Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Politik der Bundesregierung und der sie stützenden Gruppen in diesem Hause war auf die Einsicht gegründet, daß die Zukunft Deutschlands, seine Unabhängigkeit, seine freiheitliche, gesellschaftliche und politische Ordnung und die Erringung seiner staatlichen Einheit nur an der Seite der westlichen Welt und nur mit ihrer Hilfe gesichert werden kann. Es ist nicht unsere Schuld, daß diese Politik nur von dem größeren und freien, in der Bundesrepublik organisierten Teil unseres Vaterlandes betrieben werden kann. Dennoch war diese Politik in keinem Augenblick egoistisch nur auf die Interessen der Bundesrepublik selbst bezogen. Es war stets eine Politik für alle Deutschen und für ganz Deutschland.
Wir hatten in dem Kampf und in den Auseinandersetzungen der letzten Jahre immer wieder die Freude und die Ermutigung, daß uns dafür Tausende und aber Tausende von Menschen aus der Sowjetzone ihren Dank und ihre Zustimmung ausdrückten.
Die Erfolge, die die Bundesrepublik errungen hat — und es sind unbestreibare Erfolge; wer den Bericht des Außenministers verfolgt hat, kann das nicht leugnen —, haben wir nicht nur für uns selbst errungen, sondern auch für unsere deutschen Landsleute jenseits der Zonengrenze. Sie nehmen an diesen Erfolgen nicht erst teil, wenn einmal die Stunde der Freiheit für sie schlägt; jetzt schon kommen sie ihnen zugute, denn für jeden Deutschen drüben ist die Existenz dieser Bundesrepublik, dieses Landes freier Menschen mit einem freien Parlament und einer freien Regierung Trost, Hoffnung, Zuversicht und eine ständige Quelle der Kraft im Durchhalten der bitteren Jahre.
Und wenn es einmal für einen ganz schlimm kommt, und er keinen Ausweg mehr weiß, dann gibt es immer noch den Weg über die Grenze, hinüber in das freie Deutschland, wo er von Herzen aufgenommen wird.
Freilich, wir konnten und durften unseren tapferen Landsleuten, deren wir jüngst am 17. Juni wieder in Liebe und Ehrfurcht gedacht haben,
nicht zu Hilfe eilen, als sie sich in Zorn und Empörung nicht gegen die Besatzungsmacht, sondern gegen ihre deutschen Unterdrücker erhoben. Wir hätten es nicht gedurft und nicht gekonnt, selbst wenn wir über eine Streitmacht verfügt hätten. Denn es ist unsere Aufgabe, diesem unserem Volke, dem ganzen Volke, den Frieden zu bewahren, weil es nach den Schrecknissen und dem Elend der vergangenen Jahre und Jahrzehnte unsere Aufgabe ist, die Ziele unserer Politik ohne Gewalt durch unablässige friedliche Bemühung zu erreichen. Jawohl, Herr Ollenhauer, ein Krieg würde jede Hoffnung auf eine bessere und glücklichere Zukunft zerstören, und darum darf es, soweit es an uns Deutschen liegt, keinen Krieg geben.
Neben der Freiheit unseres Volkes ist also die Bewahrung des Friedens unser wichtigstes Anliegen. Beiden höchsten Gütern diente und dient unsere Politik, ohne Einschränkung und ohne Hintergedanken. Freilich, es war zu allen Zeiten schwer, Freiheit und Frieden zu behaupten. Jeder Blick in die leidvolle Geschichte der Völker beweist das. Ganz gewiß haben d i e Völker den Frieden und die Freiheit nicht bewahrt, die die Hände in den Schoß legten, die dem möglichen Feinde bloß gut zuredeten oder die sich gar nicht mehr fähig zeigten, für ihre höchsten Güter das Letzte einzusetzen.
Wir wußten, daß es, so wie sich nun einmal die Dinge in der Welt nach dem Krieg entwickelt hatten, zur Bewahrung des Friedens auch für uns notwendig war, uns jener westlichen Verteidigungsgemeinschaft einzugliedern, die es verhindert hat, daß das Bild unserer Welt noch mehr verändert wurde, als es in den Jahren nach dem Krieg durch die Stalinsche Expansionspolitik geschehen ist.
Man spricht heute gern von zwei Machtblöcken, und manche Wolkenkuckucksheimer, die sich ein Plätzchen irgendwo draußen suchen möchten, erinnern sich nicht mehr daran, wie diese beiden sogenannten Machtblöcke entstanden sind. Der Westen hatte abgerüstet, Stalin tat es nicht, und erst durch eine sehr späte, für manche Völker leider zu späte Reaktion des Westens, durch den Zusammenschluß des Westens in einer weltweiten Verteidigungsorganisation wurde eine weitere Expansion der Stalinschen Macht verhindert.
In diesem Zusammenhang wurden Anforderungen an uns gestellt, die zu erfüllen uns schwerfiel und schwerfällt. Wer da in der Welt glaubt, es mache uns Freude, eine neue Streitmacht aufzustellen oder gar diese Streitmacht in die Tradition eines unseligen vergangenen deutschen Militarismus zu stellen, der irrt sich. Er sollte sich daran erinnern, wie stark gerade wir von der Regierung in den vergangenen Jahren darum gekämpft haben, daß keine nationale deutsche Streitmacht errichtet werden sollte, daß wir bereit waren, unseren Verteidigungsbeitrag gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarn zu leisten.
Es lag nicht an uns, daß die Europäische Verteidigungsgemeinschaft nicht zustande kam.
Nun haben wir ein Heer aufzustellen. Ich komme auf die Probleme, die Herr Kollege Ollenhauer in diesem Zusammenhang angeschnitten hat, ausführlich zurück. — Das ist nicht nur ein Problem der Summierung von soundso viel Soldaten; es ist eine gewaltige Aufgabe. Ein Heer ist nicht nur ein Apparat, eine Maschine. Es ist eine moralische Kraft. Es wird viel und alles davon abhängen, ob dieses Heer diese moralische Kraft in jedem Sinne des Wortes verkörpern wird, ob es auch eine moralische Kraft im Rahmen eines freiheitlichen demokratischen Staatswesens sein wird. Ohne daß wir bereit sind, den Soldaten, die in diesem Heere dienen, jene Ehre und Würde zuzuerkennen, die der Soldatenstand beanspruchen darf, werden wir diese moralische Kraft bestimmt nicht erreichen.
Niemand kann leugnen — ich sagte es schon, meine Damen und Herren —, daß wir durch diese Politik der Eingliederung in das große Bündnis der freiheitlichen westlichen Welt für die Bundesrepublik erstaunliche Erfolge erzielt haben. Wer hätte vor zehn Jahren den Bericht eines deutschen Außenministers wie den gestrigen zu erhoffen gewagt! Man hätte die Erfüllung eines solchen Traumes gar nicht zu glauben gewagt.
Allerdings, hier setzt die Kritik ein. Herr Ollenhauer hat es ja ausführlich getan. Ja, wird gesagt - wenigstens wenn man gutwillig ist und wenn man nicht alles, was wir erreicht haben, leugnen will —, diese Erfolge mögt ihr für die Bundesrepublik errungen haben, aber ihr habt sie nicht für Deutschland errungen, denn das Problem der Wiedervereinigung ist nicht gelöst. So behauptete es Herr Ollenhauer heute erneut, und Herr Wehner hat es gestern in einem Zwischenruf getan. Es ist durch eure Politik schwieriger geworden, ihr habt durch eure Politik der Verträge — so lautete es gestern — eine Chance der Wiedervereinigung verpaßt. Meine Damen und Herren, wir müssen solche Vorwürfe ernsthaft prüfen; denn das Anliegen der Wiedervereinigung ist so wichtig für uns alle, daß wir keiner Kritik in dieser Frage ausweichen. Wie steht es damit?
Ich halte die Behauptung, die Herr Ollenhauer erneut aufgestellt hat, für falsch. Ich habe gesagt, daß die Ausgangsbasis unserer Politik zunächst einmal die Sicherung der Freiheit der Bundesrepublik war. Meine Damen und Herren, ohne daß die Unabhängigkeit und die freiheitliche, gesellschaftliche und politische Ordnung der Bundesrepublik gesichert ist, gibt es keine Sicherung einer Wiedervereinigung in Freiheit für ganz Deutschland.
Wer hier mit seiner Kritik einsetzt, der müßte zurückgehen bis zur Gründung der Bundesrepublik selbst und müßte ein Mea culpa sagen und bekennen: ich hätte schon zur Gründung der Bundesrepublik nicht mitwirken sollen.
Welche Folgen das allerdings für unser ganzes deutsches Vaterland gehabt haben würde, das wage ich mir nicht auszudenken.
Herr Ollenhauer, es Ist richtig, zu sagen, daß unter den gegenwärtigen Verhältnissen von Sowjetrußland kein Ja zur Wiedervereinigung erwartet werden kann, wenn in der gegenwärtigen Weltsituation Gesamtdeutschland in ein westliches Verteidigungsystem eingegliedert würde. Ich sage Ihnen diesen Satz so klar, damit wir uns in der kommenden Auseinandersetzung mit Ihren Gedanken ganz verstehen. Die Folgerung aus dieser Erkenntnis, die mit der Verteilung des Kräftegleichgewichts auf der Welt zu tun hat, ist nun aber nach unserer Auffassung nicht die Neutralisierung Deutschlands. Die erste Aufgabe, die wir zu erfüllen haben, ist eine Aufgabe der Sicherung der Freiheit, der Unabhängigkeit — wieder betone ich es — nicht nur für uns, sondern auch für die Deutschen drüben und für ganz Westeuropa.
Der Herr Außenminister hat gestern einen Satz gesagt, den ich nachdrücklich unterstreichen möchte. Er sagte: „Wer die Einheit des deutschen Volkes fordert, aber darüber vergißt oder sogar verschweigt, daß er damit die Freiheit des deutschen Volkes gefährdet, wagt ein gefährliches Spiel."
Frieden, Freiheit und Wiedervereinigung sind eben untrennbare Ziele. Will man die Bahn zur Wiedervereinigung ebnen, dann darf man nicht zu kleinen Aushilfen greifen, nicht an Symptomen herumzukurieren versuchen, statt die Wurzel des Übels anzupacken. Wie viele Projekte sind in den letzten Monaten wie Pilze aus dem Boden geschossen, drinnen und draußen. Bei allen beging man nach meiner Meinung denselben Fehler: den Versuch zu machen, nur an einer Stelle aufzutauen, die doch sofort wieder zufrieren würde bei der vorhandenen Kälte; statt den allerdings mühseligeren und langwierigeren Versuch zu unternehmen, ein allgemeines Tauwetter herbeizuführen.
Über dieses allgemeine Tauwetter hat der Außenminister gestern sehr gründlich gesprochen. Ich hatte manchmal den Eindruck bei den Ausführungen Herrn Ollenhauers, daß er seine Rede vor den Ausführungen des Außenministers gemacht hat;
denn sonst hätte er, glaube ich, doch sehen müssen - die Presse hat es ja auch gesehen —, daß in diesen Ausführungen erhebliche konstruktive Beiträge auch zur Lösung des wichtigsten deutschen Problems enthalten waren.
— In seiner Rede; es sind die Ausführungen des Außenministers zum Problem der allgemeinen Abrüstung.
— Warten Sie mit Ihrem Einwand „Warum rüstet ihr dann erst auf?", ich komme gleich darauf!
Es ist nach unserer Meinung in der Tat gar nicht möglich, mit Teilprojekten vorzugehen. Wenn wir die verfahrene Situation auflockern wollen, wenn wir die Möglichkeit eines Ja sowohl des Westens wie des Ostens zur deutschen Wiedervereinigung schaffen wollen — beide müssen ihr Ja sagen —, dann müssen wir alle jene Voraussetzungen beseitigen, die zu dieser Situation geführt haben.
Das ist natürlich das Ziel der allgemeinen Entspannung auf dem Wege über eine allgemeine Abrüstung. Wenn das gelänge, dann würde sich auch das Problem der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft — ich habe schon einmal in diesem Hause angedeutet — sofort anders stellen. Wenn die allgemeine Weltlage sich grundsätzlich ändert, dann ändert sich auch das Bedürfnis nach Sicherheit und dann ändert sich auch die Notwendigkeit, bestimmte Verteidigungsvorkehrungen von seiten der westlichen Welt aufrechtzuerhalten.
Wir hängen an der NATO nicht als an einem Dogma oder weil wir einmal diesen Weg beschritten haben und nun nicht mehr von ihm abkommen können.
Wir unterscheiden uns allerdings in mehreren Dingen ganz wesentlich von der Auffassung der sozialdemokratischen Fraktion und anderer unserer Kritiker. Wir glauben nicht, daß jetzt und zur Zeit dieses allgemeine Tauwetter schon begonnen hat. Die Sowjetrussen können — wie in der antiken Fabel von Helios und Boreas — bald kalt, bald warm blasen.
— Boreas nur kalt, natürlich! Aber in Moskau, verehrter Kollege Schmid, gibt es ja verschiedene Leute, und man kann mit verteilten Rollen spielen, wenn es notwendig ist; und wenn es notwendig ist, kann derselbe Mann, auch wenn er sich gelegentlich dabei verschluckt, den Boreas oder den Helios spielen.
Wir sollten aber, wenn die sowjetische Sonne sich gelegentlich aus den Wolken herausschiebt, nicht gleich glauben, daß damit das allgemeine planetarische Tauwetter, wie Herr Ollenhauer meinte, schon eingesetzt habe.
Das Problem der deutschen Wiedervereinigung wird von unseren Kritikern, vor allen Dingen von den Sozialdemokraten, nach meiner Meinung deswegen falsch gesehen, weil sie ihre Blicke fast ausschließlich auf das militärische Problem gerichtet halten.
Wir haben in der Vergangenheit immer gesagt, daß es keineswegs die Eingliederung der Bundesrepublik in die Nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft allein oder hauptsächlich sei, die die Lösung des Problems der deutschen Wiedervereinigung so außerordentlich schwierig mache. Nun, ich will nicht lange die Äußerungen von Herrn Chruschtschow über die achtzehn Millionen Deutschen, die man in der Hand habe, interpretieren oder die von Marschall Schukow berichtete Äußerung auf der Genfer Sommerkonferenz, wo er seinem amerikanischen Gesprächspartner gesagt haben soll: „Ihr habt eure Deutschen und wir haben unsere Deutschen, und dabei wollen wir denn auch zufrieden sein." Ich will nicht einmal unterstellen, daß diese Worte — und sie sind trotz aller Dementis und Interpretationskünste im Kern jedenfalls der Ausdruck der gegenwärtigen sowjetischen Haltung zum Problem der deutschen Wiedervereinigung — ein Ausdruck bösen Willens sind, sondern ich will berücksichtigen, daß es für Sowjetrußland im Zusammenhang mit dem Problem der deutschen Wiedervereinigung eine echte Proble-
matik gibt, um die wir uns kümmern müssen; aber dann bitte um die ganze Problematik!
Ich bin einmal in diesem Hause von Herrn Erler gefragt worden, was ich tun würde, wenn eines Tages Sowjetrußland die Wiedervereinigung in Freiheit gegen einen Verzicht auf die Eingliederung Gesamtdeutschlands in ein westliches Militärbündnis anböte. Ich habe damals Herrn Erler gesagt: Die Antwort gebe ich Ihnen nicht, ich gebe sie der Geschichte. Ich könnte sie schon heute geben, meine Damen und Herren; denn die Frage stellt sich nicht, das hat die Entwicklung innerhalb des letzten Jahres seit den Genfer Konferenzen sehr klar gezeigt. Die Frage ist viel umfangreicher, viel komplizierter, und nur wenn wir uns daran gewöhnen, sie so zu sehen, werden wir in der Frage der Wiedervereinigung auch weiterkommen.