes Werk unter Dach und Fach ist.
Es hat uns mit großer Befriedigung erfüllt, daß die britische Regierung im Herbst vorigen Jahres den bedeutsamen Beschluß gefaßt hat, den Gemeinsamen Markt durch eine besondere Freihandelszone für andere Staaten des OEEC-Bereichs zu ergänzen. Die Verhandlungen hierüber haben bereits begonnen.
Ich darf dazu erneut sagen, daß die Bundesregierung in Anbetracht ihrer europäischen Verbundenheit und ihres weltweiten Handels, aber auch ihrer besonderen Stellung im Europahandel, die Teilnahme jedes europäischen Staates an der vorgesehenen Freihandelszone sehrbegrüßt. Von unserer Seite wird diesem Plan alle Förderung und Unterstützung zuteil werden, und die deutsche Regierungsdelegation ist mit Weisungen versehen, die, was uns anlangt, eine Zusammenführung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Freihandelszone nach Kräften erleichtern. Dabei werden manche Punkte, die die Brüsseler Vertragsmächte bereits gelöst haben, wie die Assoziierung der überseeischen Gebiete und die Fragen der Landwirtschaft die Regierungen der Freihandelszone vor besonders schwierige Entscheidungen stellen. Aber wir hoffen zuversichtlich, daß diese Schwierigkeiten überwunden werden können. Wesentlich ist, daß so wichtige Handelspartner wie Großbritannien oder etwa die skandinavischen Staaten, Osterreich oder die Schweiz oder auch die südeuropäischen Staaten in irgendeiner praktischen Form den Anschluß an unseren Gemeinsamen Markt finden. Jede Verbreiterung unserer wirtschaftlichen Gemeinschaftsbasis wird dem Ziel einer Befreiung des Handels von den ihn hemmenden Schranken und damit dem wirtschaftlichen und dem politischen Aufschwung Europas dienen. Ich glaube, daß ich die Stellung der Bundesregierung zu dem britischen Vorschlag über die Schaffung einer Freihandelszone nicht besser umreißen kann, als wenn ich dazu sage: Wir werden, was an uns liegt, tun, um an seiner Verwirklichung mitzuhelfen.
Ich möchte auch besonders darauf hinweisen, daß die Bundesregierung und, wie ich wohl sagen darf, auch unsere Partner in ;der Gemeinschaft der Erfüllung unserer multilateralen Handelsverpflichtungen, wie sie sich uns etwa in der besonderen Form des GATT darstellen, alle gebotene Aufmerksamkeit zuwenden. Der Gemeinschaftsvertrag bejaht ausdrücklich den Grundsatz des freien Welthandels und läßt für eine liberale Handelspolitik alle Türen offen. In seiner Gestaltung als Zollunion entspricht er den auf diesem Gebiet geltenden internationalen Regeln, und er läßt den Beitritt eines jeden daran interessierten Staates zu. Was hier geschaffen wird, ist kein kontinentales oder
koloniales Präferenzsystem, sondern ein neuer, zusammenhängender Wirtschaftsraum mit einer möglichst großen und offenen Tür zur Welt.
Ich darf endlich einige verfassungsrechtliche und organisatorische Bemerkungen machen.
Angesichts eines so groß angelegten Vorhabens wie dessen, vor dem wir jetzt stehen, ist die Frage berechtigt, ob es unserer eigenen Verfassung entspricht und wie sich die Zuständigkeit der neuen Gemeinschaft zu den Zuständigkeiten verhält, die durch unser Grundgesetz insbesondere unserer eigenen gesetzgebenden Körperschaft, dem Deutschen Bundestag, übertragen worden sind.
Die Schöpfer unseres Grundgesetzes haben in dem Artikel 24 vorgesehen, daß der Bund durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen kann. Damals, als das Grundgesetz entstand, war man sich bei uns bereits darüber im klaren, daß sich die bevorstehende politische Entwicklung wahrscheinlich in größeren Räumen und in neuartigen Zusammenschlüssen von Staaten abspielen werde. Diese Voraussicht ist, wie wir heute wissen, voll begründet gewesen. Sie ist einmal bereits in der Europäischen Kohle- und Stahlgemeinschaft verwirklicht worden; sie hätte, was uns anlangt, auch in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft Gestalt gefunden. Sie kommt schließlich in der neuen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Verwirklichung. Zweifellos erhalten mit der Schaffung dieser Gemeinschaft der Ministerrat und die Europäische Kommission die Möglichkeit direkter Einwirkung auf unser eigenes innerstaatliches Leben. Aber das ist in dem neuen Gemeinschaftsbegriff politisch und rechtlich angelegt, so wie es auch von den Verfassern des Grundgesetzes vorausgesehen war.
Hoheitliche Aufgaben, die auf die Organe der neuen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft übergehen, werden unserer eigenen Ausübung zwar entzogen, aber sie gehen nicht unter, und wir gewinnen sie zur Mitausübung in den Gemeinschaftsorganen zurück. Es liegt im Wesen der neuen Gemeinschaft, daß sie zu ihrem ordnungsmäßigen Funktionieren und zu der weiteren Entwicklung von uns selber eine Anzahl von Rechten erhalten muß, die bisher bei den einzelnen Staaten lagen.
Damit im Zusammenhang steht die hier besonders interessierende Frage der parlamentarischen Funktionen innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Wir sind der Überzeugung, daß die Versammlung der Gemeinschaft sich erst im Anfang ihres Entwicklungsstadiums befindet. Ihre Ausgestaltung und die Erweiterung ihrer Befugnisse liegen ganz in unserem Sinne. Das Ziel für die europäische parlamentarische Versammlung muß die Herstellung einer echten parlamentarischen Kontrolle durch ein in direkten Wahlen frei gewähltes europäisches Parlament sein.
Diese Entwicklung ist im Vertrag ausdrücklich vorgesehen. Die Bundesregierung wird alle Bestrebungen unterstützen, die darauf hinauslaufen, der neuen Gemeinschaft ein voll aktionsfähiges und mit den nötigen Befugnissen ausgestattetes Parlament zu verschaffen.
Ebenso werden wir unsere Aufmerksamkeit alsbald der Frage zuwenden müssen, wie die Vielfalt der bestehenden Organisationen vereinfacht und harmonisiert werden kann.
Ich fasse zusammen: Der neue Vertrag greift, wie ich schon sagte, unmittelbar in die Lebensverhältnisse jedes einzelnen von uns ein. Wir hoffen zuversichtlich, daß diese Einwirkungen sich für uns als segensreich erweisen werden. Ich darf erinnern an die seinerzeit mit der Schaffung des Gemeinsamen Marktes für Kohle und Stahl notwendigerweise verbundenen Erörterungen und die damals gestellten Prognosen. Wer von uns würde heute, selbst wenn er es könnte, den Gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl wieder beseitigen und zu dem Zustand von sechs getrennten Wirtschaftsräumen auf diesem wichtigen Teilgebiet unserer Wirtschaft zurückkehren wollen? Das gleiche werden wir schon in wenigen Jahren von dem allgemeinen Gemeinsamen Markt der Sechs sagen müssen. Wir glauben — und die Erfahrung berechtigt uns zu diesem Glauben —, daß die Entwicklung einen unaufhaltsamen Prozeß in Gang setzen wird und daß wir vielleicht nicht einmal die vorgesehenen Fristen und Etappen einzuhalten brauchen, um zum endgültigen Ziel des gemeinsamen Wirtschaftsraums zu gelangen. Ein solcher einheitlicher Wirtschaftsraum von mindestens 150 Millionen Menschen aber wird eine noch nicht voraussehbare wirtschaftliche und politische Anziehungskraft entwickeln.
So wie der Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft heute vor uns liegt, ist er ein mühsam ausgehandelter, aber ein gesunder Kompromiß unter allen Beteiligten. Er ist die unerläßliche Voraussetzung für eine freizügige wirtschaftliche Entfaltung in Europa. Er ist darüber hinaus ein Unterpfand für unsere politische Freiheit, ja für die Existenz unseres Volkes. Nicht eindringlich genug kann auf diese vitale politische Bedeutung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hingewiesen werden. Sie bietet echte Chancen auch für die künftige politische Einheit Europas.
Das Vertragswerk hat sich unter wachsender Anteilnahme der Öffentlichkeit der beteiligten Länder entwickelt. Gegenüber den skeptischen und ablehnenden Stimmen, wie sie bei einem Vorgang von so eminenter Bedeutung nur natürlich sind, haben sich in allen sechs Ländern, ja noch weit darüber hinaus im ganzen doch Zustimmung und bereitwillige Unterstützung des großen Vorhabens geltend gemacht.
Ich möchte vor allem erinnern an die Entschließungen der Gemeinsamen Versammlung der Kohle- und Stahlgemeinschaft von 1956 und 1957. In ihnen haben die mit dem europäischen Gemeinschaftsgedanken und seiner praktischen Verwirklichung besonders befaßten Abgeordneten der sechs Staaten, darunter zahlreiche Mitglieder dieses Hohen Hauses aus allen Fraktionen, den Plan zur Bildung eines großen, gemeinsamen Wirtschaftsraums als bedeutsamen Fortschritt in Richtung auf die europäische Einigung begrüßt und ihrer Oberzeugung Ausdruck gegeben, daß ein umfassender Gemeinsamer Markt eine wirtschaftliche und politische Notwendigkeit ist.
Ich darf weiter hinweisen auf die Entschließungen der Beratenden Versammlung des Europarates. Obwohl es sich hier um einen größeren Kreis von Staaten handelt, der zudem häufig gern in einen gewissen Gegensatz zu dem engeren Kreis der Montangemeinschaftsstaaten gestellt wird, enthalten auch diese Stellungnahmen die Zustimmung zu den von den sechs Mächten verfolgten Zielen.
Die Bundesregierung hofft daher zuversichtlich, daß ihr das deutsche Volk und dieses Hohe Haus auf dem Wege dieses Vertragswerkes folgen werden.