Rede von
Dr.
Gerhard
Schröder
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor Beginn der Debatte über Fragen der Jugendpolitik möchte ich namens der Bundesregierung einige grundsätzliche Bemerkungen machen und einige Tatsachen mitteilen.
Ich kann aber die Bemerkung nicht unterdrükken, daß ich es begrüßt hätte, wenn wir für die Debatte über die Jugendfragen eine etwas frühere Zeit heute zur Verfügung gehabt hätten
— ich darf das doch als meinen Wunsch aussprechen, Herr Kollege Menzel —,
angesichts der Tatsache, daß es zahlreiche junge Menschen sind, die dieser Debatte sehr gerne beiwohnen wollen.
Meine Damen und Herren, das Kernstück der Jugendpolitik des Bundes bildet der Bundesjugendplan. Ich habe in diesen Tagen den Mitgliedern des Jugendausschusses des Hohen Hauses einen Generalbericht über die Durchführung und die Ergebnisse von sieben Jahren Bundesjugendplan zugeleitet. Ich möchte nunmehr auch für die größere Öffentlichkeit einiges aus diesem Erfahrungsbericht bekanntgeben.
Aus den Mitteln des Bundesjugendplans sind bisher insgesamt 220 Millionen DM für Zwecke der sozialen Jugendhilfe und der Jugendbildung ausgegeben worden. Mit dieser finanziellen Förderung des Bundes wurden unter anderem folgende Ergebnisse erzielt.
Es konnten 800 Lehrlings- und Jugendwohnheime errichtet werden. In diesen Heimen und in ohne Bundeshilfe errichteten weiteren 600 Heimen fanden 641 000 Lehrlinge und Jungarbeiter Aufnahme. Es sind 4600 berufsfördernde Einrichtungen wie Grundausbildungslehrgänge, Lehrwerkstätten usw. errichtet worden. In ihnen wurden 152 000 Jugendliche betreut. Diese Maßnahmen stellen einen entscheidenden Beitrag zur Beseitigung der Jugendberufsnot dar.
Aus dem Gebiet der Bildung und Erziehung möchte ich folgendes hervorheben. An Kursen und Seminaren für politische Bildung haben über 400 000 ältere Jugendliche und Jugendleiter teilgenommen.
Für mehr als 300 000 Jugendliche wurden internationale Begegnungstreffen, Fahrten und Aufbaulager durchgeführt.
Es wurde der Bau von 140 Jugendherbergen, zentralen Jugendhäusern und Bildungsstätten gefördert. Im Rahmen der Grenzlandprogramme haben mehr als 2000 örtliche Jugendheime eine Hilfe erhalten.
Es sind 480 Jugendbibliotheken, Jugendabteilungen in allgemeinen Volksbibliotheken und Büchereien in Heimen und Bildungsstätten unterstützt worden.
o Es sind 200 000 zusätzliche Plätze für die Erholung von Kindern und Jugendlichen geschaffen worden.
89 Studentenwohnheime sind errichtet worden. An den Bundesjugendspielen beteiligen sich jetzt jährlich über 4 Millionen Jugendliche.
Über 100 000 Jugendliche aus Berlin kamen zu Fahrten in die Bundesrepublik. Mindestens die gleiche Zahl von jugendlichen Wanderern und Teilnehmern an Begegnungstreffen aus der sowjetischen Besatzungszone haben eine Förderung erhalten.
Jeder vierte jugendliche Flüchtling aus der sowjetischen Besatzungszone nimmt an den mit Hilfe des Bundesjugendplans geschaffenen Eingliederungsmaßnahmen teil. Dazu gehören offene Jugendgemeinschaftswerke, Freizeiten und Umschulungskurse. Dazu kommen die vielfältigen Betreuungsmaßnahmen durch die Lagerdienste der freien Organisationen, die weitgehend aus dem Bundesjugendplan finanziert werden.
Lassen Sie mich nunmehr ein Wort zu den Methoden des Bundesjugendplans sagen. Der Bundesjugendplan wurde von Anfang an als Initiativplan ausgeführt. Durch ihn sollten die Träger der vielfältigen Hilfs- und Förderungsmaßnahmen, die Verbände der Jugendpflege und Jugendfürsorge, die Länder, die Gemeinden und die freie Wirtschaft angeregt werden, auch ihrerseits größere Beiträge für die Jugendarbeit zu geben. Ich darf feststellen, daß hierdurch die Mittel des Bundes mindestens vervierfacht worden sind.
Der Bundesjugendplan ist nach Anlage und Durchführung eine Gemeinschaftsleistung der staatlichen Stellen und der freien Organisationen.
Durch diese Zusammenarbeit, die in dem Kuratorium für Jugendfragen ihre äußere Form gefunden hat, ist eine Koordinierung vieler Kräfte über weltanschauliche, parteipolitische und föderative Grenzen hinaus erreicht worden.
Ein Wort zu den Plänen für die Zukunft. Die Maßnahmen des Bundesjugendplans haben großen Anteil daran, daß die Massennotstände in der deutschen Nachkriegsjugend heute zu einem erheblichen Teil als beseitigt gelten können. Aus diesen Tatsachen ist aber., nicht etwa der Schluß zu ziehen, daß der Staat nunmehr seine helfende Hand von der Jugend zurückziehen könne. Neue Probleme harren der Lösung. Die Bundesregierung ist deshalb gewillt, das Förderungsprogramm des Bundesjugendplanes weiterzuführen, in mancher Beziehung sogar auszubauen. Hierzu möchte ich Ihnen einige Überlegungen vortragen.
Die Entwicklung unserer Wirtschaft wird über kurz oder lang zu einer Verkürzung der Arbeitszeit auch für die jungen Menschen führen. Damit stellt sich das Problem, was der junge Mensch mit der neu gewonnenen Freizeit anfangen wird. Wir wissen, meine Damen und Herren, daß aus den verschiedensten Gründen die heutige Familie noch nicht überall wieder ausreichenden Raum und ausreichende Anregung für eine sinnvolle Verwendung der Freizeit bietet. Aber auch dort, wo Wohnung und Familie in Ordnung sind, ist es ganz natürlich, daß sich der heranwachsende Mensch allmählich von dem Zuhause löst und seine Betätigung im Kreise von Altersgenossen sucht. Wenn die Allgemeinheit nicht die Verantwortung dafür übernimmt, für diese jungen Menschen Möglichkeiten zum Zusammenkommen, zur Bildung und zur Selbstbildung zu schaffen, werden sie in Zukunft noch in viel größerem Maße gewissen Zweigen der sogenannten Vergnügungsindustrie preisgegeben sein, als das heute schon der Fall ist. Auf einen einfachen Nenner gebracht möchte ich sagen: Die heute vorhandenen Freizeiteinrichtungen müssen verdoppelt werden.
Mit der Vermehrung der Freizeit wird sich aber auch der Inhalt der Freizeitbetätigung verschieben. Während heute die Freizeitgestaltung noch vielfach einen einfachen Zeitvertreib darstellt, wird sie künftig mehr und mehr zu einer echten Bildungsmöglichkeit werden müssen. Die Qualität der Einrichtungen, die der Jugend hierfür zur Verfügung gestellt werden, muß deshalb wesentlich gesteigert werden.
Aus diesen Feststellungen ergibt sich, daß von allen, die es angeht, in dreifacher Hinsicht Vorsorge getroffen werden muß:
1. Es müssen Einrichtungen geschaffen werden, wie Spiel- und Sportplätze, Jugendheime, Klubheime, Jugendbibliotheken usw.
2. Es müssen Bücher, Filme und Bildungsschriften bereitgestellt werden.
3. Es müssen — und dies gehört mit zu dem Wichtigsten — Jugenderzieher in dem erforderlichen sehr großen Umfang gewonnen und herangebildet werden.
Diesen letzten Punkt, meine Damen und Herren, möchte ich noch etwas näher begründen. Heute führen die Jugendleiter und die Jugendpfleger in den Jugendgruppen, in den Jugendheimen und auch in den Jugendämtern vielfach ein Schattendasein. Ich meine. daß die großen vorhin angeführ-
ten Erfolge des Bundesjugendplans ihnen in erster Linie zu danken sind, und bedaure es daher sehr, daß in der Diskussion um Jugendfragen immer noch das herabsetzende Schlagwort vom „Jugendfunktionär" gebraucht wird.
Es ist notwendig, ihrer hohen Verantwortlichkeit für die gesamte Jugenderziehung viel mehr gerecht zu werden, ihre Ausbildung zu verstärken und, soweit sie hauptamtlich tätig sind, ihre Vergütung zu verbessern. Man verlangt von ihnen, daß sie die Jugend auf den vielfältigsten Gebieten anregen und anleiten, daß sie nicht nur Wissen und Fähigkeiten vermitteln, sondern Persönlichkeiten heranziehen und daß sie selbst in jeder Hinsicht der Jugend ein Vorbild geben. Wenn wir dem sogenannten freien Erziehungsraum außerhalb der Schule, des Elternhauses und des Betriebes Bedeutung beimessen, so dürfen wir nichts unversucht lassen, die Ausbildung der Erzieher dafür zu fördern und ihr Ansehen zu heben.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, einige Worte zu einem verstärkten Jugendschutz sagen. Die Bundesregierung stimmt den Grundgedanken des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit zu. Sie hält diesen Initiativentwurf für geeignet, die Lücken zu schließen und Mängel auszuräumen, die sich bei der Durchführung des Gesetzes vom 4. Dezember 1951 gezeigt haben. Einzelne sachliche und technische Änderungsvorschläge wird sie in den Ausschußverhandlungen vorbringen.
Ich möchte aber entgegen falschen Darstellungen hervorheben, daß die Freigabe der Filme für Kinder und Jugendliche nach wie vor den obersten Landesjugendbehörden zustehen soll. Es kann also keine Rede davon sein, daß durch den neuen Entwurf der Bundesregierung etwa ein Recht zur Filmzensur eingeräumt würde. Es bleibt wie bisher den Ländern überlassen, wie sie das Prüfungsverfahren bei Filmen durchführen.
Lassen Sie mich nun in diesem Zusammenhang ein offenes Wort zur Pressesituation hinzufügen.
Die meisten von uns, meine Damen und Herren, sind nicht nur nach unserer verfassungsgesetzlichen Ordnung, sondern aus Überzeugung Anhänger einer möglichst freien Presse. Wir sind uns darüber klar, daß eine Demokratie wie die unsere durch eine freie Presse eher vor den Gefahren aller Staatlichkeit bewahrt werden kann. Die freie Presse ist notwendig, um die Urteilsfähigkeit und das Verantwortungsbewußtsein der Öffentlichkeit zu schärfen. Gerade weil wir diese Grundeinstellung haben, können wir aber die Augen nicht davor verschließen, daß uns heute da und dort in der Presse eine Richtungs- und Bindungslosigkeit begegnet;
ein unbewußter, zwar geleugneter, doch gleichwohl tatsächlich praktizierter Nihilismus, der sich zu einer Gefahr für die Pressefreiheit selbst, für die Toleranz im öffentlichen Leben, insbesondere aber für die Jugend auszuwachsen droht.
Hervorstechende Merkmale sind die Sucht nach der Sensation gleich welcher Art, die Sucht nach der Enthüllung um jeden Preis. Von zahlreichen Seiten wird staatlicher Zwang hiergegen gefordert. Wahrscheinlich wäre staatlicher Zwang eher geeignet, das Übel um ein weiteres zu vermehren. Aber für alle, denen es ein echtes Anliegen ist, die Freiheit des Wortes auch in der Presse zu wahren, scheint es mir eine der dringendsten Aufgaben unserer Verantwortung zu sein, darauf hinzuwirken, daß diejenigen, die die Presse machen, sich an Werte gebunden fühlen, die den Nihilismus überwinden: an Glauben, Wahrheitsliebe, Sachlichkeit und an die Würde des einzelnen.
Hier, meine Damen und Herren, liegt ein weites Feld der Erziehung und die Notwendigkeit dauernder Wachsamkeit der Leser. Im Wettlauf mit der gewaltigen Kaufkraft des niedrigsten Massengeschmacks drohen seelische Werte zerstört zu werden. Es ist kein Ruhmesblatt, meine Damen und Herren, für diese Art von Publizistik, wenn der Vorsitzende des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof D. Dibelius, kürzlich gewissen sowjetzonalen Stellen das Kompliment machen zu können glaubte, daß dort die Jugend vor mancherlei übler Publikation besser bewahrt sei als bei uns in der Bundesrepublik.
Wir sehen wohl alle, daß sich hier Unsitten und ein Zynismus breitgemacht haben, die nur schwer zu überwinden sein werden. Glücklicherweise ist das auch die Sorge zahlreicher Journalisten selbst. Wir werden, so meine ich, in der geistigen Auseinandersetzung mit dem Osten und bei der Kräftigung unseres demokratischen Rechtsstaats nicht bestehen, wenn wir den Kampf um eine wirklich freie, nicht von der Sensationslust getriebene Presse, wenn wir den Kampf um eine verantwortliche Presse nicht endlich aufnehmen.
In diesen Zusammenhang gehören auch die, wie mir scheint, unberechtigten Angriffe auf das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften.
Wir praktizieren dieses Gesetz jetzt drei Jahre, wirklich, wie ich sagen möchte, nur mit größter Zurückhaltung. Ich darf daran erinnern, daß der Bundestag nur Bestimmungen von 1926 erneuert hat, die seinerzeit von Hitler außer Kraft gesetzt worden waren. Von diesen Bestimmungen haben wir maßvoll Gebrauch gemacht, um nicht unberechtigte Gegnerschaften hervorzurufen. Ich möchte dabei auf einen Aufsatz verweisen, den das „Sonntagsblatt" in seiner letzten Nummer unter der Überschrift „Ist Sauberkeit verfassungswidrig?" veröffentlicht. Dieser Aufsatz belegt, daß jetzt der Versuch gemacht wird, selbst diese bescheidene Schutzwaffe gegen das Überhandnehmen von Schmutz- und Schundpublikationen stumpf zu machen und auszuschalten. Der Ruf zur Verantwortlichkeit, der in diesem Aufsatz an Eltern, Erzieher, Schriftsteller und Verleger gerichtet wird, scheint mir ebenso nötig wie gerechtfertigt. Wir haben, meine Damen und Herren, eine, wie ich glaube sagen zu können, einigermaßen funktionierende freiwillige Selbstkontrolle auf dem Gebiet des Films. Mindestens so nötig wäre uns eine freiwillige und funktionierende Selbstkontrolle auf dem Gebiet des Schrifttums.
Wir sollten, meine Damen und Herren, diesen Appell zu einer freiwilligen Selbstbeschränkung an alle, die es angeht, unermüdlich wiederholen. Diese Frage gehört zu den wirklich lebenswichtigen. Hier geht ein schleichender Vergiftungsprozeß vor sich, dem nachdrücklicher als bisher entgegengewirkt werden muß.
Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, einige Worte zu der Problematik einer Jugend in einem geteilten Vaterland. Ich betrachte es als eine unserer wichtigsten künftigen Aufgaben, immer noch mehr für die Flüchtlingsjugend aus der sowjetischen Besatzungszone zu tun, die jugendlichen Einzelbesucher, die in jedem Sommer von drüben kommen, zu fördern und Jugendlichen aus der Bundesrepublik Reisen in die Zone zu ermöglichen, damit auch auf diese Weise ein enger menschlicher Kontakt zu den von uns getrennten Deutschen gepflegt wird.
Darüber hinaus ist es wichtig, die vielfältigen Möglichkeiten, die für die politische Bildung unserer Jugend geschaffen wurden, für die geistige Auseinandersetzung mit dem Kommunismus fruchtbar zu machen. Dabei geht es nicht nur darum, die Welt des Gegners kennenzulernen, sondern es geht noch mehr um die Einprägung der rechtsstaatlichen und gesellschaftlichen Wertordnung, in der wir selbst leben.
Hierbei, meine Damen und Herren, sollte in den Vordergrund gestellt werden, daß es in der Bundesrepublik wie in der ganzen westlichen Welt über alle weltanschaulichen und parteipolitischen Schranken hinaus viele gemeinsame Werte gibt, denen wir uns alle verpflichtet fühlen könner und sollen.
Ich habe versucht, meine Damen und Herren, Ihnen in kurzen Zügen neue Aufgaben unserer künftigen Jugendpolitik darzulegen. Dabei bin ich von der Überzeugung durchdrungen, daß die deutsche Jugend von heute in ihrer Gesamtheit durchaus intakt ist.
Diese Jugend steht mit ihrem guten Kern. mit ihrem Wollen und Streben früheren Generationen nicht nach.
Darauf können wir aufbauen. wenn wir die neuen Aufgaben in einer neuen Welt lösen wollen. die sieh stärker und stärker industrialisiert, bürokratisiert und mechanisiert. Die künftige Technik, deren gewaltige Entwicklung wir heute nur ahnen, muß nicht zwangsläufig zur Zerstörung des inneren Menschen führen. sondern sie kann und sollte genutzt werden, auch neue Wege in der Jugenderziehung zu beschreiten. Bei allen Aufgaben, die sich hier stellen, die nur irgend mögliche Hilfe zu geben wird die Bundesregierung immer bereit sein.