Rede von
Dr.
Thomas
Dehler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Ich sage: Armes deutsches Volk, das nicht weiß, in welche Gefahren es — nun, ich will milde sein — durch eine eigenwillige Politik geführt wird, an welchen Abgründen es vorbeitaumelt,
in welchem Maße ihm die wahre Lage, die richtigen Zusammenhänge, die eigentlichen Antriebskräfte des politischen Geschehens verborgen gehalten werden.
Was wir in den letzten Wochen erlebt haben, ist ein tiefer Einschnitt in die Nachkriegspolitik, ein zwingender Anlaß zum kritischen Rückblick, zu immer neuem Durchdenken der Grundlagen unserer politischen Existenz. Es wird uns der Rat gegeben, nicht in die Vergangenheit zu schauen, nur die gegenwärtige Lage zu bedenken und daraus die notwendigen Schlüsse für das Handeln in der Zukunft zu ziehen. Ich sage: wehe einem Volk, das nicht dauernd überprüft, ob es auf dem rechten Wege ist, das mit verschlossenen Augen in die Zukunft geht, das nicht gewillt ist, aus Fehlern zu lernen.
Schmerz, Trauer, Sorge, Scham über das, was geschehen ist, was in der Mitte des 20. Jahrhunderts möglich war und ist, erfüllt uns. Eine dunkle Nacht der Geschichte hat sich auf uns gesenkt. Wir gedenken in dieser Stunde in Ehrfurcht aller jener, die für Freiheit und Recht — für die Freiheit und das Recht des Menschen und für die Freiheit und das Recht ihres Volkes — gestritten, gelitten und ihr Leben geopfert haben. Wir klagen in schwerem Vorwurf alle jene an, die Freiheit und Recht des Menschen, die Freiheit und Recht der Völker mißachtet und verletzt haben, die Schuld tragen an der Passion des ägyptischen und des ungarischen Volkes.
' Herr Bausch, ich werde gern auch ein Wort über Herrn Nasser sagen. Aber wäre es nicht richtiger, Sie würden es mir überlassen, wann ich es sage, Herr Bausch?
Das Schicksal Ungarns berührt uns tief. Die Jahre 1848 und 1849 werden uns wieder bewußt, als 1849 Seine Apostolische Majestät Franz Joseph I. die russische Armee gegen den ungarischen Freiheitswillen ins Land rief.
Sie warfen die Freiheitskämpfer in den Kerker, brachten sie an den Galgen und peitschten ihre Frauen aus. Petöfi klagte mit wirren Haaren:
Aus der Stirn blutend steht in dem Sturm der Ungar ganz allein.
Wär' nicht als Ungar ich geboren, zu diesem Volk stünd ich zur Stund';
denn es ist ganz verlassen, so verlassen wie
keines der Völker auf dem Erdenrund.
„So verlassen"! Wir müssen ihm helfen, wo und wie wir es nur können, so wie wir allen Opfern des Unrechts helfen sollen — auch den Ägyptern; Menschlichkeit ist nicht teilbar —
aus dem edlen Geist des Roten Kreuzes, dem ich mich tief verbunden fühle und dem zu danken unsere Pflicht ist. Und eines weiß ich, wissen wir: der Impuls der Freiheit, der in Ungarn lebendig war, wird nicht erschlaffen.
Die Regierungserklärung macht sich das Urteil über das Geschehen einfach, zu einfach. Die Vorgänge, ihr Ablauf, die Einflüsse von außen, das Gegeneinander der Parteien und Gruppen, ach, das ist doch alles viel zu vielschichtig, als daß es ein selbstgerechtes und hartes Urteil vertrüge.
Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Aachen]: Wer
hat das denn getan? — Das hat keiner
getan!)
Das Verhalten Rußlands gegenüber Ungarn widerlegt im doppelten Sinne die unheilvolle Vorstellung von der Politik der Stärke.
Als die Weltpresse das Einlenken der Sowjets und die Bereitschaft Mikojans, die Rote Armee aus Ungarn abzuziehen, als Schwäche darstellte, als man von dem geschlagenen Haufen der russischen Armee sprach,
da wurde wieder die Politik der Stärke demonstriert
zum Verhängnis Tausender und aber Tausender.
Und so, nur so sieht die Politik der Stärke aus.
Politik der Stärke ist Politik der Gewalt.
Wer sie will, wird die gleiche blutige Ernte haben, wie wir sie in Ungarn sehen.
Die Dinge hätten anders laufen können. Eine Entwicklung ist deutlich geworden: Was in Jugoslawien begonnen hat, ich glaube, das ist das Gesetz für alle europäischen Staaten des Ostens. Auf jeden Fall, Sowjetrußland muß das wissen: diese europäischen Staaten beugen sich auf die Dauer keinem diktatorischen Zwang von außen. Sie drängen zur nationalen Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Sie wollen die Form ihrer Gesellschaft, ihrer Wirtschaft selbst bestimmen. Uns ist, meine ich, bewußt geworden, wie europäisch diese Völker sind, wie sehr sie zu uns gehören. Was möglich ist, haben wir in Polen erlebt, als Chruschtschow mit seinen Generälen unverrichteter Dinge von Warschau abzog, als er die Kriegsschiffe vor Danzig und Gdingen abrief und die Truppen bei Braunberg und Lodz über die Grenzen zurückzog.
Um jedes Mißverständnis zu vermeiden: Die Vorstellungen der Freien Demokraten von dem Wesen des Rechtsstaates, der Freiheit der Persönlichkeit, der Freiheit als wirkender Kraft in der Wirtschaft sind den Vorstellungen dieses integrierten Sozialismus konträr entgegengesetzt. Wir sagen mit allem Ernst: Rußland muß, wenn es Achtung gewinnen will, der Aufforderung der Vereinten Nationen, die Kampfhandlungen in Ungarn einzustellen, folgen. Nur dann können seine Erklärungen volles Gewicht bekommen.
Die Bundesregierung versucht auch nicht einmal eine Analyse der Lage.
Manchmal frage ich mich, warum wir wohl diese Blocks des Auswärtigen Amts, diese Blocks des Presseamts mit ihren Hunderten und aber Hunderten
von Zimmern und von Beamten haben, wenn nicht einmal versucht wird, zu deuten, zu klären, aufzuzeigen, was in der Welt, was hier vorgeht, welche Kräfte am Werk sind,
woher sie kommen, wohin sie gehen.
Die Regierungserklärung bleibt uns damit alles schuldig, was von einer außenpolitischen Erklärung einer Regierung gefordert werden muß.
Die Deklaration der Regierung der Union der Sowjetrepubliken vom 30. Oktober — Herr Kollege Mellies hat sie schon erwähnt — über die Grundlagen der Entwicklung und Festigung der Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten wird nicht einmal erwähnt, geschweige denn
zu deuten, zu werten versucht. Sie ist mitten in den letzten dramatischen Ereignissen veröffentlicht worden. Muß man nicht versuchen, zu bewerten, was die Sowjetregierung hier gesagt hat,
und kommentieren und Folgerungen daraus ziehen? Immerhin — das muß man wissen —: was die Sowjetregierung im Laufe der letzten Jahre gesagt hat,
war bedeutungsvoll — Herr Sabel, schütteln Sie den Kopf! —, war bedeutungsvoll, ob man es hinnahm oder nicht.
Es waren Willenserklärungen, die ihr Gewicht hatten. Und der Herr Bundeskanzler bringt es fertig, hier aufzutreten und von dieser bedeutsamen Erklärung in dieser aufgewühlten Periode keine Notiz zu nehmen, kein Wort darüber zu sagen, sie nicht zu erwähnen, uns seine Meinung vorzuenthalten! Meine Damen und Herren, ich stelle mir Außenpolitik und das Verhältnis einer Bundesregierung zum Parlament, das die Verantwortung für das Schicksal von fünfzig und siebzig Millionen Menschen trägt, anders vor.
In dieser Deklaration wird erklärt, daß die Sowjetregierung die Politik der Freundschaft und der Zusammenarbeit zwischen allen Staaten, besonders natürlich mit den sozialistischen Staaten, will. Die Sowjetunion erkennt das Prinzip der vollen Gleichberechtigung,
der Achtung der territorialen Integrität, der Unabhängigkeit, der Souveränität,
der Nichteinmischung an.
— Herr Albers, haben Sie denn diese Deklaration gelesen?
Sie haben Ihre Verpflichtungen als Abgeordneter nur erfüllt, wenn Sie sie nicht nur gelesen, sondern wenn Sie sie eingehend gewogen haben.
— Ich glaube, — —
— Warten Sie! Sie sind ja so ungeduldig.
Eine der wesentlichen christlichen Tugenden ist doch die Nachsicht, die Toleranz, die Langmut.
Immerhin, meine Damen und Herren, diese Deklaration lehnt die Irrtümer und Fehler Stalins
ab, mit aller Schärfe ab, und — richtig, was Sie sagen —
sie erkennt die historische Vergangenheit — —. Ach, Frau Helene Weber, Sie wissen doch: seit acht Jahren sind wir in Freundschaft verbunden,
in einem vertrauensvollen Gespräch, von dem in der Erklärung der Bundesregierung ja so schön gesprochen wird.
In der Deklaration der Sowjetregierung werden die historische Vergangenheit und die Besonderheit jedes Landes als zu berücksichtigende Momente anerkannt.
— Warten Sie doch!
Die Sowjetregierung erklärt sich bereit, die Stationierung ihrer Truppen in Ungarn, Rumänien und Polen zu überprüfen, sie nur im Einverständnis mit der beteiligten Macht dort zu halten, über die Zurückziehung der Truppen aus Ungarn zu verhandeln. Ob ich glaube oder nicht? Sie wissen ja, ich heiße Thomas und bin deswegen nicht verpflichtet zu glauben.
Aber meine Damen und Herren, Politik heißt, die Russen beim Worte nehmen, bei ihrem Worte nehmen.
Die Sowjetunion — nun werde ich Ihnen etwas sagen, was Ihnen gefällt, vielleicht finde ich sogar einmal ihre Zustimmung — muß erkennen, daß ihre Politik der letzten zehn Jahre den Gegebenheiten nicht mehr entspricht.
Sie kann nicht mehr über Satelliten verfügen,
sie kann nicht mehr die Divisionen der Oststaaten zu ihrer Macht addieren.
Auch ihre Politik der Stärke, auch die Politik der Stärke der Sowjetunion versagt.
In einem hat die Regierungserklärung recht: Es wäre verfehlt und eine gefährliche Vereinfachung der Problematik, die Folgen der Politik der letzten Zeit auf den verschiedenen Schauplätzen der Welt isoliert zu betrachten. Das ist ja die schöne Einleitung in der Erklärung der Bundesregierung, die allerdings, glaube ich, auf den Seiten 4 und 5 vergessen worden ist.
Darf ich noch einmal wiederholen: Es wäre verfehlt und eine gefährliche Vereinfachung der Problematik, die Folgen der Politik der letzten Zeit auf den verschiedenen Schauplätzen der Welt isoliert zu betrachten; es bestehen weitreichende innere Zusammenhänge. Die Regierung hätte aus dieser Erkenntnis Folgerungen ziehen sollen.
Aber, meine Damen und Herren, was tut sie? Sie malt schwarz und weiß, und fast möchte ich sagen: an vielen Stellen versucht sie, aus schwarz weiß zu machen.
Die Ereignisse in Osteuropa und im Nahen Osten sind verzahnt. Man soll nicht den Satz gelten lassen: Wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht dasselbe, ist es hier brutale Gewalt und ist es dort Polizeiaktion.
Die Vorgänge in Ägypten haben den Russen zum mindesten ein dialektisches Alibi gegeben.
So, wie es die Regierungserklärung versucht, kann man die Vorgänge nicht trennen.
Ich möchte noch etwas hervorheben, was mir an der Regierungserklärung gut gefallen hat. Der Mann. der sie verfaßt hat. ist ein leidenschaftlicher Anhänger des Rechtes. Er liebt das Recht, ja er beschwört die Unverbrüchlichkeit des Rechtes. Am Ende ist diese Regierungserklärung ein Hymnos auf die Kraft des Rechtes, und ich wäre kein Mann des Rechtes, der ich sein will, wenn ich hier nicht vorbehaltlos zustimmen wollte. Hier erkennt man erst die tiefen Zusamenhänge des Geschehens in der Welt. Wenn das Recht — ich meine nicht das gesetzte Recht, ich meine nicht das gesetzliche Recht —, wenn die Elemente des Rechtes in den Völkern und zwischen den Völkern nicht gelten, dann nehmen die Dinge eine schlechte Entwicklung, dann gehen sie fehl.
Jetzt werde ich etwas sagen, was den Sozialdemokraten gar nicht gefallen wird.
Es gibt viele Ursachenketten, die zu bestimmten Ergebnissen und die auch zum Unheil führen. Eine der großen Krankheitserscheinungen in unserer Zeit ist die Lähmung des Gedankens des Rechtes, ist die Haltung, die gerade dem, was in der Regierungserklärung so eindringlich gesagt ist, entgegengesetzt ist: der mangelnde Glaube an das Recht, an die Unverbrüchlichkeit des Rechtes.
— Es geht noch weiter. -- Im nationalsozialistischen Unrechtstaat sind hier Ursachen zu Fehlentwicklungen gesetzt worden. Wir wissen, daß im Weltkrieg, ausgelöst durch dieses bei uns entstandene Unrecht, das Gefühl des Rechts Schaden genommen hat: die Beschlagnahme der deutschen Vermögen, der Zwang auf die Neutralen, das deutsche Vermögen zu liquidieren, und vieles andere. Und nach dem Kriege kam der Glaube an sozialistische Vorstellungen, der Glaube daran, daß es dem Staate zustünde, in die Lebenssphäre, in
die Rechtssphäre des Einzelnen einzugreifen. Und da geschah es in England, daß eine sozialistische Regierung auf vielen Gebieten sozialisierte, nationalisierte. Dann kam ein Mossadek. Und dann kam ein Nasser, der sagte: Was den Engländern zu Hause gerecht ist, ist mir lange billig. Er verübte den Rechtsbruch am Suezkanal und löste damit eine weitere Unrechtsquelle aus. Aber was die Vorgänge in Ägypten anlangt, meine ich: es ist nicht Aufgabe der Bundesregierung, Ausreden für das Verhalten der anderen zu suchen.
— Lesen Sie die Regierungserklärung nach! Ich weiß nicht, ob sich England und Frankreich der Verantwortung ihres Tuns bewußt waren. Angriffe gegen Dritte sind schon nach dem Briand-KelloggPakt des Jahres 1928 verfemt. Der amerikanische Richter Jackson hat bei dem Nürnberger Verfahren festgestellt, daß die Grundsätze dieses Paktes geltendes, gültiges, verbindliches Völkerrecht sind, und man hat uns nicht einmal gefragt. Meine Damen und Herren, dieses Verhalten führt zu der ernstlichen Erwägung, ob das Risiko solcher Verträge mit ihren schweren Folgerungen getragen werden kann, eine Erwägung, die wir gerade auch wegen der Vereinigten Staaten und der von ihnen übernommenen Haftungen, die unzumutbar werden könnten, anstellen müssen. Unser neuer Verteidigungsminister, mein bayerischer Kompatriot, Franz-Josef Strauß
hat sehr richtig gesagt: Die Vertragspartner dürfen nicht militärische Risiken schaffen, die von anderen mitgetragen werden müssen. Welch kluges Wort von der Regierungsbank! Eine Klugheit, von der in der Regierungserklärung nichts zu spüren ist!
Meine Damen und Herren, die These. Frankreich und England hätten in Ägypten eingreifen müssen, um den von Israel heraufbeschworenen Konflikt zu lokalisieren, ist doch eine Zumutung! Wir verdanken es der politischen und der sittlichen Größe der Vereinigten Staaten, wenn diese Gefahr gebannt wurde.
Und mehr als es sichtbar wurde, war die Macht dieses großen Volkes in diesen entscheidenden Tagen zu spüren.
— Mit ihm wollen wir immer verbunden sein.
— Sie sehen Konflikte, Sie sehen Differenzen, wo sie nicht vorhanden sind. Aber, meine Damen und Herren, was Mr. Eden und M. Mollet ausgelöst haben, das war die Gefahr des dritten Weltkriegs; und d i e Verantwortung können sie doch kaum tragen.
Die Vorgänge am Suezkanal zeigen, worauf es in der Politik ankommt. Ach, man sucht immer nach Aushilfen, man will irgendwelche Gremien schaffen, welche die freie Durchfahrt durch den Kanal sichern sollen, und weil man am Ende auch
daran nicht glaubt, greift man dann zur Waffe. Man glaubt an Institutionen, weil man nicht weiß, daß das Wesen der Politik die Funktion, das Wirken der richtigen Gesetze des Lebens ist. Man weiß eben nichts mehr vom Recht, von der ordnenden Macht des Rechtes. Man deklamiert sie, man glaubt nicht mehr an ihre Unverbrüchlichkeit.
Auf jeden Fall: auf Eden und Mollet liegt die Verantwortung für die rechtliche und für die moralische Krise der Vereinten Nationen und damit die Krise der Grundlagen der freien Welt, der Grundlagen unserer politischen Existenz.
Sie haben die moralische Kraft des Westens auch
gegenüber Rußland ganz entscheidend geschwächt.
Ob der Regierungschef durch seine Reise nach Paris etwas gutgemacht hat, — er hat nach dem, was er gesagt hat, nicht einmal ein Wort des Vorwurfs gegen seine Brüskierung, gegen die Verletzung der Verträge, die uns mit Frankreich und England verbinden, gegen die unterlassene Unterrichtung erhoben.
— Ich habe gestern ein sehr vertrauliches, ein sehr freimütiges Gespräch mit ihm gehabt.
— Selbstverständlich, ja, wir sprechen wieder miteinander, und dem ist doch gut so, Herr Bundeskanzler.
Das war ein schlimme Zeit, mehr für mich als für ihn!
Ich habe ihn gefragt: „Bitte, Herr Bundeskanzler, haben Sie sich verwahrt?" Da hat er mir in seiner bildhaften Sprache gesagt: „Ach, Herr Dehler, es ging darum, die Kuh vom Eis zu bringen."
Aber es tut sich ja die viel größere Frage auf: Fühlt die Bundesregierung die Krisis ihrer Politik? Aus der Regierungserklärung hat sich nicht das geringste dafür ergeben. Es werden die Vorstellungen der europäischen Integration wiederholt, als ob nichts geschehen wäre, als ob nichts der Plan der politischen europäischen Integration durch die Schuld Frankreichs vom Tisch gefegt worden wäre, als ob nicht der 30. August 1954 gewesen wäre, an dem die französische Nationalversammlung entgegen den ständigen Beteuerungen und Versprechungen über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft zur Tagesordnung übergegangen ist, als ob nicht der Gedanke der wirtschaftlichen Integration durch Institutionen — darum geht es doch, meine Damen und Herren — widerlegt wäre. Wir alle wollen, daß die freie Welt zusammenhält, zusammenwirkt.
Hier meint man, man müsse dazu Einrichtungen,
Hohe Behörden, Institutionen schaffen. Wir meinen — das unterscheidet uns ganz grundsätzlich —, daß es auf etwas ganz anderes ankommt: darauf, die richtigen Lebensgesetze zwischen den Völkern wirken zu lassen, die Barrieren zwischen den Völkern niederzulegen, den freien Fluß der Menschen, des Geldes, der Güter herzustellen. Das ist die politische Aufgabe.
Eines, meine Damen und Herren, haben wir doch, wenn wir die Ereignisse der letzten Tage bewußt erlebt haben, beinahe schicksalhaft gefühlt. Ich will etwas sagen, was mir ernst ist.
Meine Damen und Herren, stellen Sie sich vor, die politische europäische Integration wäre Wirklichkeit gewesen. Dann wären wir in all die Spannungen, die in den letzten Monaten in Nordafrika, in Ägypten zu Auseinandersetzungen geführt haben, verstrickt gewesen.
Die Bundesregierung meint, der Gedanke der Koexistenz — das ist das Entscheidende in der Erklärung der Bundesregierung — sei tödlich getroffen. Was heißt „Koexistenz"?
— Man sagt auch „Lächelnde Koexistenz". — Nein, Koexistenz heißt verhandeln, heißt versuchen, miteinander auszukommen. Die Alternative der Koexistenz ist die Politik der Stärke, ist der Abwurf von Bomben in Ägypten, ist das Rollen russischer Panzer in Ungarn. Das müssen Sie wissen, meine Damen und Herren! Wir wollen nicht „lächelnd koexistieren", wir halten nichts von Verbrüderungsszenen in Theaterlogen,
aber um so mehr von dem Gespräch, dem mutigen und ernsten und unerbittlichen Gespräch über das Wohl aller Menschen und aller Völker.
Es ist so Schönes über das Gespräch zwischen Freunden gesagt worden. Noch wichtiger ist das mutige, das vorbehaltlose Gespräch mit Gegnern; denn darauf kommt es doch in der Politik an.
Wenn man in der Politik etwas erreichen will, dann muß man doch wirken, dann muß man versuchen, Politiker, Vertreter von Völkern, die anderer Meinung sind, umzustimmen, festzustellen, wo gemeinsame Interessen liegen, klarzustellen, wo man sich verständigen kann. Ich glaube, das sollten wir wissen.
Wir stehen an einer Wende der Nachkriegspolitik.
— Schönen Dank, Frau Weber. Das ist eine wichtige Erkenntnis! Ich meine, damit stellen Sie sich, Frau Helene Weber — und dafür danke ich Ihnen sehr —, gegen die Meinung der Bundesregierung,
die da sagt, es sei nichts geschehen und es gehe alles schön und glatt seinen Weg weiter. Nein, meine Damen und Herren, wenn wir die Zeichen dieser Zeit nicht erfassen, wenn wir nicht erkennen, daß durch diese schlimmen Ereignisse blitzartig erhellt worden ist, wohin der Weg geht, dann haben wir kein Organ für Geschichte,
und Politik ist Bewußtsein der Geschichte.
Meine Damen und Herren, nationale Kräfte sind wieder wirksam geworden, dritte Kräfte — zu denen wir gehören — neben den beiden großen Mächten. Dieser Entwicklungsprozeß ist im Gange, und da darf es eines nicht geben: den kalten Krieg, den kältesten Krieg, den kalten Krieg als Dauerzustand.
Vor einigen Tagen — hören Sie gut zu, meine Herren von der CDU und CSU, damit Sie wissen, was gemeint wird —
hat Ihr Vorsitzender und der Regierungschef ganz unerbittlich hart seine Meinung gesagt: „Das Gerede von einer friedlichen Koexistenz mit der Sowjetunion ist, so hoffe ich, jetzt endgültig vorbei."
— Nein, ich zitiere ein Interview, das der Herr Bundeskanzler der „Rheinischen Zeitung" gegeben hat. Ich bin doch ein Jurist und ich weiß — —
— Herr Krone und Herr Lücke und alle sind so bös mit mir, ich verstehe es gar nicht!
Ich fange noch einmal an! Seine Worte waren, meine Damen und Herren — das müssen Sie wissen —:
Das Gerede von einer friedlichen Koexistenz mit der Sowjetunion ist, so hoffe ich, jetzt endgültig vorbei. Durch die Ereignise in Polen und Ungarn ist die Maske endgültig gefallen.
Die Vorgänge zeigen uns, daß die Politik der Bundesregierung und der Abschluß der Pariser Verträge richtig waren.
Sie beweisen uns, daß die Bundesrepublik stark sein muß, damit Sowjetrußland nicht über sie herfällt.
Da ist ja der Franz-Josef. Ich möchte mal gern hören, was er dazu sagt bei der traurigen Apparatur, die er da vorgefunden hat, wenn er jetzt die letzte Schreibstube säubern will, um ein bißchen zusamenzukratzen. Na, der Franz-Josef Strauß und ich haben ein gutes Gewissen, denn wir haben ja
gemeinsam gegen widerstreitende Kräfte zumindest die Ausweitung des Bundesgrenzschutzes zur rechten Zeit und zu rechtem Maß verlangt, als die Franzosen und manche andere dagegen waren, — wir hätten wenigstens etwas, wir hätten wenigstens eine Polizeistreitmacht.
Aber ich wiederhole: die Bundesrepublik muß stark sein, damit Sowjetrußland nicht über sie herfällt.
Ich hoffe, Rußland hat aus den Ereignissen gelernt, daß es seine Politik nicht mehr auf Gewalt aufbauen kann.
Die Politik der Stärke ist in Ägypten und ist in Ungarn widerlegt worden. Dort zeigt es sich, wohin die Politik der Stärke führt, die immer eine Politik brutaler Gewalt ist.