Rede von
Herbert
Wehner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß mir doch noch einige Bemerkungen zu der Vorlage und dazu erlauben, wie es eigentlich um die Dinge bestellt ist, um die es in diesem Zusammenhang geht. Wenn wir uns so alle miteinander selbst hören, dann ist im Grunde genommen beinahe alles in Ordnung. Wenn wir dann noch einen Minister hören, so sagt er, er habe keine Beschwerdefälle zu diesem oder jenem Paragraphen, die seine Auslegung betreffen, bisher gehört. Das mag sein. Ich glaube nicht, daß wir in dieser Sache weiterkommen, wenn wir uns jetzt zu einer Art buchhalterischer Aufrechnung anschicken.
Meine Damen und Herren, wir laufen, was die Betreuung der ehemaligen politischen Gefangenen aus der Zone betrifft, Gefahr, allzuviel von den Paragraphen zu erwarten, aber auch ihnen allzuviel zu überlassen. Diese Menschen, die wie eben alle Menschen sehr unterschiedlich sind und für die man nicht einheitliche Normen setzen kann, haben eines gemeinsam: sie erwarten von uns, wenn sie zu uns kommen, ein Höchstmaß menschlicher Wärme bei der Behandlung aller ihrer Sorgen, und die Sorgen sind ja sehr groß. Da sind die gesundheitlichen Sorgen, die in der Regel von einer Art sind, daß erst nach geraumer Zeit herauskommt, was alles an zum Teil bösartigen Leiden in diesen Menschen steckt. Da sind viele andere Dinge, abgesehen davon, daß sie vor der bitteren Notwendigkeit stehen, ganz von vorn anzufangen.
Ich sage noch einmal: sie erwarten — und ich glaube auch, sie bedürfen - ein Höchstmaß menschlicher Wärme. Es ist die Frage, ob wir, wenn wir uns überlegen, was wir bisher getan haben und was wir nun mit dieser Novelle zum Gesetz verbessert tun zu können und tun zu wollen meinen, dann schon die Summe der möglichen Bemühungen erreicht haben, auf die es ankommt. Es kommt dabei auf eine anständige und warmherzige Auslegung von Verfahrensvorschriften an. Sicher, ich gebe zu, die Regierung kann nicht hinter jedem Einzelfall her sein. Aber sie sollte sich der Fragwürdigkeit bewußt sein, die gerade bei der Behandlung solcher Notfälle zutage tritt, und jeder Fall eines Menschen, der einmal gesessen hat, der Hilfe braucht und der irgendwo drinnen krank ist, ist ein Notfall. Dann sollte sie sich nicht darauf zurückziehen, daß bis zu ihren Ohren noch keine solchen oder andere Beschwerden gekommen seien.
Herr Minister, wenn ich Ihnen das direkt sagen darf: es gibt heute noch viele Menschen — und ich bin überzeugt, auch Ihre Mitarbeiter wissen das, und Sie wissen wahrscheinlich auch einen Teil davon —, die in den Jahren seit 1950, vor allen Dingen 1954, von den Zonenbehörden amnestiert worden sind und die sich inzwischen in bitterer Not befinden. Es kommt nicht darauf an, hier Briefe zu
verlesen. Ich habe solche Briefe. Es geht dabei nicht nur um die Angehörigen oder Anhänger der einen oder anderen Partei. Das trifft Leute, die sich zur CDU zählen, so wie Leute, die sich zur Sozialdemokratischen Partei zählen. Ich habe hier zum Beispiel einen Notschrei von einem Menschen, der einfach nicht mehr zurechtkommen kann. Er ist hirnverletzt. Aber auf diesen Menschen passen unsere Paragraphen noch lange nicht, wenn nicht noch etwas mehr dazukommt. Und dazu muß noch etwas mehr kommen.
Herr Minister, ich denke zurück an einen Versuch, den wir vor einem Jahr gemacht haben. Sie waren dabei, ich war dabei, einige andere waren dabei. Damals war uns plötzlich klargeworden, daß wir zwar Bestimmungen haben, durch die sich die Inempfangnahme derer regeln läßt — wenn man solch kalte Worte in diesem Zusammenhang anwenden darf —, die seit Oktober mit den Transporten aus Rußland, aus Sibirien usw. kommen, daß es aber doch schon in den Aufnahmelagern plötzlich eine Schwierigkeit gibt: Auf die einen trifft dies es Betreuungsgesetz zu, und auf die anderen trifft es nicht zu. Diese Menschen sind mit denselben Zügen aus der Gefangenschaft gekommen, wenn auch aus einer Gefangenschaft, die verschiedene Ursachen hatte. Beim einen war es die Folge des Krieges, daß er als Soldat in Kriegsgefangenschaft ging, beim anderen war es die Folge einer Verschleppung, beim dritten war es die Folge eines Konfliktes, den er in der Zone bekam und in dessen Verlauf er dann weiter einen schrecklichen harten Weg in die Wüste angetreten hat. Die Leute sollen das Gefühl haben, sie kommen in dieselbe Heimat. Wir wollen sie jetzt auch gleichmäßig behandeln, d. h. so, daß sie das bekommen, was sie brauchen, um Fuß zu fassen, um sich wieder entfalten zu können. Aber so ist es leider nicht gekommen.
Sie haben damals einen Vorschlag, den ich selbst gemacht habe, begrüßt. Er ist dann einige Tage später mit ziemlichen Veränderungen auf dem amtlichen Wege wieder erschienen. Ich hatte damals gemeint, man könne durch eine Art Härtefonds, der in das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz eingebaut werden sollte — nur um einen Aufhänger zu haben —, erreichen, daß diese Menschen, auch wenn sie nach dem Gesetz keinen Rechtsanspruch hätten, in den Genuß der zunächst auszuzahlenden Gelder kommen, mit denen sie in der ersten Zeit einiges anfangen können, die sowieso eine harte Zeit ist, weil, wenn der Empfang vorbei ist, die ersten Enttäuschungen kommen, weil dann der Papierkrieg beginnt und alles das, was man ungefähr weiß.
Damals hatte ich gesagt: So wollen wir es halten. — Die Regierung hatte noch Bedenken wegen der Rückwirkungen einer solchen Handhabe auf früher Amnestierte und sagte, dann würden auch diese entsprechende Ansprüche stellen. Nun, darüber ließe sich manches sagen. Ich bin — ohne das vertiefen zu wollen — der Meinung: Man soll nicht, weil man Menschen jetzt helfen kann und alle meinen, denen muß geholfen werden, diese Hilfe deswegen zurückhalten, weil sonst auch noch andere im Hintergrund Ansprüche geltend machen könnten. Das ist ein Dilemma.
Herausgekommen ist eine Bestimmung, die sich an das Häftlingshilfegesetz anlehnt. Aber herausgekommen ist doch auch eine Praxis, von der ich nicht überzeugt bin, daß sie mit den Worten „Es ist alles in Ordnung" oder „Wir haben das Menschenmögliche getan" gekennzeichnet werden darf. Ich denke an die Debatte, die wir am 30. Mai dieses Jahres hatten, als es um die Frage der Freilassung von Gefangenen ging. Bei dieser Gelegenheit sind manche warme Worte gesagt worden. Ich habe damals von einer Familie gesprochen, von der allein drei Angehörige in den Zuchthäusern der Zone saßen: der Vater, der Sohn und die Schwiegertochter. Ich bin froh, sagen zu können, daß diese drei inzwischen freigelassen worden sind. Die Motive, aus denen sie freigelassen worden sind, sind Sache derer, die sie freigelassen haben. Aber ich bin dankbar dafür, daß diese Familientragödie mit dem politischen Hintergrund, daß es sich in diesem Fall um überzeugte Sozialdemokraten gehandelt hat, insoweit jedenfalls nicht mehr existiert. Aber der Vater, also einer der drei, hat sich nach einigen Monaten veranlaßt gesehen, in einem Brief an den Herrn Bundeskanzler, auch an Sie, Herr Minister, und an andere das zum Ausdruck zu bringen, was er nun über seine Behandlung hier empfindet. Und das ist nicht schön.
Sie haben gesagt, Herr Minister, daß die Entschädigungsansprüche eigentlich an die Behörden jenseits der Zonengrenze zu richten wären. Darüber ist rechtlich überhaupt nicht zu streiten. Nur, Sie werden sich doch ebensowenig wie ich damit zufriedengeben wollen, daß man eines Tages und vielleicht heute schon Entschädigungsansprüche, Wiedergutmachungsansprüche an die Behörden jenseits der Zonengrenze richtet. Hier kommt es doch darauf an, diesen Menschen jetzt bei uns zu helfen. Das ist doch nicht etwas, womit wir ihnen ihre Entschädigungsansprüche gegenüber den Zonenbehörden abkaufen oder einschränken oder womit wir in irgendeiner Weise etwas dagegen tun. Aber warum kriegen z. B. die drei nicht das, was ihnen nach 71/2 Jahren Bautzen und Torgau und Brandenburg und Hoheneck, und wie diese Lager alle heißen, eigentlich gebührt?
Die Frau des älteren hat inzwischen kein leichtes Leben geführt. Sie mußte als politischer Flüchtling in West-Berlin leben; denn sonst wäre sie mit im Prozeß gewesen und wäre auch mit verurteilt worden, und dann wären es nicht drei, sondern vier gewesen. Die Frau ist eine anständige Frau. Sie hat sich um Arbeit bemüht, und sie hat Arbeit bekommen, nicht kochbezahlte Arbeit. Aber heute rechnet man den Lohn, den sie für ihre Arbeit bekommt, und die Arbeitslosenunterstützung des Mannes zusammen. Das ergibt eine Summe, die etwas über Ihren Richtlinien sein soll, Herr Minister. Ich finde, die 71/2 Jahre Bautzen und die 71/2 Jahre Torgau und die 71/2 Jahre Hoheneck
— schütteln Sie nicht den Kopf, Herr Minister — sind damit nicht abgegolten.
Das mag weh tun für uns, aber das müssen wir uns überlegen. Ich glaube, daß auch die jetzigen Bestimmungen noch nicht ausreichen. Ich bin der Meinung, Herr Minister, daß es notwendig ist, schnell, ich würde sogar sagen, mustergültig schnell — vielleicht können wir die neuen Bestimmungen schon in der nächsten Plenarsitzung verabschieden — an diesen Bestimmungen zu arbeiten. Der Ausschuß sollte sich zusammensetzen und in wenigen Tagen diese Vorlage trotz der Gegensätze durchberaten und das Ergebnis seiner Beratungen
vorlegen. Nur sollte man immer daran denken, daß wir keinen Grund haben, in diesen Fragen in eine Art. von Selbstzufriedenheit zu fallen. Diese Menschen haben es doch noch zu schwer, als daß wir glauben könnten, mit unseren Paragraphen hätten wir ihre Probleme gelöst. Sie sind nicht gelöst.