Meine Damen und Herren! Wir haben in den letzten Jahren in Europa so viele Motionen, Resolutionen, europäische Werktags- und Sonntagsreden zu hören bekommen, daß jeder Politiker, der auf seinen guten Ruf achtet, sich vorsieht, nicht in den Fehler zu verfallen, die plätschernde Flut permanenter europäischer Beredsamkeit fortzusetzen. Es gibt immer noch hochgemute Leute, die glauben — wie etwa Herr Spinelli —, man könne durch einen Sturm — wie er sich ausdrückte — „des europäischen Volkes auf die Bastionen der Nationalstaaten" die europäische Sache weitertragen. Ich will Herrn Spinelli nicht korrigieren; aber ich glaube doch, daß es besser ist, das Problem nüchtern zu sehen und erst einmal dafür zu sorgen, daß die europäischen Völker — den s i e gibt es und leider noch kein europäisches Volk — sich für die europäische Sache bereit machen. Gewiß, es gibt auf der anderen Seite auch jene „Realisten" — wie sie sich nennen —, die es immer gegeben hat, wenn etwas Großes und Neues begann, jene „Realisten", die, als das Eisenbahnwesen in Europa sich ausbreiten wollte, ausrechneten, daß das eine Angelegenheit sei, die niemals zu Ende gedeihen könne, jene „Realisten", die dem Plan einer deutschen Zollunion entgegengehalten haben, so etwas lasse sich nicht realisieren. Friedrich List, der im vergangenen Jahrhundert gegen sie das Wort gesprochen hat vom Mautner. vom Zöllner, der der schlimmste Feind der Deutschen sei, hat recht behalten. Wir könnten sein Wort heute auf Europa übertragen und sauen, der Mautner. der Zöllner — nichts gegen unsere braven Zollbeamten selbst! — sei der schlimmste Feind der Europäer.
Wir haben ein Bündel von Drucksachen vorliegen, die heute von diesem Hohen Hause entschieden werden sollen. Zu diesem Bündel, das eine außerordentlich wertvolle Arbeit von Mitgliedern der Beratenden Versammlung des Europarates
darstellt, hat sich die Drucksache 2151 gesellt, die uns, wohl etwas unversehens, in eine kleine außenpolitische und gesamtdeutsche Debatte hineingeleitet hat. Aber da nun einmal diese Drucksache mit dabei war, mußte man ja auch zu ihr Stellung nehmen, und es war nicht zu verwundern, daß der Vertreter der sozialdemokratischen Fraktion seine Interpretation der Billigung der Entschließung 87 der Beratenden Versammlung des Europarates über eine gemeinsame europäische Politik in den künftigen Ost-West-Konferenzen dargelegt hat. Soweit er Gedanken ausgesprochen hat, die gemeinsam sind, will ich nichts wiederholen. Ich werde also im wesentlichen versuchen, zu den Punkten Stellung zu nehmen, die er besonders hervorgehoben hat und in denen ich in der Beurteilung von ihm abweiche. Ich darf darauf hinweisen, daß es sich dabei keineswegs nur um das allgemeine Problem der Ost-West-Beziehungen handelt, und greife den Satz der Entschließung heraus, der sagt:
Die Versammlung ist der Auffassung, daß die Verwirklichung eines vereinigten Europas mehr denn je eine Notwendigkeit ist.
Darum geht es uns auch heute, und zwar gerade mit unseren konkreten und manchmal trockenen und nüchternen Anträgen.
Nun haben wir in den letzten Jahren in der Verwirklichung eines vereinigten Europas mancherlei Enttäuschungen — ich sagte es schon — und Rückschläge erlebt. Der Ausdruck schon: „Verwirklichung eines vereinigten Europas", wird ja von den Mitgliedern der Beratenden Versammlung des Europarats und wird in den einzelnen europäischen Ländern sehr verschieden interpretiert. Das ist nun einmal nicht anders; die Ansichten gehen auseinander, und man muß sich in einer Formel zusammenfinden. Ich will nicht verschweigen, daß meine politischen Freunde in dieser Formel nach wie vor das sehen, was wir immer gesehen haben, nämlich die Herbeiführung einer so engen Vereinigung und Verbindung der europäischen Staaten, daß man eines Tages wirklich von den vereinigten Staaten von Europa sprechen kann.
Man muß das einmal wieder deutlich sagen; denn es ist so gefährlich, unter dem Ausdruck „Vereinigtes Europa" ganz einfach alles verstehen zu können, ja sogar, daß man ein vereinigtes Europa in Wahrheit nicht will. Es gibt in der Tat manche Leute in Europa, die diese Formel im Munde führen und trotzdem das vereinigte Europa nicht wollen.
— Herr Mommer, Ihnen brauche ich das nicht zu erzählen.
Wir haben Rückschläge auf dem Gebiete des Versuches einer militärischen Integration Westeuropas erlebt, aber auch bei dem Versuch, eine politische Gemeinschaft zu bilden. Die derzeitigen Anstrengungen konzentrieren sich nunmehr auf eine wirtschaftliche Integration, wenn dieses Wort auch manchmal lieber nicht gebraucht wird, um Leute, die gegenüber dem Begriff Integration allzu empfindlich geworden sind, nicht abzuschrekken. Wenn wir also das Wort Integration auf das, was in Brüssel beraten und beschlosseen worden ist, auch nicht anwenden wollen, so lassen wir doch keinen Zweifel darüber, daß wir auch hier eine europäische Verbindung erstreben, die so eng wie nur irgend möglich ist.
Wir haben uns in dieser Sache die Aufgaben geteilt. Zu dem Problem „Gemeinsamer Markt und Euratom" wird nachher mein Kollege Professor Furler Stellung nehmen, der ja der Vorsitzende des Politischen Ausschusses der Gemeinsamen Versammlung der Montanunion ist und die Dinge dort eingehend mitberaten hat.
Man begegnet häufig in Europa dem Vorwurf: Ihr Anhänger einer besonders engen europäischen Vereinigung bemüht euch gar nicht um Argumente; für euch ist das Wort Integration selbst ein Argument. Nun, meine Damen und Herren, ich glaube, daß das nicht stimmt, und ich muß der Gegenseite, die diesen Vorwurf gelegentlich erhebt, einen andern Vorwurf machen, nämlich den, daß, wenn man sich gelegentlich gegen die europäische Integration ausspricht, die Gründe für diese Gegnerschaft sehr viel spärlicher ausgebreitet werden, als wir unsere Gründe für die Integration darlegen. In einem Gespräch mit englischen Kollegen haben diese mir jüngst freimütig zugestanden, wenn man etwa von Großbritannien aus gegen den Gemeinsamen Markt Stellung nehme, dann müsse man andererseits zugeben, daß man sich in Großbritannien noch nicht sehr viele Gedanken darüber gemacht habe, warum man eigentlich dagegen Stellung nehme und welches die guten Gründe für diese ablehnende Stellungnahme seien. Ich würde es außerordentlich begrüßen, wenn in der kommenden europäischen Diskussion über den Gemeinsamen Markt derartige Argumentationen nachgeliefert würden.
Für die Notwendigkeit des europäischen Zusammenschlusses heute noch einmal die Gründe zu wiederholen, ist wirklich überflüssig. Aber ich möchte doch betonen, daß seit der Genfer Konferenz, zu der die Entschließung 87 der Beratenden Versammlung des Europarats gefaßt worden ist, wiederum einiges geschehen ist. Ich bin mit Professor Schmid durchaus der Meinung, daß wir hier nicht zu einem in der Vergangenheit liegenden Faktum noch nachträglich unser Ja sagen, sondern daß diese Entschließung nicht überholt ist. Sie gilt weiter, und zwar so, daß wir sie zusammen sehen müssen mit den Ereignissen, die inzwischen stattgefunden haben. Oder bezweifelt jemand in diesem Hause, daß uns die Ereignisse seit Genf keinen Anlaß geben, die Dinge optimistischer zu betrachten, als es in der Resolution 87 geschehen ist, ja daß das Wort, der europäische Zusammenschluß sei notwendiger denn je, heute, in dieser Stunde, noch mehr gilt als damals in den Tagen von Genf?
Wir haben in der Zwischenzeit das Schauspiel des 20. Parteitages der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gesehen. Wir haben große programmatische Erklärungen der Führer der Sowjetunion gehört, darunter vor allen Dingen auch die beiden Versicherungen, daß es zwar die Möglichkeit der friedlichen Koexistenz, wie sie in den vergangenen Monaten immer wieder verkündet worden ist, gebe, daß man aber überzeugt sei, daß sich die Weltrevolution durchsetzen werde und daß es vor allen Dingen keinerlei ideologische Koexistenz gebe, d. h. daß man sich zur Durchsetzung der Weltrevolution des ideologischen und propagandistischen Kampfes bedienen werde. Das läßt
die Mahnung zur europäischen Einigung durch die Repräsentanten der gesamten europäischen öffentlichen Meinung noch bedeutsamer erscheinen als im vergangenen Jahr.
Professor Schmid hat gemeint, diese Entschließung zeige einen Wandel des Denkens in der Beratenden Versammlung des Europarats an; man habe dort mit früheren Dogmen gebrochen, die etwa den Inhalt gehabt hätten, es genüge, Europa zu bauen, um der Probleme Herr zu werden, es genüge, Europa aufzurüsten, um dadurch ein Schwergewicht zu schaffen, dessen Druck die uns quälenden Probleme zur Lösung drängen werde, und dergleichen mehr. Ich glaube nicht, Herr Kollege Schmid, daß Sie mit dieser Interpretation recht haben. Wenn man die Arbeit der Beratenden Versammlung des Europarats in den vergangenen Jahren unvoreingenommen betrachtet, läßt sich selbstverständlich eine Entwicklung feststellen. Aber diese Entwicklung erklärt sich ganz einfach daraus, daß die Zeit vorangeschritten ist und daß sie neue Probleme gestellt hat. In der Grundhaltung stellt die Entschließung eine ganz logische und konsequente Entwicklung des politischen Denkens der öffentlichen Meinung Europas dar. Nach meiner Auffassung hat kein Bruch mit veralteten Dogmen stattgefunden. Deswegen glaube ich auch, Ihre Bemerkungen darüber, daß nunmehr ein realistischerer Geist im Europarat eingekehrt sei und daß man infolgedessen das alte Mißtrauen, das die sozialdemokratische Fraktion dem Europarat gegenüber gezeigt habe, nun nicht mehr zu zeigen brauche, auf meine Weise verstehen zu dürfen. Man hätte vielleicht auch sagen können: Ihr von der CDU und von den anderen Parteien habt seinerzeit stürmisch unseren Eintritt in die Beratende Versammlung des Europarates gefordert, wir waren dagegen; inzwischen haben wir eingesehen, daß wir unrecht hatten.
— Nun ja, Sie müssen mir erlauben, die Dinge von der andern Seite zu sehen. Aber darüber will ich gar nicht mehr lange streiten, sondern ich will Ihnen ganz einfach meine Freude darüber ausdrücken, daß die Bereitschaft zur Zusammenarbeit im Europarat und bei anderen europäischen Unternehmungen nun da ist.
Meine Damen und Herren, ich muß ein Wort zum Problem der Sicherheit sagen und zu all dem, was damit zusammenhängt. Aus den Worten von Professor Carlo Schmid klang so ein wenig heraus, als ob in der wichtigen Resolution 87 eine Änderung der politischen Grundstimmung der Beratenden Versammlung des Europarats zum Problem der Sicherheit herausgelesen werden könnte, eine Änderung — so war es doch wohl gemeint — in Richtung auf die von der sozialdemokratischen Fraktion seit langem vertretene politische Konzeption. Auch das kann ich nicht billigen. Ich glaube nicht, daß die Resolution, so vorsichtig sie in einzelnen Sätzen natürlich gehalten sein mußte, diesen Sinn hat. Sie sagt an einer Stelle ausdrücklich:
Eine gemeinsame versöhnliche, jedoch feste und wachsame Haltung der demokratischen Staaten ist unbedingt erforderlich, um dieses Ziel
— nämlich die Entspannung und die Sicherheit für alle —
zu erreichen. Die Wachsamkeit muß in einer fortdauernden Festigung der europäischen Solidarität zum Ausdruck kommen. Sollte sie dagegen auf Kosten einer gelockerten europäischen Solidarität erreicht werden, so wäre zu befürchten, daß die Entspannung nicht von Bestand ist und zu einer Verschlimmerung der Lage führt.
Meine Damen und Herren, diese europäische Solidarität ist nun aber unteilbar. Es gibt nicht getrennte Solidaritäten, etwa auf wirtschaftlichem oder kulturellem Gebiet, es gibt eben auch — und gerade da — eine Solidarität in all jenen Dingen, die zur Verteidigung Westeuropas gegenüber der großen Bedrohung unserer Zeit erforderlich sind.
Ich will nicht mehr auf die hundertmal wiederholten Argumente und Gegenargumente zu diesem Thema eingehen, weil wir heute eine solche Debatte nicht führen wollen. Selbstverständlich ist es uns um Abrüstung zu tun. Selbstverständlich geht es uns um Entspannung, weil wir ganz genau wissen, daß es ohne das zu einer Einigung nicht kommen wird und daß wir ohne das schließlich auch nicht die Lösung unseres wichtigsten deutschen Problems erreichen werden. Aber es ist ein irreführendes Argument, wenn man glaubt sagen zu müssen, eine Politik, die sich der allgemeinen Tendenz zur Weltabrüstung anschließt, könne nicht zu gleicher Zeit in Erfüllung der Verpflichtungen, die wir in den Pariser Verträgen übernommen haben, dafür eintreten, daß in Deutschland ein Heer aufgestellt wird. Das ist nur ein scheinbarer, bei oberflächlicher Betrachtung sich ergebender Widerspruch.
Nach wie vor besteht ja für uns das Problem, nicht nur uns selbst zu verteidigen, sondern im Rahmen der vertraglichen Verpflichtungen, vor allen Dingen im Rahmen der Westeuropäischen Union und in Verbindung mit der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft, jene Pflicht und Schuldigkeit. die uns als deutschen Politikern obliegt, zu erfüllen und dafür zu sorgen, daß die Freiheit unseres Vaterlandes und Westeuropas nicht bedroht werden kann.
Professor Carlo Schmid sagte. der Osten fühle sich nun einmal bedroht. der Westen natürlich mich. In einem gewissen Sinne ist das richtig, obwohl gerade die Kundgebungen auf. dem 20 Parteikongreß der Kommunistischen Partei der Sowietunion nicht sehr viel von einem Gefühl des Bedrobtseins gezeigt haben. Das Problem der allgemeinen Abrüstung und der damit in Zusammenhang stehenden Entspannung muß verfolgt werden. Aber glaubt jemand in diesem Hanse. daß trotz gewisser Erfolge. die sich anbahnen könnten, dieses Problem so bald und in so kurzer Zeit gelöst werden könnte. daß Westeuropa es sich leisten könnte, schutz- und schildlos zu bleiben? Das wäre ein furchtbarer. ein lebensgefährlicher Irrtum.
Herr Kollege Schmid. es ist eine Vermutung von Ihnen, die. glaube ich. durch keinerlei Fakten gectiitzt wird. daß. wenn es zu einem Abrüstungsübereinkommen käme, notwendig die Zahl der der Bundesrepublik zugestandenen Truppen verringert werden müßte.
— Bitte!