Rede von
Dr.
Eugen
Gerstenmaier
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Frau Abgeordnete Kalinke!
Frau Kalinke : Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Nach den Ausführungen des Kollegen Neumann möchte ich mich jetzt nicht mehr mit den Einzelfragen des Krankenversicherungsrechts in Berlin, sondern nur noch mit .den politischen Argumenten auseinandersetzen. Wer die Rede des Kollegen Neumann gehört hat, könnte den Eindruck haben, als ob in jenen Tagen und Nächten nach Bombenterror und Tränen, als die Besatzungsmächte in Deutschland einmarschierten, nur in Berlin, nur bei den Sozialdemokraten mutige Männer und Frauen gewesen seien, die dafür gesorgt hätten, ,daß die sozialen Belange in Ordnung gebracht würden. In allen großen Städten der Bundesrepublik, in Hamburg, in Hannover, in München und anderswo,
haben Engländer, Franzosen und Amerikaner, als sie unser Gebiet besetzten, wenig Hilfe geleistet, um Kranke zu betreuen und die Sozialversicherung in Gang zu halten. Das hat sicherlich mindestens solche organisatorischen Probleme aufgeworfen —ich stehe dafür als Zeugin —, als Vertreter der Besatzungsmächte und die Helfershelfer uns empfohlen haben, den Auftrag ides Marschalls Sokolowski, den Sie in Berlin durchgeführt haben, auch in der damaligen britischen und französischen Besatzungszone zu verwirklichen. Wir hatten es mit Kommunisten in der französischen Besatzungszone zu tun, Sie hatten es mit Kommunisten in Berlin zu tun. Ich bitte, die Dinge doch nicht zu verschieben.
Niemand will den Unterschied verkleinern, der darin lag, daß es in Berlin die Russen waren, die eingebrochen sind, und niemand will etwa diejenigen in Schutz nehmen, die 1945 aus politischer und charakterlicher Unzuverlässigkeit, nämlich aus Feigheit das Weite gesucht haben. Solche Leute hat es aber in allen Parteien gegeben, und es gibt sie leider heute wieder in allen Parteien. Ich glaube aber, deshalb sollte man das hochpolitische Gespräch über die Rechtseinheit nicht zu parteipolitischen Auseinandersetzungen herabwürdigen.
— Durch die Ausführungen des Kollegen Neumann konnte, ja mußte der Eindruck entstehen, als hätten in Berlin nur die Sozialdemokraten für Ordnung und Sicherheit gesorgt! Meine politischen Freunde haben nicht mitgewirkt bei der Schaffung der Versicherungsanstalt Berlin.
— Gott sei Dank nicht mitgewirkt! Es sind in meiner Partei erfreulicherweise und Gott sei Dank in jener Zeit viel aufrechte und mutige Männer der Besatzungsmacht entgegengetreten,
als Sie nicht den Mut hatten, der Besatzungsmacht entgegenzutreten; es gehörte Mut dazu, ihr nicht nachzugeben.
Ich will nicht untersuchen, wer damals mit der Hilfe der KPD und mit den Armbinden der KPD und unter dem Terror der Besatzungsmacht gedroht hat.
Ich möchte aber eines klarstellen. Herr Kollege Neumann, Sie sollten nicht sagen, daß derjenige, der das gleiche Recht für alle will, damit an den Egoismus einzelner appelliere. Wer die individuelle Freiheit und wer die Sicherheit des einzelnen wirklich will, der darf nicht so taktieren, wie Sie das hier getan haben.
Der Kollege Stingl hat versöhnende Worte gesprochen zur Berliner Verständigung über Fragen, für die eine gemeinsame Verantwortung bestand. Ich möchte Ihnen sagen: Sie sollten den Deutschen Gewerkschaftsbund nicht in noch größere Schwierigkeit bringen; er hat jahrelang in Berlin für die Idee der Einheitsversicherung gekämpft und nun vor einiger Zeit, wenn ich richtig gelesen habe, eine Erklärung abgegeben, daß er für die gegliederte Krankenversicherung, also auch für die Ersatzkassen sei?!
Selbst die Deutsche Angestelltengewerkschaft in Berlin hat anfangs meine Kollegen aus der CDU und mich bekämpft. Es gab auch in der CDU Kollegen, die nicht der Auffassung des Berliner Abgeordneten Kreil waren und die nicht das Experiment der VAB fortsetzen wollten! Wir, die wir damals für die Rechtseinheit aller Deutschen und insbesondere für die demokratischen Rechte der Berliner gekämpft haben, haben uns von Gewerkschaftsfunktionären, die sich damit absolut in Übereinstimmung mit den Wünschen des Marschalls Sokolowski und der SED befanden, einiges sagen lassen müssen, was wir noch in unseren Archiven und im Gedächtnis haben.
Sie haben den Herrn Arbeitsminister angegriffen. Nun, es ist seine Sache, dazu eine Klarstellung zu geben. Aber ich möchte sagen: meine Hochachtung genießt jeder — und ich schließe da jeden Sozialdemokraten mit ein —, der vom Irrtum zur Wahrheit findet.
Meine Hochachtung hat jeder, der anerkennt, daß
der Beveridge-Plan, der heute in England zu den
größten Sorgen Anlaß gibt, eben nur ein Ideal war,
dessen Verwirklichung — bitter — gescheitert ist.
Meine Hochachtung hat jeder, der auch noch zugibt, daß solche Experimente die Ärmsten der Armen bezahlen müssen. Wir wollen unsere deutschen Bürger in Berlin und anderswo vor solchen Experimenten bewahren.
Sie haben geltend gemacht — das muß hier klargestellt werden —, daß besondere Verhältnisse diese besonderen Experimente nötig gemacht haben. Ich bekunde hier, daß mir der Plan zur Errichtung der Versicherungsanstalt Berlin von der britischen Besatzungsmacht im Jahre 1945 mit der Aufforderung in die Hand gegeben wurde, in Hannover nach diesem Modell wegen der gleichen Notstände eine Einheitskasse zu errichten. Nicht nur ich, sondern mit mir eine Reihe mutiger Männer haben dem Widerstand geleistet.
— Das werde ich dafür genauso ablehnen wie Hitlers Kriegsverdienstkreuze!
Ich möchte hier ganz deutlich sagen, daß man Widerstand aus Überzeugung nicht leistet, Herr Neumann, um eines Verdienstkreuzes, sondern um der Überzeugung willen und daß man solche Experimente in den Notstunden seines Vaterlandes nicht auf Empfehlung der Besatzungsmächte hätte durchführen sollen.
— Aber liebe Jeanette Wolff, das hat sich herumgesprochen; das ist auch unsere Auffassung. Geben Sie uns bitte die Genugtuung, daß es bei der Verteidigung der demokratischen Tugenden, die für alle gleichermaßen gelten sollen, keinen Egoismus geben darf, sondern nur den Wetteifer, diese Tugenden zu verwirklichen!