Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich danke dem Herrn Präsidenten für die tröstliche Mitteilung, daß ich als Schlußlicht einer langen Rednerreihe hier noch fungieren darf. Wir haben eine bemerkenswerte Debatte erlebt, in der im Grunde genommen die relative Position deutscher Politik recht deutlich zum Ausdruck gekommen ist.
Es sollte ein Tag politischer Debatte sein. Das ist zum Teil auch der Fall gewesen, und das hat ganz gewiß dazu beigetragen, manche kritisierten und beunruhigenden Publikationen der letzten Zeit abzuklären und über den Standpunkt der Regierungspolitik volle Klarheit zu schaffen.
Ich glaube, daß auch die Kollegen der Opposition, auch wenn sie in dieser oder jener Frage anderer Meinung sind, nicht bestreiten können, daß in der Regierungserklärung und auch in den nachfolgenden Ausführungen der Sprecher der Regierungsparteien über die Auffassungen zur Außenpolitik unseres Landes ein klärender Beitrag geleistet worden ist.
Wenn die Außenpolitik eine solche begrenzte Perspektive gehabt hat, indem im Mittelpunkt ihrer Erörterung die Frage der deutschen Wiedervereinigung stand, so sollte das von der Welt richtig gewürdigt werden. Es bedeutet nicht, daß wir uns nur innerhalb unserer Mauern und Wände geistig
umsehen. Wir blicken durchaus darüber hinaus, und wir wissen, daß eine eigentliche außenpolitische Debatte ohne globale Perspektiven gar nicht geführt werden könnte.
Wenn in dieser Debatte sehr viel die östliche Macht angesprochen worden und von den uns befreundeten Mächten des Westens kaum die Rede gewesen ist und wenn es heute tatsächlich keinen Sprecher an diesem Rednerpult gab, der sich nicht mit der Politik der Sowjetunion auseinandersetzte, so ist es nicht nur unsere Schuld, daß das so eindeutig zum Ausdruck gekommen ist. Wir wissen um unsere große geschichtliche politische Belastung in der Situation, in der sich die Welt und insbesondere Europa befinden. Aber nicht wir sind es gewesen, die die östliche Weltmacht in eine schicksalhafte Schlüsselstellung deutscher Politik gerückt haben. Weil sich die Sowjetunion in dieser Schlüsselstellung befindet, sind wir mit der wachsenden Konsolidierung der Bundesrepublik genötigt, uns mit ihr positiv und negativ mehr als bisher auseinanderzusetzen.
Meine Damen und Herren, es ist mit Recht oft die Frage aufgeworfen worden, ob der neue Kurs in der östlichen Politik, von dem man spricht, gültig sei oder nicht. Diese Frage zuverlässig zu beantworten, ist ganz gewiß sehr schwierig. Aber wir insbesondere haben diese Frage mit großem Ernst zu stellen, weil vieles davon abhängt, was unser Volk betrifft.
Man spricht von dieser neuen Politik des Lächelns. Man spricht von der größeren Elastizität und den guten Manieren der sowjetischen Diplomatie. Wir brauchen das im einzelnen nicht zu erörtern. Aber ich darf gerade bei der Würdigung der Bedeutung der sowjetischen Politik für das höchste Anliegen unseres Volkes, die deutsche Wiedervereinigung, feststellen, daß uns im neuen Kurs Moskaus bisher ein konkreter Beitrag zu unserem Anliegen versagt geblieben ist.
Ich spreche das nicht mit irgendeinem polemischen Akzent aus, sondern ich stelle das mit ganzem Ernst nur fest. Ganz gleich, was da nun in diesen bekannten Unterredungen in Genf, in Moskau, in Paris gesagt worden ist: Es bleibt doch übrig, daß eine konkrete Geste, die für uns eine Ermutigung mit dem Blick auf die Wiedervereinigungspolitik wäre, bis heute ausgeblieben ist.
Wenn wir nun heute lesen, daß der neue sowjetische Kommandant in Berlin dem Berliner Bürgermeister im Schöneberger Rathaus einen Besuch gemacht hat, so reihe ich auch das in eine ganze Gruppe von einzelnen Erscheinungen und Vorgängen ein, die als Entspannung interpretiert werden könnten, wenn die politische Realisierung auch. nur in der Ferne erkennbar wäre. Ich denke, daß es bei diesem Besuch im Schöneberger Rathaus nicht sein Bewenden haben sollte. Der sowjetische Kommandant sollte sich davon überzeugt haben, daß die Moskauer Politik wohl in der Lage wäre, gerade in Berlin den ersten konkreten Beitrag zu leisten.
Was verstehe ich unter einem konkreten Beitrag? Berlin gehört nicht zur NATO. In Berlin sind die Wehrdienstgesetze des Bundes nicht in Kraft. Doch alle Erscheinungen, die Argumente bei der
Negation sowjetischer Deutschlandpolitik sind, — in Berlin entfallen sie!
Ich möchte die Anregung geben, daß die sowjetische Politik möglichst schnell Gelegenheit geben sollte, in dieser von der NATO ausgeklammerten alten deutschen Hauptstadt Gesamtberliner Wahlen durchzuführen, auf Grund eines von ihrer Militäradministration bestätigten Gesetzes der Berliner Bevölkerung aller Sektoren und Bezirke die Möglichkeit zu geben, durch eine echte Wahläußerung die Einheitlichkeit ihrer Stadt wiederherzustellen.
Allerdings sollte diese großzügige Aktion, wenn sie erfolgt, nicht an die Illusion geknüpft werden, als ob die Berliner damit einverstanden sein könnten, in die Kontrollrats-Ära vergangener Zeiten zurückzusinken. Im zwölften Nachkriegsjahr sollte bei aller Wahrung des Vier-Mächte-Status — auf den wir Westberliner mit unseren Freunden in Ostberlin bekanntlich Wert legen — nicht die Illusion aufdämmern, als ob man auch zu den Kontrollratspraktiken der Zeit vor zehn Jahren zurückkommen könnte. Ich möchte hoffen, daß es möglich wäre, in dieser Weise zu einem konkreten Beitrag zur realen Entspannung auch der deutschen Situation zu kommen.
Ich halte es für vollkommen berechtigt und notwendig, daß viele Sprecher in dieser Debatte das Interesse erwähnt haben, welches die sowjetische Politik selbst wahrnehmen könnte, wenn sie sich nicht mehr als einziges Hemmnis einer Wiedervereinigung in Freiheit in den Weg stellte.
Von allen Sprechern ist mit einer vorbildlichen und taktvollen Zurückhaltung gesprochen worden ohne irgendeine Entgleisung gegenüber einer Staatsmacht oder auch einer früheren Besatzungsmacht. Das sollte man würdigen und sollte man nicht mißverstehen.
Mit großer innerer Bewegung lesen wir in diesen Stunden die aus Posen einlaufenden Meldungen. Wir sind weit davon entfernt — wie es auch Herr Kollege Feller in seinen Ausführungen schon andeutete —, uns etwa schürend oder ermunternd dazwischenzustellen. Das ist eine Angelegenheit des polnischen Volkes. Wir wissen auch, daß solche Eruptionen oft zunächst zu schweren Rückschlägen führen. Aber das moralische Potential, das in einem solchen geschichtlichen Augenblick, und wenn auch nur blitzhaft, beleuchtet wird, sollte allen, die es angeht, eine Mahnung sein, den Worten und Kundgebungen ihrer Gesinnung nun auch die Tat für den Frieden folgen zu lassen. Sie sollten begreifen, daß in der Mitte dieses Jahrhunderts auf die Dauer keinem Volk, welches es auch sei, eine fremde Herrschaft aufgezwungen werden kann.