Rede von
Dr.
Hans-Joachim
von
Merkatz
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe die Ehre, namens der Fraktion der Deutschen Partei zu Punkt 1 a, b und c Stellung zu nehmen. Die Zeit ist vorgeschritten, und ich will mich bemühen, unsere Ansicht so kurz wie möglich darzulegen.
Wir begrüßen das Verfahren, das hier im Bundestag eingeschlagen worden ist. Ich glaube, in der Geschichte dieses Hauses wird diese Verhandlung einmal als ein großer Tag bezeichnet werden; denn hier wird zum erstenmal Hand angelegt, europäische Beschlüsse zu verwirklichen. Herr Kollege Mommer hat mit Recht gesagt, die Zeit der Proklamationen und der großen europäischen Rhetorik sei vorbei, man müsse mit den bescheidenen, aber sehr wirksamen Maßnahmen das kommende Europa gestalten.
Gestatten Sie mir eine kleine Nebenbemerkung. Es ist allmählich zur Phrase geworden, daß jeder beteuert, er wolle auf große europäische Deklarationen verzichten, man müsse das nüchtern und realistisch betrachten. Entschuldigen Sie, meine Herren, jemand, der Politik nicht realistisch und nüchtern betrachtet, geht, glaube ich, am politischen Problem überhaupt vorbei. Insofern wäre ich glücklich, wenn diese Phrase aus unserem europäischen Gespräch verschwinden wollte.
— Ja, sie war sehr nötig. Aber nun hat immerhin Brüssel stattgefunden. Wir haben uns Jahre hindurch in der praktischen Arbeit durchaus bewährt, und der Deutsche Bundestag hat sich bereitgefunden, zur Gestaltung zu schreiten.
Ich möchte namens der Fraktion der Deutschen Partei zum Ausdruck bringen, daß nach unserer konservativen Auffassung der europäische Gedanke nicht ein Gedanke einer bestimmten Außenpolitik, nicht der Gedanke einer bestimmten Regierung oder einer bestimmten Zeitlage ist, sondern daß er eine objektive Tatsache ist, die aus dem geschichtlichen Geschehen der letzten Dezennien zur praktischen Verwirklichung drängt. Insofern wird sich an dieser Grundlinie, die eine objektive Entwicklung der Welt darstellt, auch in der Zukunft nichts ändern.
Ich darf vor dem Ausland und vor unseren europäischen Freunden dies als einen sehr entschlossenen Willen meiner Fraktion zum Ausdruck bringen. Was auch sein möge: wir gehören nicht zu den Enttäuschten oder zu jenen, denen es nicht schnell genug geht. Es ist eine absolute Sicherheit gegeben, gleichgültig, was in den einzelnen Völkern gewollt wird: diese europäische Einheit wird entstehen. Es fragt sich nur, ob die Zeitgenossen aufgeschlossenen Geistes und Willens sind, dieser Entwicklung den Weg zu erleichtern.
Es ist eigentlich etwas Merkwürdiges. Wir haben im letzten Jahrhundert eine große gesellschaftliche Revolution hinter uns und vor allen Dingen als Folgewirkung der beiden letzten Weltkriege eine große wirtschaftliche, eine große technische Revolution. Das Atomzeitalter hat begonnen. Nur in einem Punkt hat sich die Welt nicht verändert: in den Auffassungen über die Staatenordnung im Völkerrecht und in den Konzeptionen, wie man eine Völkerfamilie begreift. Daran hat sich seit dem 19. Jahrhundert eigentlich nichts geändert. Das ist merkwürdig angesichts der drängenden Kräfte, die auf den Gebieten unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens zu größeren Zusammenschlüssen hinzielen. Tatsächlich wird es nicht gelingen, die Befriedung der Welt herzustellen, wenn sich nicht in den Auffassungen über die Staaten- und Völkerordnung neue Erkenntnisse Bahn brechen. Das gilt vor allen Dingen im Hinblick auf die Betrachtung der Dinge aus dem nationalstaatlichen Interesse heraus. Das gilt aber auch für die Lehre von der Souveränität. Tatsächlich haben die politische Souveränität — ich spreche nicht von der Souveränität im Rechtssinne — heute nur noch die Weltmächte, die über alle Machtmittel verfügen, ihr Dasein aus eigener Kraft zu bewahren. Das gilt für die europäischen Nationalstaaten nicht mehr, gilt selbst nicht mehr für die Staaten, die in der Geschichte des 19. Jahrhunderts als Großmächte angesehen wurden.
Dieser europäische Gedanke ist im Gegensatz zwischen Ost und West erwachsen. Ich glaube, daß man ihn in seiner eigentlichen Tragweite nicht allein unter diesem Gegensatz zwischen Ost und West betrachten darf.
Die Tendenzen, die in ihm leben, die in ihm sind, haben sich schon viel früher gezeigt: in der Fortentwicklung der europäischen Staatenwelt, in der Fortentwicklung der Situation, die sich vor allen Dingen daraus ergibt, daß die ehemaligen Kolonialstaaten nunmehr zu eigenen staatlichen Entitäten geworden sind. Dennoch wäre es eine Illusion, nicht wahrhaben zu wollen, daß der Gegensatz zwischen Ost und West auch im Mittelpunkt der Frage des Werdens der europäischen Einheit steht.
Ich selbst habe — ich glaube, zu einem verhältnismäßig frühen Zeitpunkt — in diesem Bundestag das Wort von der Politik der Entspannung gebraucht. Die geschichtliche Entwicklung der letzten drei Jahre läßt aber erkennen, daß wir dieses Wort von der Entspannungspolitik nicht übermäßig strapazieren sollten. Es sollte eigentlich durch ein
konkreteres Wort ersetzt werden, nämlich: Politik des Ausgleichs zwischen Ost und West. In dem Begriff „Entspannungspolitik" steckt sehr viel von einem nur wörtlichen Bekenntnis, einem Beschönigen der eigentlichen Machtgegensätze, die bestehen. In der Politik des Ausgleichs, die wir im Gesamtinteresse des Friedens der Welt erstreben müssen, steckt mehr; darin steckt nämlich eine Leistung, eine erstrebte Leistung auch der Sowjetunion, eine Leistung, die darauf gerichtet ist, die Ursachen der Spannungen zu beseitigen. Ich muß zu meinem größten Bedauern feststellen, daß ungeachtet aller auf den Frieden und auf die Entspannung gerichteten Worte der Sprecher der Sowjetunion eine Leistung auf diesem Gebiet oder auch nur irgendein konkretes Angebot noch nicht gemacht worden ist.
Das ist die besorgniserregende Situation.
Kein vernünftiger Mensch wird in dieser Lage — wir stehen an der Grenze des Machtgegensatzes — irgendwelche Kreuzzugsideen in sich tragen; jeder vernünftige Mensch, der den Frieden will, wird dem russischen Volke den Wohlstand und das Gedeihen wünschen. Aber wenn wir schon über die Politik der Entspannung und des Ausgleichs sprechen, dann sind Tatsachen, Anerbieten oder auch nur Vorstellungen des Ausgleichs von dieser Seite zu machen und notwendig.
Herr Professor Schmid hat heute in sehr beredten Worten von dem Ziel gesprochen, daß das Ende des Kalten Krieges herbeigeführt werden müsse. Gewiß ist das unser heißes Wollen, eine wirkliche Sehnsucht. Aber ich glaube, ohne daß man einmal zu einem Anerbieten einer Leistung zur Beseitigung der Ursachen der Spannung in der Welt — die man weltweit sehen muß — kommt, ohne daß das vorliegt, wird alles Bemühen — das wir sehr bejahen! — doch immer bloß an den Symptomen herumkurieren, aber nicht an die Wurzel kommen. Ich vermag bisher noch nicht zu sehen, worin wirkliche Tatsachen der Entspannung und des Ausgleichs gegeben sind, die es zuließen, die Aussicht auf eine Beendigung des Kalten Krieges zu konstatieren.
Hierbei ist nach unserer Auffassung noch eines zu sagen. Wenn wir von der Freiheit in Europa sprechen, wenn wir vom europäischen Zusammenschluß sprechen, dann meinen wir damit auch die Freiheit der osteuropäischen Völker. Denn die Freiheit ist etwas Unteilbares. Und wenn wir von der Wiedervereinigung Deutschlands sprechen, dann vergessen wir dabei nicht, daß auch die Spaltung Koreas und Indochinas und der sonstigen geteilten Welt überwunden werden muß. Niemand im Ausland soll etwa der Auffassung sein, wir betrachteten — bei dieser weltweiten Anschauung der Dinge — nur unsere eigenen Sachen und vergäßen über dem Leid der Unfreiheit unseres eigenen Volkes die Tatsache der Zerrissenheit der Welt und der Versklavung ganzer Völker. Das erregt uns genau so wie das, was uns geschehen ist. Denn wenn dort ein Wandel eintreten kann, tritt er auch bei uns ein. Die Welt ist ein unteilbares Ganzes geworden.
Ich darf sagen, daß die Tätigkeit des Europarates gerade auf diesem Gebiet wesentlich zur Erarbeitung einer gemeinsamen Auffassung über die Grundlagen, auf denen ein Frieden in der Welt gebaut werden könnte, beigetragen hat. Die Publizistik hat sich ihm nicht zur Verfügung gestellt, die Gespräche wurden für eine breitere Öffentlichkeit langweilig. Aber wenn man die Substanz überblickt, muß man feststellen, daß sehr viel getan
worden ist. Denn das Prinzip der europäischen Solidarität ist in der Praxis bei allen großen politischen Fragen der letzten Jahre betätigt worden, und zwar nicht nur im Rahmen des Kleineuropas, sondern im Rahmen des ganzen freien Europas. Aber vergessen wir nie, halten wir bei allen Überlegungen daran fest, daß nicht ein Kleineuropa und auch nicht ein Westeuropa das Ziel ist! Das Ziel muß letzthin ganz Europa sein. Man darf die Fragen des Gegensatzes zwischen Ost und West nicht allein unter den militärischen Gesichtspunkten betrachten. Die strategischen Gegebenheiten und Machtpotentiale ändern sich. Das, worum es bei allem geht, ist letzthin eine politische Frage. Mit den politischen Problemen haben wir uns zu beschäftigen.
Nun ist in den letzten Jahren das Verhältnis der europäischen Politik zur Politik der Wiederherstellung der Einheit unseres Landes viel diskutiert worden. Es hat Leute gegeben, die die Europapolitik und die Tätigkeit des Europarates mit der Wiedervereinigungspolitik, unserem nationalen Streben, in einen Gegensatz gebracht haben. Es gibt sogar heute eine Formel, die dem Sinn nach sagt: Europa nur soviel, als es die Wiedervereinigung nicht hindert. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer die politische Sprache versteht, die ja nicht immer das ausdrückt, was sie sagt, sondern einen anderen Inhalt in sich schließt, hat den dringenden Verdacht, daß diejenigen, die dies sagen: Europa nur soviel, als es die Wiedervereinigung nicht hindert, in Wirklichkeit den europäischen Gedanken, indem sie ihn in einen Gegensatz zu der Einheit, zu dem Einheitsstreben Deutschlands bringen, praktisch verneinen; denn die Gedanken und die Triebkräfte, die zur Einheit Europas führen, sind genau die Triebkräfte, die uns helfen, die Einheit Deutschlands in Freiheit wieder zu gewinnen. Das war der ganze Sinn der deutschen Außenpolitik. Ich halte es nicht für eine gute Methode für ein Parlament, daß Fragen der Diplomatie, d. h. der Methode im einzelnen zum Gegenstand politischer und vor allem innenpolitischer Auseinandersetzungen gemacht werden, weil Fragen der Diplomatie — das ist die reine Technik zur Erreichung eines politischen Zieles — der Diskretion bedürfen und nicht vorzeitig zerredet werden dürfen. Vor allem ist es ein sehr schlechter Stil, die Frage der Wiederherstellung der Einheit unseres Landes zu einem Konkurrenzkampf zu machen, indem die einzelnen Parteien und Fraktionen sich in der Beteuerung ihres Wiedervereinigungswillens gegenseitig zu überbieten trachten. Damit kann man nur schaden.
Denn über eins müssen wir uns klar sein: Gewiß hat die Welt eingesehen — und daran hat die deutsche Delegation im Europarat keinen geringen Anteil —, daß ein sehr wesentliches Moment der Entspannung in der Welt die Wiedervereinigung Deutschlands ist. Sie hat sich dafür eingesetzt, und die Entschließung 87 ist einer der wichtigsten Marksteine europäischer Politik. Ich stimme Herrn Professor Schmid absolut zu, wenn er sagt, daß diese Entschließung 87 nicht allein ein Instrument gewesen ist, das ad hoc zur Lage der Genfer Konferenz beschlossen worden ist, sondern daß diese bedeutsame Entschließung die Prinzipien einer Politik der Zukunft beinhaltet. Aber wir dürfen dabei auch nicht verkennen, daß schließlich die Welt als solche viele Anliegen hat, um die Spannungen zwischen Ost und West zu beseitigen, um die tiefe Sorge aller Völker um die Aufrechterhal-
tung des Friedens auszuräumen. In der Welt sind viele Interessen, und ich glaube, daß man durch eine allzu starke Überspannung unseres politischen Gehabens in dieser Frage, unseres rein rhetorischen Gehabens, mehr Schaden stiften kann, als man Nützliches erreicht. Wir wollen das Reale in der Bündnispolitik des Westens und in der Bedeutung der Wiederherstellung der deutschen Einheit für die Entspannung in Europa anerkannt sehen als ein echtes politisches Ziel nicht allein von uns, sondern auch von den Mächten, mit denen wir verbündet sind, und vom Europarat. Wir wollen diese Grundlage sehr pfleglich behandeln. Ich persönlich bin der Auffassung, und mit mir ist es meine Fraktion, daß die einzig reale Politik einer Wiederherstellung der Einheit Deutschlands auf diesem Boden erwachsen kann und erwachsen muß.
Ich habe mit einer gewissen Besorgnis die Ausführungen von Herrn Professor Schmid über die Frage der Abrüstung im Verhältnis zu den politischen Ursachen, die zu einem Wettrüsten geführt haben, gehört. Ich glaube, kein vernünftiger Mensch, keine Fraktion dieses Hauses, kein nachdenklicher Deutscher wird nicht von jedem Fortschritt, der auf dem Gebiet der Abrüstung erreicht wird, höchst befriedigt sein. Ich gebe dem Professor Schmid auch zu, daß Fortschritte, die auf dem Gebiet der Abrüstung erreicht werden, ein gewisses bewegendes Moment auch für die Lösung der politischen Fragen, die die Ursachen der Spannung sind, hervorbringen können. Dieses bewegende Moment wollen wir unter keinen Umständen durch eine falsche Betrachtung der Dinge stören. Wir freuen uns über jeden Erfolg der Abrüstung. Aber man darf doch auch nicht verkennen, daß wir die großen Chancen, die uns die Entschließung 87 des Europarates bietet, damit nicht preisgeben dürfen. Hier ist zwischen Ursache und Symptom zu unterscheiden. Abrüstungsbesprechungen, wie sie im Rahmen der UNO stattfinden, sind letzthin militärtechnische Besprechungen. Ohne eine Beseitigung der Ursachen der Spannung wird man zu keinem durchschlagenden Erfolg bei den Abrüstungsbesprechungen kommen, wird man nicht zu der letzthin tragenden Grundeinigung kommen. Der Grundgedanke der Entschließung 87, daß ein Gleichzeitig, ein Nebeneinander stattzufinden hat, dürfte von höchster Wichtigkeit sein; denn nichts wäre schlimmer, als daß über ein Abrüstungsgespräch die Frage der eigentlichen Ursachen der Spannung zwischen Ost und West verschwindet, die Frage der Sicherheit in Europa und im Rahmen der Sicherheit in Europa auch die Frage der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands.
Es ist heute bereits Widerspruch gegen die Darlegungen des Herrn Professors Schmid hinsichtlich der Bedeutung der deutschen Nachrüstung erhoben worden. Ich will nicht von Aufrüstung sprechen; denn das, was . hier ganz bescheiden geschieht, ist ein Nachziehen insofern, als man ein Vakuum an Potential im Rahmen eines westlichen Bündnisses wieder aufzufüllen bestrebt ist. Ich darf als Auffassung meiner Fraktion noch sagen, daß wir hinsichtlich der Entwicklung der letzten Jahre auch an der Politik des Westens einige Kritik zu üben haben. Man hat die Entspannungspolitik zu einem Zeitpunkt begonnen, als die Frage der Sicherheit noch gar nicht geklärt war und noch in keiner Weise zu tatsächlichen Grundlagen geführt hatte. Zu der Frage der europäischen Sicherheit gehört nun einmal unlöslich der deutsche Verteidigungsbeitrag. Das alles war durch vielerlei Verzögerungen, über die ich in diesem Augenblick nicht rechten will, noch nicht vollendet. Ich glaube, es war keine richtige Methode, eine Entspannungspolitik zu versuchen, bevor ein Gleichgewicht der Kräfte hergestellt war; denn nur auf der Grundlage des Gleichgewichts der Kräfte läßt sich eine echte Politik der Entspannung im Sinne des echten Ausgleichs, wie ich eingangs bemerkte, vollziehen.
Allen Zweifeln gegenüber möchte ich hier klar den Willen meiner Fraktion zum Ausdruck bringen: Wir sind nicht gewillt, in der künftigen Entwicklung im Rahmen einer Entspannungs- und Ausgleichspolitik Kompromisse einzugehen, die auf Kosten der deutschen Freiheit geschehen. Wir sind nicht gewillt, Verhandlungen mit Pankow zu führen. Warum nicht? Weil solche Verhandlungen de facto und dann eines Tages de jure die Spaltung Deutschlands, die ja bloß eine Spaltung der staatlichen Organisation, aber in gar keiner Weise eine Spaltung des Volkes ist, bestätigen würden. Wir sind nicht bereit, Zugeständnisse auf Kosten der freiheitlichen Lebensordnung zu machen. Über die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung muß ein freies deutsches Volk in seiner Gesamtheit entscheiden. Wir gehen noch einen Schritt weiter: auch die Bewahrung der Grundrechte und der rechtsstaatlichen Grundlagen unseres deutschen Staates sind selbst einem Mehrheitsbeschluß entzogen, siehe Grundgesetz! Wir haben insofern bei manchen Punkten der Annäherung, die sich in den Auffassungen auch der Opposition vollzogen hat oder zu vollziehen scheint, doch — wenigstens wir von der Deutschen Partei — noch eine Reihe ganz deutlicher Vorbehalte zu machen, die Ihnen die Ehrlichkeit unseres Wollens vor Augen stellen sollen.
Die Verwirklichung Europas ist durch die Ergebnisse der letzten Brüsseler Tagung einen guten Schritt weitergekommen. Gescheitert ist der Versuch, der im Europarat eine sehr große Rolle gespielt hat, auf dem Wege des Funktionalismus zu einer Vereinigung zu kommen; gescheitert ist die EVG mit ihren Methoden, gescheitert ist auch der Gedanke einer europäischen politischen Gemeinschaft
— über die Saar möchte ich jetzt nicht sprechen; dafür wird, Herr Kollege Mommer, noch viel Gelegenheit gegeben sein —, die alle auf der supranationalen Grundkonzeption aufgebaut haben. Nunmehr hat man doch auf dem Gebiet des gemeinsamen Marktes, der ja nicht nur rein wirtschaftspolitische Vorgänge in sich schließt, den Weg angetreten, eine konkrete Form des europäischen Zusammenschlusses zu versuchen. Allerdings erheben sich auch da bereits wieder die pessimistischen Stimmen, die davor warnen, zu weit zu gehen. Vor allen Dingen werden, wenn die Frage der Institutionen aufkommt, sämtliche Skeptizismen und Schwierigkeiten gesucht, die da nur möglich sind. Es gibt natürlich eine sehr sichere Methode, einen guten Gedanken zu zerstören: indem man zuviel verlangt,
indem man zu schnell vorwärtsgeht. Darüber ist kein Zweifel. Das hat ja die europäische Arbeit in jeder Weise herausgestellt. Was aber der belgische Außenminister, Herr Spaak, zu den Institutionen in seiner grundlegenden Rede ausgeführt hat, in der er die Beschlüsse der Brüsseler Sachverständi-
genkonferenz ankündigte, dürfte genau in der realistischen Mitte des Möglichen liegen. Dabei ist es interessant, daß Herr Spaak gesagt hat: Wir wollen gar nicht darüber rechten, ob diese Befugnisse der Institutionen, die man ins Auge gefaßt hat, supranational oder international sind, sondern wir wollen das den Professoren überlassen, wie sie diese besondere Regelung bezeichnen wollen. Tatsächlich hat auch Herr Spaak bei aller Vorsicht deutlich herausgestellt, daß es im gemeinsamen Markt, der, wie gesagt, nicht nur eine Zollunion ist, sondern sehr viel mehr sein muß, auch Entscheidungsbefugnisse geben muß, die nicht in den internationalen Methoden gefunden werden können. Ich persönlich habe mich schon früher einmal gegen die allzu häufige Verwendung des Wortes supranational gewandt, weil es für Menschen, die sich nicht sehr viel mit den konkreten Fragen beschäftigt haben, den Verzicht auf Souveränitätsrechte in den Vordergrund stellt. In Wirklichkeit hat es solche Behörden, die über der nationalen Ebene auf Grund eines internationalen Vertrags und seiner vertraglichen Bindung entscheiden müssen, von jeher gegeben. Ich erinnere nur an die Donau-Schiffahrts-Kommission oder an die RheinSchiffahrts-Kommission, bei denen ja auch eine überstaatliche Gerichtsbarkeit und Entscheidungsgewalt geschaffen wurden. Auch das Wort der Integration ist, weil es einen irgendwie politisch unklaren Begriff darstellt, so abgegriffen, daß man es kaum noch benutzen kann.
Sehr großen Erfolg dürfte die letzte Brüsseler Tagung und dürften die dort besonders von den Sachverständigen angewandten Methoden dadurch gebracht haben, daß die Probleme des gemeinsamen Marktes und der Energiewirtschaft, auch die sozialpolitischen und wirtschaftspolitischen Voraussetzungen, alle in ihrem richtigen Gewicht herausgestellt worden sind. Meine Fraktion begrüßt diesen Weg und würde es besonders wünschenswert finden, wenn nun auf der parlamentarischen Ebene nicht etwa ein Widerspruch zu den Sachverständigenergebnissen der Brüsseler Konferenz, der Herr Spaak vorsitzt, herausgearbeitet wird.
Interessant ist vor allen Dingen auch der Vorschlag, wie die parlamentarische Kontrolle der Institution des gemeinsamen Marktes aufgebaut werden soll. Ich glaube, daß augenblicklich in den Ergebnissen der Sachverständigenkommission gedanklich und praktisch der höchstmögliche Fortschritt erzielt worden ist, der zu einem europäischen Zusammenschluß führen kann. Ich gebe denjenigen Rednern vollkommen recht, die da sagen: aus der Institution des gemeinsamen Marktes als solchen heraus muß nicht eine Steigerung des Lebensstandards kommen; es wird auch nicht unbedingt ein Fortschritt im Hinblick auf eine politische Einheit der europäischen Völker daraus erzielt werden können. Das beweist unsere eigene Geschichte. Wir haben eine Zollunion gehabt, und diese Zollunion hat nicht unmittelbar zur Einheit des Reiches geführt. Man darf sich damit nicht zufriedengeben. Wenn — und das wird beim gemeinsamen Markt nach Errichtung der vollkommenen Zollunion sehr deutlich zutage treten — sich die Frage einer gemeinsamen Wirtschafts-, Sozial-und Finanzpolitik deutlich stellt, dann ist in der Praxis dieser gemeinsamen Wirtschafts-, Sozial-und Finanzpolitik allerdings wirklich ein integrierender Faktor für die Vollendung einer politischen Gemeinschaft gegeben.
In der Frage des Euratoms, zu dessen Errichtung zunächst eigentlich eine allgemeine Zustimmung in der europäischen Welt bestand, sind gewisse Rückschläge oder eine gewisse Distanzierung von den grundlegenden Ideen zu verzeichnen. Ich habe von seiten meiner Fraktion zunächst einmal zu erklären, daß die Frage des Verzichts oder Nichtverzichts auf die Verwendung der Atomkraft zur Herstellung von Waffen, also zu militärischen Zwekken, keine Frage ist, die das deutsche Interesse noch wesentlich berührt. Diesen Verzicht auf die militärische Verwendung hat Deutschland ja ausgesprochen. Allerdings ergeben sich praktische Schwierigkeiten hinsichtlich einer gerechten Verteilung und der Anwendung der atomaren Kräfte, wenn eine Ungleichheit der Staaten besteht. Hier müssen wir mit einer gewissen Geduld die weiteren Verhandlungen abwarten.
Die zweite Frage, hinter der ja mehr steckt als bloß eine juristische Konstruktion, ist die Frage, ob dieses Euratom Eigentum oder nur Kontrollrecht und Verfügungsgewalt über den Kernbrennstoff haben soll. Ich glaube, es war der Herr Kollege Furler, der in dem Komitee Monnet die Frage etwas geklärt hat, dahingehend, daß der angelsächsische Eigentumsbegriff und der kontinentale Eigentumsbegriff verschieden sind. Die Figur von der res extra commercium stimmt nicht; denn es ist ja keine res extra commercium, sondern eine res, die in das commercium hineingeführt werden soll. Gleichgültig wie die Konstruktion ist, nach unserer Auffassung kommt es auf die Kontrollrechte an, die von einer in diesem Fall allerdings mit überstaatlicher Entscheidungsgewalt ausgerüsteten Behörde ausgeübt werden müssen. Ob man darüber hinaus auch noch eine Konstruktion der Verfügungsrechte machen soll, muß ein näheres Durchdenken des Problems ergeben. Auf keinen Fall aber sind wir gewillt, der von dem Kollegen Kreyssig vertretenen Auffassung zuzustimmen, daß ein privates Eigentum an den Kernbrennstoffen überhaupt nicht möglich sei. Ich glaube, man kann sich hier mit Beschränkung der Verfügungsrechte und mit Kontrollrechten verständigen und zu demselben Ziel kommen, das angestrebt wird.
Ich möchte diese Frage namens meiner Fraktion aber noch nicht in einem festlegenden Sinne abschließen; denn auch da bedarf es noch eines sehr viel tieferen Durchprüfens des Tatbestandes, und wir brauchen hier noch etwas Zeit und ein bißchen mehr Geduld.
Wir sind auch im Rahmen des Euratom für Zusammenarbeit. Aber diese Zusammenarbeit im europäischen Rahmen hat ja nur dann einen Sinn, wenn sie den wirtschaftlichen und technischen Fortschritt nicht hemmt. Es ist durchaus möglich, hier zu einer Lösung zu kommen. Verstehen Sie also unsere Unterschrift unter diesen gemeinsamen Antrag richtig! Das Grundziel, das dieser Antrag auf Drucksache 2229 zu erreichen bestrebt ist, wird von uns bejaht. Deshalb haben wir unsere Unterschrift gegeben. In den technischen Einzelheiten aber möchten wir uns heute noch nicht festlegen, weil uns tatsächlich die gesellschaftspolitische und industrielle Tragweite dieser Bestimmungen noch nicht restlos geklärt zu sein scheint.
Ich wiederhole den Hauptsatz, den wir hier zu sprechen haben: Bezüglich der Anwendung der Atomkräfte müssen die Voraussetzungen des Wettwerbs sicherlich in einem größeren- Rahmen geplant werden. Dieser Wettbewerb muß den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt fördern;
er darf nicht durch eine übermächtige Bürokratie gehemmt werden.
Wir sind uns vor allen Dingen bewußt, daß die Fragen der Einheit Europas, des gemeinsamen Marktes und einer später entstehenden engen politischen Gemeinschaft wesentlich von einer Gemeinsamkeit der Sozialpolitik und der sozialpolitischen Grundvorstellungen abhängen. Hier sind wir nach einem alten konservativen Grundsatz gewillt, mahnend zu sagen: was als sozialer Fortschritt kommt, unabweisbar kommen wird, soll man rechtzeitig, großzügig und mit einem starken Willen gewähren. So sind stabile Regierungssysteme geschaffen worden. Wir werden vom konservativen, also entwicklungsfreudigen Standpunkt aus unser Augenmerk besonders darauf richten, daß als einer der Kernpunkte im Funktionieren des gemeinsamen Marktes die europäischen sozialpolitischen Anliegen gefördert werden. Wir wollen nicht eine Nivellierung der sozialpolitischen Voraussetzungen; denn wir sind als Völker und nationale Einheiten gewachsen, und es gibt auch in den nationalen Wirtschaftsgebieten gewisse Gefälle. Aber gewisse Grundkonzeptionen müssen gemeinsam geschaffen werden. Wir glauben, daß gerade auch diese Hinwendung des europäischen Denkens zum sozialen Fortschritt einer wahrhaft modernen Gesellschaft sehr viel dazu beitragen wird, eine Integration im Geiste und im Willen zu erreichen.
Ich darf abschließend namens meiner Fraktion sagen, daß wir sehr glücklich über diese im Bundestag unternommene Initiative sind und daß wir nach wie vor unbeirrbar festhalten werden an unserer Mitarbeit an der Schaffung eines freiheitlichen Europas. Ich betone das Wort „freiheitlich". Darauf kommt es uns an!