Rede von
Dr.
Thomas
Dehler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Ich glaube nicht, daß allein mein Temperament daran schuld ist, sondern die Lebhaftigkeit des Hauses, besonders der Mitglieder der CDU/CSU.
Meine Damen und Herren, die letzten Wochen haben, glaube ich, ein Gutes gehabt. Sie haben für den, der sehen will, unerbittlich gezeigt, was richtig und was falsch ist. Ich meine, die Bundesrepublik steht falsch. — Lassen Sie mich auch diesen Gedanken in Ruhe zu Ende bringen! — Sie steht mit dem Rücken gegen den Osten. Sie sieht ihn nicht. Sie schaut nur nach dem Westen und bemüht sich um etwas, was selbstverständlich sein muß: die Solidarität Europas und der freien Völker.
Die Bundesrepublik muß mit dem Rücken nach dem Westen stehen, in fester unerschütterlicher Bindung an den Westen, muß von seinem Vertrauen getragen sein und muß nach dem Osten schauen und wirken. Das ist unsere Aufgabe, die Aufgabe, die uns zukommt, wenn wir die deutsche Schicksalsfrage lösen wollen, die Einheit Deutschlands wiederherzustellen, wenn wir glauben, daß uns als dem Volk im Herzen Europas auch eine Rolle der Vermittlung mit dem Osten zufällt. Ich meine, eine große Aufgabe hätte der Bundesregierung zufallen können, hätte sie erfüllen können, wenn sie seit ihrem Besuch in Moskau fortgesetzt mit der Sowjetregierung gesprochen hätte, wenn sie in den letzten Wochen aufklärend, vermittelnd, als ehrliche Maklerin beratend hätte wirken können, wenn sie versucht hätte, zur rechten Zeit Spannungen zu lösen.
Noch einmal: die Regierungserklärung hat doch nur zu recht, wenn sie das vertrauensvolle Ge-
spräch zwischen Freunden als etwas Köstliches, als etwas Wertvolles erachtet. Und ein vertrauensvolles, wertvolles Gespräch mit Gegnern ist gesteigerte Pflicht, ist politische Pflicht. Die Vereinigten Staaten haben längst erkannt, daß die bisherige Politik, ihre Systematik, ihre Tendenz überholt sind. Und wir? Ich muß sagen: Die Bundesregierung beharrt nach ihrer Erklärung bei den Vorstellungen des Jahres 1950. Es ist doch deutlich geworden, daß unsere Politik auf einer Fiktion beruhte. Eine neue Epoche hat begonnen, und wir müssen doch mit unseren Anliegen dabei sein, mit klaren Vorstellungen und mit Mut.
Das hätte die Regierungserklärung darlegen und konkretisieren müssen.
Im Osten vollzieht sich ein Umbruch. Wollen Sie denn das einfach leugnen? Da werden Männer und Ideen abgelöst, kommen neue Denkformen hoch, eingekerkerte, gefolterte Menschen werden herausgeholt und kommen wieder zur Herrschaft, und Gehenkte möchte man am liebsten zum Leben erwecken. Fühlen Sie nicht, daß da etwas am Werk ist?!
— Auch in Ungarn; ich habe Ihnen gesagt, Frau Helene Weber, wie vielschichtig die Dinge in Ungarn sind, wieviel wir wissen müssen, um hier richtig zu werten.
— Nein, es reicht mir wirklich nicht, und ich danke meinem Freund Prinz zu Löwenstein, daß er — nicht aus Sensationslust, sondern um zu wissen, was dort geschieht — dorthin gegangen ist, wo er jetzt festgehalten wird. Politik, die sich nicht auf Kenntnis der Fakten gründet, Politik der Emotion ist eine gefährliche Angelegenheit.
Ich meine, wir müssen die Wandlung, die da vorgeht, erfassen in dem Versuch — ich will es ganz vorsichtig sagen —, dem Rechte zu genügen, auch dem nationalen Recht auf Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. Immerhin, Jugoslawien geht seit langen Jahren unter Tito seinen eigenen Weg, die Mandschurei ist freigegeben, Nordpersien, die Stützpunkte in Finnland sind geräumt, Österreich ist frei, im Posener Prozeß werden die Grundfreiheiten der richterlichen Unabhängigkeit und der Verteidigung anerkannt; Polen erzwingt doch das Recht, sein nationales Schicksal und seine Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, mag sie von unseren Vorstellungen so entfernt sein wie nur möglich, selbst zu bestimmen, die russischen Truppen ziehen ab.
Und wir tun so, als ob nichts geschehen sei!
Große Aufgaben kommen auf uns, kommen auf das Land der europäischen Mitte zu; sie verlangen einen klaren Willen und ein mutiges Herz.
— Meine Herren von der CDU und CSU, daß Sie nicht einmal gewillt sind, das, was ein Mann, der glaubt, verantwortlich in diesem Hause mitwirken
zu können, denkt, sagt, in Ruhe anzuhören und darüber nachzudenken: welch schlechter Stil unserer Demokratie!
— Meine Damen und Herren, wenn Sie meinen, das, was ich gesagt habe, sei nicht neu, dann vergleichen Sie meine Ausführungen mit der Regierungserklärung!
Da wird Ihnen der Gegensatz auffallen, und Sie werden mir zumindest das eine nicht abstreiten, daß ich aus verantwortlichem Sinn zu handeln und vor Ihnen zu sprechen versuche. Meine Damen und Herren, die Politik der Straße kann uns nicht helfen. Sie ist ohne Vernunft, sie ist ohne Verantwortung, sie ist voller Gefahren, sie ist unberechenbares Abenteuer, sie ist keine Politik.
Wir haben in den letzten Wochen auch Gutes erfahren: die Empfindsamkeit unserer öffentlichen Meinung, die Macht ihrer Stimme, das Rechtsgefühl der deutschen Menschen, das sich gegen alles wandte, was die gute, was die rechte Ordnung verletzt hatte, diesen Glauben an den Geist, an die großen Grundsätze der Vereinten Nationen — Herr Mellies hat Richtiges dazu gesagt —, das Bewußtsein der unbedingten Schicksalsverbundenheit mit dem großen Volke der Vereinigten Staaten.
Es ist in den letzten Tagen ein böses Wort gefallen: idiese Vereinigten Staaten seien unzuverlässig, seien unfähig, die politischen Dinge einheitlich zu steuern, seien unberechenbar, man könne sich auf sie nicht verlassen. Das hat man gesagt.
— Vielleicht werfen Sie die Frage einmal bei Ihrer nächsten Fraktionssitzung in der CDU und CSU auf.
Meine Damen und Herren, noch einmal: ich glaube an dieses Volk der Vereinigten Staaten, an dieses junge, gesunde Volk mit seinem nationalen Staatsbewußtsein, mit seiner richtigen Vorstellung von dem Wesen der Gesellschaft und der Wirtschaft, mit seinem hohen Verantwortungssinn für die Dinge der Welt. Niemals kann und soll zwischen ihm und uns etwas stehen.
Die Dinge der Welt sind im Fluß. Ich meine, die Abrüstung — nur ein Wort will ich in die Diskussion werfen — ist aus militärischen und aus wirtschaftlichen und damit aus sozialen Gründen dringend geboten. In diese Zusammenhänge, in den Zusammenhang der Abrüstung zwischen den zwei großen Mächten ist unser Schicksal, ist die deutsche Einheit, ist auch die Frage des Maßes unserer Aufrüstung eingebettet. Die bisherigen Verträge müssen weiter entwickelt werden. Ein europäischer Sicherheitspakt steht als Gebot der Stunde vor uns.
Und zum Schluß: Mehr denn je wissen wir nach dem, was uns die letzten Wochen gelehrt haben, daß die deutsche Einheit vor allem unsere Sache, die deutsche Sache ist.