Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als die Beratende Versammlung des Europarates am 26. Oktober des letzten Jahres ihre Entschließung 87 über eine gemeinsame europäische Politik in den künftigen Ost-West-Konferenzen faßte, stand die Genfer Außenministerkonferenz vor der Tür. Der Geist von Genf wehte durch die Staatskanzleien. Die Großen der Welt lächelten sich an. Die Menschheit faßte neue Hoffnung. Diese Konferenz hat nicht die Ergebnisse gezeitigt, die man von ihr erhofft hatte. Die Völker sind enttäuscht worden. Die großen Mächte vermochten sich nicht über die Bereinigung der Differenzen zu verständigen, die sie in so verhängnisvoller Weise trennen und sie im Kalten Krieg verharren lassen. Manch einer könnte darum denken, die in der Entschließung 87 der Beratenden Versammlung ausgesprochenen Grundsätze seien damit gegenstandslos geworden und verdienten nur, in den Papierkorb der Weltgeschichte geworfen zu werden. Dem ist aber nicht so. Die Erklärung 87 enthält ein ganzes politisches Programm, das über die jeweiligen Wechselfälle der Zeit hinaus Gültigkeit behält, bis es endlich einmal zum Friedensschluß im Kalten Krieg gekommen sein wird. Man könnte vielleicht sagen, daß es zum mindesten einige der wichtigsten Voraussetzungen einer jeden möglichen Friedenspolitik in einer Welt, die wie die unsere in zwei Blöcke aufgeteilt ist, aufstellt. In dieser Erklärung hat die Beratende Versammlung — und ich möchte betonen, daß ihr das zur Ehre gereicht — mit einer Reihe von Dogmen gebrochen, die jahrelang die Grundlage der politischen Äußerungen der Mehrheit der Beratenden Versammlung gewesen waren, als da sind der Glaube, es genüge, Europa selbst zu einer Militärmacht zu machen, um die Welt dem Frieden näherzubringen; die Vorstellung, ein engerer Zusammenschluß der europäischen Staaten einschließlich der Bundesrepublik werde mit Sicherheit durch sein bloßes Schwergewicht die Wiedervereinigung Deutschlands im Gefolge haben; die Meinung, mit der Herstellung eines besseren, eines guten Verhältnisses zwischen Deutschland und Frankreich seien die entscheidenden und letzten Hürden genommen. Ja, es fanden sich gelegentlich Stimmen, die in Straßburg uns Deutschen vorwarfen, wir seien schlechte Europäer, weil wir die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes zum obersten Ziel unserer Politik machen wollten.
Das ist nun anders geworden. Man begnügt sich jetzt in Straßburg nicht mehr mit europäischer Euphorie, man nimmt die Probleme mehr als bisher als Funktion der Fakten, man durchdenkt sie besser und nähert sich so bestimmten Vorstellungen an, von denen man früher sagte, daß sie nur verneinende Kritik enthielten. Es ist in Straßburg klargeworden — und das ist gut so —, daß das Wort, das Cavour einmal in die Geburtswehen Italiens hineinrief: „Italia farà da se — Italien wird sich selber schaffen", für Europa nicht gelten kann. Man hat erkannt, daß Europa nicht aus sich selbst heraus und durch sich allein gemacht werden kann, sondern daß es nur im Zusammenhang mit einer von allen Beteiligten anerkannten Neuordnung der Welt entstehen kann, wenn es sich nicht darauf beschränken will, eines der Heerlager im Kalten Kriege zu sein und zu bleiben — und wenn es das wollte, so wäre das ein schlimmer Entschluß. Man hat erkannt, daß eine Politik der Verschärfung der Gegensätze, der Versteifung der Positionen nicht zur Verständigung der Gegner im Kalten Weltkrieg führen kann, sondern daß nur eine Politik der Entspannung dies zu leisten vermag. Entspannung läßt sich aber nicht nur durch bloße verbale Versicherungen herbeiführen; sie ist wie jede Wendung im Bereich des Politischen nur möglich auf Grund eines Wandels der Tatsachen oder auf Grund eines Wandels in der Bewertung von Tatsachen. Diese Tatsachen müssen geschaffen werden, sie bilden sich nicht von selbst.
Die Spannungen, unter denen die Welt so bitter leidet, die ihr so teuer zu stehen kommen, sind die Folge des Mißtrauens des einen gegen den andern. Mißtrauen entsteht, wenn Staaten sich bedroht fühlen oder wenn Nationen glauben, daß man ihnen die Verwirklichung ihres Lebensinteresses unmöglich machen will. In diesem Zustand versuchen die Staaten, sich im Wettrüsten zu übertrumpfen, oder sie verschließen sich in ihrem Groll, und beides ist schlecht. Es entsteht ein Circulus vitiosus: dieses Mißtrauen erzeugt Wettrüsten, und das Wettrüsten verstärkt das Mißtrauen, und so geht es weiter.
Darum meine ich, daß die Resolution 87 recht hat, wenn sie feststellt, daß eine Politik der Entspannung wirksam nur parallel mit einer Politik der Abrüstung geführt werden könne. Entspannung und Abrüstung bedingen sich gegenseitig. Ich habe manchmal den Eindruck, daß man bei uns in Deutschland nicht genügend orientiert ist über alles, was schon im Bereich der Vereinten Nationen geschehen ist, um einer Lösung des Problems der Abrüstung näherzukommen. Der Unterausschuß, den die Vereinten Nationen eingesetzt haben, hat wirksame Arbeit geleistet. Es sind dort nicht nur unvereinbare Standpunkte einander konfrontiert worden, sondern auf manchen Gebieten des Problems ist man sich tatsächlich von beiden Seiten nähergekommen und hat man sich sogar partiell zu einigen vermocht, wenngleich auf wichtigen Gebieten dieses Problems die Einigung noch aussteht. Hier hat ein Vorschlag der britischen und der französischen Regierung einen besonderen Beitrag geleistet, und mir scheint es richtig und gerecht zu sein, daß die Resolution, von der ich spreche, diesen Regierungen einen besonderen Dank ausspricht. Man sollte hier noch einen Namen nennen, den Namen des Mannes, der für die französische Regierung in dieser Kommission die Verhandlungen führt und von dem wohl die meisten schöpfe-
rischen Gedanken gekommen sind, die einen Kompromiß wenigstens als möglich erscheinen lassen, den Namen Jules Moch, und man sollte diesem Manne danken.
Der Herr Bundeskanzler hat im Zusammenhang mit dem Abrüstungsproblem von der Westeuropäischen Union gesprochen und sie als eine Art Modell für eine mögliche allgemeine Rüstungsbeschränkung dargestellt. Ich weiß nicht, ob man ihm bei dieser Beurteilung unbedingt folgen muß. Ich habe Zweifel, ob wir heute in Deutschland auf dem rechten Wege sind, wenn wir jetzt, wo die Abrüstungsverhandlungen in eine entscheidende Phase treten, daran gehen, eine Bundeswehr aufzustellen, deren Mannschaftsbestand weit über das hinausgehen soll, was uns im Falle eines Abrüstungsabkommens im höchsten Falle zugestanden werden würde.
Versäumen wir denn wirklich so viel, wenn wir warten? Glaubt man, daß die paar deutschen Divisionen, die wir in den nächsten Jahren aufstellen können, wirklich etwas zu unserem und anderer Schutz beitragen können, zu einer Zeit, da zahlreiche Streitkräfte der NATO offenbar dafür verwendet werden sollen, den Einfluß des weißen Mannes im südlichen Teil des Mittelmeerbeckens aufrechtzuerhalten?
Ich glaube es nicht. Ich glaube aber, daß wir durch unser Verhalten der Sowjetunion Vorwände liefern, ohne die sie es auf der Abrüstungskonferenz und in den Verhandlungen des Unterausschusses der UNO erheblich schwerer hätte, sich den französisch-britischen Vorschlägen zu widersetzen. Ich meine auch nicht, daß der hauptsächliche Zweck der Schaffung der Westeuropäischen Union gewesen sei, Rüstungsbeschränkungen einzuführen, sondern der hauptsächliche Zweck war doch der, den bisherigen Rüstungen in Europa noch deutsche Rüstungen hinzuzufügen,
Rüstungen, die allerdings quantitativ und qualitativ beschränkt sein sollen. Aber Abrüstung war weiß Gott nicht der primäre Zweck der WEU!
Die Entschließung der Beratenden Versammlung stellt fest, daß sich die Sicherheit Europas, der Welt nicht auf der Grundlage der Teilung Europas verwirklichen lasse. Damit ist nichts anderes gesagt, als daß die Wiedervereinigung Deutschlands ein unverzichtbarer Faktor einer jeden Sicherheitspolitik sein muß.
Hier möchte ich eine Warnung aussprechen. Manche glauben, daß man mit einer konkreten Wiedervereinigungspolitik erst dann beginnen könne, wenn die Abrüstungspolitik schon zum Erfolg geführt habe. Das ist nicht richtig und wäre verhängnisvoll.
Beide Ziele müssen gleichzeitig und gemeinsam angegangen werden.
Bei der Komplexität der politischen Verhältnisse, wie sie unsere Welt heute aufweist, kann man Politik gar nicht anders treiben, als daß man auf verschiedenen Ebenen verhandelt, um dann schließlich in Parallelverhandlungen zu einer Einigung über
ein Ganzes zu kommen. Manche Erklärungen einiger französischer und auch britischer Staatsmänner, die in letzter Zeit gefallen sind, haben mich mit Sorge erfüllt. Man kann der Welt nicht laut genug zurufen: In diesen Dingen gibt es kein Nacheinander, sondern nur ein Miteinander und Nebeneinander!
Wenn die Resolution in diesem Zusammenhang von Festigkeit und Wachsamkeit spricht, so ist das zu begrüßen. Doch darf man unter Festigkeit nicht Phantasielosigkeit verstehen; man sollte darunter den Willen verstehen, sein politisches Vermögen zu immer neuen Initiativen einzusetzen. Die Wachsamkeit darf nicht die des Kettenhundes sein, sondern sollte eher der des Geburtshelfers gleichen, der sich bereit hält, dem Neuen, das entstehen will, die nötigen Hilfen zu geben.
Wir begrüßen es auch, wenn in der Resolution davon gesprochen wird, daß die europäische Solidarität nicht gelockert werden soll. Ja, wir möchten, daß sie immer mehr verstärkt werde. Aber Erhaltung und Verstärkung der europäischen Solidarität schließen doch nicht aus, daß bestehende politische Vertragssysteme durch bessere ersetzt werden, wenn sie uns eher dem Ziele zuführen können, das doch unser aller gemeinsames Ziel ist.
Wenn wir von Solidarität sprechen, sollten wir eines nicht vergessen: Demokratie verpflichtet zu Solidarität über die Grenzen hinweg. Man hat — die Herren Berichterstatter haben es getan — von den „unterentwickelten Gebieten" in Europa gesprochen. Ich mag dieses Wort „unterentwickelte Gebiete" nicht; denn im Verhältnis zu diesen Gebieten, die wir heute die „unterentwickelten" nennen, sind wir vor Jahrhunderten die „Unterentwickelten" gewesen, und wir sollten doch auch nicht vergessen, daß in diesen Gebieten die Wiege unserer europäischen Kultur gestanden hat!
Ich meine, daß es zu den Postulaten der demokratischen Solidarität in Europa gehören sollte, daß wir von uns aus alles tun, um den Völkern, die bei der ersten industriellen Revolution schlechter weggekommen sind als wir, zu helfen, sich selber weiterhelfen zu können.
Opfer, die wir hier bringen, werden reiche Früchte tragen. Warum sollte es denn nicht einen innereuropäischen Marshallplan geben können, und warum sollte dabei nicht ein Land — die Bundesrepublik— die Initiative ergreifen können? Niemand wird ihr das dahin auslegen, als wolle sie dabei eine großmannssüchtige Rolle spielen und sich als den Besten der guten Europäer hinstellen. Man wird vielleicht sogar begreifen, daß gerade wir Deutschen eine besondere Verpflichtung empfinden, in Europa anderen Europäern zu helfen, gerade wir Deutschen, in deren Namen so manchem europäischen Lande Böses angetan worden ist.
Man sollte das Problem der Hilfe für diese Gebiete nicht so sehr als ein nur ökonomisches Problem betrachten, wir sollten darin eine der großen Aufgaben und Verpflichtungen gerade des Europäertums in uns sehen. Ich werte als eine der wichtigsten Feststellungen der Resolution den Satz, daß kein Abkommen mit der Sowjetunion getroffen werden dürfe, das die Wiedervereinigung Deutsch-
lands nicht einbeschließt, also daß es keine Einigung der Großen auf der Grundlage des Status quo in Deutschland geben dürfe.
Konsequenterweise wird weiter festgestellt, daß die Wiedervereinigungspolitik und die Sicherheitspolitik parallel nebeneinander geführt werden müßten und daß dabei die Fortschritte in der Abrüstungspolitik ein wichtiger Beweger dieser gesamten Politik werden könnten.
In der Tat — ohne ein Sicherheitsabkommen wird es keine Wiedervereinigung geben, ohne Wiedervereinigung wird es an der wichtigsten Voraussetzung für das Zustandekommen eines allgemeinen Sicherheitsabkommens fehlen, und ohne Abrüstung kann kein Sicherheitssystem wirksam funktionieren.
Wenn man ernsthaft von Sicherheit spricht, sollte man nur Vorhaben ins Auge fassen, die dem Westen wie dem Osten die gleichen Sicherheitschancen geben. Hierzu ein allgemeines Wort. Es hat keinen Sinn, darüber zu streiten, ob sich der Osten zu Recht oder zu Unrecht bedroht fühlt. Entscheidend ist, daß er sich offenbar bedroht fühlt und sich entsprechend einrichtet. Das gleiche gilt natürlich auch für den Westen. Es ist schade, aber es ist so, daß in diesen Bereichen der Politik die Subjektivität vor der objektiven Situation den Vorrang hat. Man muß dem Rechnung tragen. Der Westen wird nicht zulassen, daß ein wiedervereinigtes Deutschland Teil eines sowjetischen Machtblockes wird, und die Sowjetunion wird nicht zulassen, daß ein wiedervereinigtes Deutschland Teil eines atlantischen Machtblockes wird, den sie als gegen sich gerichtet betrachtet.
Die Lösung kann nicht die Neutralisierung Deutschlands sein, sondern die Lösung kann nur die Schaffung eines Sicherheitssystems sein, das allen Beteiligten Sicherheit gibt und jedem Partner dieses Vertragssystems die Funktionen zuordnet, die er bei der Aufrechterhaltung der eigenen Sicherheit und der Sicherheit der anderen auszuüben hat. Dabei können diese Funktionen durchaus verschieden sein. Sie brauchen weder qualitativ noch quantitativ gleichartig zu sein.
Die Resolution spricht davon, daß ein wiedervereinigtes Deutschland die gleichen Rechte haben müsse wie alle anderen Staaten und daß kein Zwang bestehen dürfe, irgendwelchen Militärbündnissen beizutreten. Aber, meine Damen und Herren, es ist doch — leider, sage ich — sehr unwahrscheinlich, daß irgendeine Macht, die die Wiedervereinigung Deutschlands verhindern könnte, der Wiedervereinigung zustimmt, solange nicht wenigstens eine vage Einigung über den militärischen Status eines wiedervereinigten Deutschlands erfolgt ist! Auch das bedingt die Parallelität von Sicherheits- und Wiedervereinigungspolitik. Denn was notwendig ist, kann nur auf den drei Ebenen ausgemacht werden, von denen ich gesprochen habe.
Die Resolution spricht noch weiter von der besonderen Rolle, die die Großmächte bei dieser Politik spielen sollen. Die Großmächte sollen die Grundlinien dieser Politik feststellen. Ich glaube, daß es richtig ist, das auszusprechen. Denn in der Tat, seit es ein rationales politisches System in der Welt gibt, hat es immer besondere Funktionen gegeben, die nur von Staaten ausgeübt werden konnten, die entsprechende Machtmittel zur Verfügung hatten — das sind die Großmächte —, dieanderen Staaten hatten Geschichte mehr oder weniger zu erleiden. Aber die Resolution fährt fort, daß bei der endgültigen Einigung die Zustimmung aller Beteiligten herbeizuführen sei.
Man sollte nicht glauben, die Resolution meine, daß den Nicht-Großmächten nichts anderes übrigbleibe als passives Verhalten. Die Nicht-Großmächte können in diesem Prozeß durchaus etwas tun. Sie können dabei eine sehr wichtige Rolle spielen. Sie können nämlich durch die ihnen mögliche Politik, die Politik der Großmächte in Bewegung und in die richtige Richtung bringen. Diese Aufgabe und Möglichkeit sollte man in der Bundesrepublik nicht übersehen. Die Bundesregierung, die Bundesrepublik hat die Möglichkeit, auf die Politik der Großmächte Einfluß zu nehmen; sie kann ihre Richtung zum mindesten mit bestimmen.
Diese Sätze sind der wesentliche Inhalt der Resolution, der zuzustimmen wir Sie bitten. Diese Resolution ist geboren aus der Erkenntnis, daß es im Feld der großen Politik im Grunde keine Einzelprobleme gibt, die für sich allein und aus sich allein heraus gelöst werden könnten, sondern daß alle diese Dinge im Verhältnis kommunizierender Röhren zueinander stehen und daß alle „Spaltungen" in der Welt, die Spaltung Deutschlands, Koreas, Indochinas und anderswo nichts anderes sind als Erscheinungsformen des Kalten Krieges; daß die Positionen, die die Mächte darin einnehmen, strategische Positionen sind und daß keine Macht eine strategische Position räumt, solange dieser Kalte Krieg dauert. Deswegen ist das primäre aller Ziele, ohne dessen Erreichung wahrscheinlich keines dieser brennenden Probleme wird voll gelöst werden können, der Friedensschluß im Kalten Krieg.
Das setzt voraus, daß man zunächst einmal feststellt, was sich denn in der Welt seit einem Jahrzehnt geändert hat, und es setzt voraus, daß man den Mut hat, die Völker zu befragen, welche Inhalte und welche Formen sie ihrer nationalen Existenz geben wollen, mit anderen Worten, daß man den Völkern freie Wahlen gestattet.
Dafür muß eine allgemein anerkannte Ordnung gefunden werden, und diese Ordnung muß gesichert werden durch ein System kollektiver Sicherheit, das ohne Abrüstung nicht funktionieren kann; ich habe schon ausgeführt, warum. Hier kann man ernsthaft nur verhandeln, wenn man bereit ist, in die Verhandlung gerade die Dinge hineinzunehmen, die den Konflikt schaffen und die Trennung herbeiführen. Es hat keinen Sinn, zu verhandeln, wenn man gerade das, was den Konflikt aufrechterhält, aus den Verhandlungen heraushält.
Eines soll hier in aller Deutlichkeit ausgesprochen werden: Die Schaffung der Voraussetzungen für die Wiedervereinigung Deutschlands ist nicht die Sache der Regierungen in Bonn und in der sowjetischen Zone, sondern ist Sache der Mächte, die die Spaltung Deutschlands verursacht haben und aufrechterhalten. Aus dieser Verantwortung können sie sich nicht selber entlassen, auch nicht dadurch, daß sie Souveränitäten verleihen, mit denen die Völker nichts zu tun haben.
Was die Abrüstung so schwierig macht, ist der Umstand, daß der Mensch neue Energiequellen erschlossen hat, Energiequellen, die er zu Waffen
umzubilden vermag. Deswegen ist es richtig und zu begrüßen, daß die Beratende Versammlung des Europarates in ihrer Entschließung 89 sich zu dem Problem der Organisation der Herstellung atomarer Energie geäußert hat. In dieser Resolution wird auch die Schaffung eines gemeinsamen Marktes empfohlen. Darin ist der Erkenntnis Ausdruck gegeben, daß eine optimale Ausweitung der europäischen Wirtschaft nur möglich ist durch ein gemeinsames Vorgehen auf dem neuen Gebiet, das allen Staaten die Möglichkeit gibt, die atomare Energie für industrielle Bestrebungen zu nutzen. Außerdem empfiehlt diese Resolution die Errichtung einer europäischen Energiekommission und bezeichnet deren Errichtung als dringlich.
Auf der Grundlage dieser Resolution haben sich im Januar dieses Jahres politisch verantwortliche Männer aus einer Reihe europäischer Länder versammelt. Sie haben auf die Initiative Jean Monnets hin das Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa gebildet, und sie haben am 18. Januar dieses Jahres einstimmig eine Resolution beschlossen. Fünf Fraktionen dieses Hauses empfehlen Ihnen, meine Damen und Herren, dieser Resolution durch Ihren Beschluß Ihre Zustimmung zu geben und die Bundesregierung zu ersuchen, entsprechend zu handeln.
Diese Resolution will ein Aktionsprogramm für die Staaten Europas schaffen, damit Europa in der zweiten industriellen Revolution, die nunmehr über unseren Kontinent kommt, nicht verliert, damit es nicht industrieller Hinterwald wird, damit nicht ein sinnloser Wettbewerb zu bösen Fehlleistungen führt, damit keine neuen Gründerjahre mit allen politischen, ökonomischen und sozialen Schäden entstehen, die in solchen wildwuchernden Gründerjahren aufzutreten pflegen.
Der wesentliche Inhalt dieser Resolution ist: Es sollen Anlagen zur Erzeugung atomarer Energie nur geschaffen werden, um atomare Energie ausschließlich für friedliche Zwecke und in keinem Falle für kriegerische Zwecke auszunutzen.
Damit ist freilich der territoriale Anwendungsraum beschränkt. Es gibt in Europa Staaten, die nicht bereit sind, darauf zu verzichten, Atomwaffen herzustellen. Diese Staaten werden nicht ordentliche Mitglieder der zu schaffenden Euratom-Organisation werden können.
Jüngst hat es in Brüssel auf einer anderen Konferenz Meinungsverschiedenheiten gegeben, so daß es dort nicht zu einer einstimmigen Annahme der Pariser Resolution gekommen ist. Es wurde geltend gemacht, der Verzicht auf militärische Verwendung der atomaren Energie bedeute eine Art von Entmannung Europas. Ich glaube nicht, daß das der Fall ist. Ich glaube, daß der Verzicht auf militärische Ausnutzung der atomaren Energie einen wesentlichen Beitrag für die Entspannung der politischen Atmosphäre in der Welt leisten wird!
Ich bin der Meinung, daß dieser Verzicht ein sehr wirksames Mittel wäre, um etwas von dem Mißtrauen abzubauen, das alle Dinge auf dieser Welt vergiftet. Und ich glaube an den Nutzen eines Bekenntnisses, daß nicht alles, was für den Krieg tauglich ist, auch für den Krieg bereitgestellt werden muß! Wenn Europa selber atomare Waffen herstellt, wird die eine oder die andere der
sagen wir — „ursprünglichen" Atommächte darin vielleicht eine Bedrohung des bisherigen Gleichgewichts fürchten. Wer weiß, welche Maßnahmen sie dann treffen wird! Ich glaube, daß es von entscheidender Bedeutung für die politische Entspannung ist, daß gerade wir Europäer erklären, die atomare Energie ausschließlich für friedliche Zwecke nutzen zu wollen.
Die Resolution sieht weiter vor, daß eine Europäische Kommission für die Atomenergie errichtet werden soll, eine Kommission, die nicht nur ein Koordinationsorgan sein soll, sondern eigene Befugnisse haben und sich auf ein gemeinsames Mandat stützen können soll. Der Grund für die Errichtung dieser Kommission liegt nicht etwa in einer Art von dirigistischem Fanatismus der Urheber der Resolution von Paris. Der Grund ist ein anderer. Man will eine solche Kommission schaffen, weil die Erfahrung böser Jahrzehnte gezeigt hat, daß im Bereich lebenswichtiger Schlüsselindustrien mit Monopolcharakter eine wirksame Kontrolle nur durch Übertragung der Verfügungsgewalt auf parlamentarisch kontrollierte Organe möglich ist. Das ist der entscheidende Sinn des Verlangens, die Kommission zu errichten.
Zum Zwecke der Kontrolle soll diese Kommission alle Kernbrennstoffe in den Gebieten, die unter die Zuständigkeit der Vertragspartner fallen, erwerben können. Unter die Zuständigkeit der Vertragspartner fallen auch ihre Kolonien und ihre überseeischen Mandatsgebiete. Die Kommission soll das Eigentum an diesen Kernbrennstoffen auf jeder Stufe der Verantwortung behalten, und sie soll sie an die Verbraucher ohne irgendwelchen Unterschied verteilen. Außerdem soll sie das Recht haben, die Lizenz für die Errichtung von Anlagen zur Erzeugung atomarer Energie zu vergeben.
Das dritte Anliegen der Resolution ist, daß eine echte parlamentarische Kontrolle errichtet werden soll, eine internationale parlamentarische Kontrolle, ausgeübt durch eine Gemeinsame Versammlung, die echte parlamentarische Kompetenzen haben soll. Neben ihr soll ein Ministerrat und neben diesem ein Beratender Ausschuß stehen.
Diese neue Gemeinschaft will sich nicht abschließen, sie will die Tür für jeden offenhalten, der sich ihr anschließen will. Staaten, die, weil sie atomare Energie auch für militärische Zwecke gebrauchen wollen — die also deswegen nicht ordentliche Mitglieder werden können —, sollen die Möglichkeit haben, sich der neuen Gemeinschaft zu assoziieren.
Weiter soll diese Kommission alleiniger Vertragspartner sein, wenn mit dritten Ländern Verträge über den Erwerb von Kernbrennstoffen abgeschlossen werden sollen. Das bedeutet — und das muß man sich ganz klarmachen —, daß kein Staat und keine nationale Industriegruppe mehr Kernbrennstoffe für sich allein wird erwerben können.
Man sollte den Text der Resolution ernst nehmen. Man sollte die Worte so nehmen, wie sie gemeint sind, und sollte nicht meinen, sie interpretieren zu müssen. Es ist ganz offensichtlich so, daß die Urheber der Erklärung wollten, daß die Kommission ein Monopol auf Bestimmung der Verfügungsrechte über die Kernbrennstoffe haben soll. Man hat geglaubt, daß damit ein gefährlicher Einbruch in das Prinzip des Privateigentums erfolge. Ich glaube, daß man so ein Scheinproblem
aufstellt. Herr René Mayer, der Präsident der Hohen Behörde der Montanunion, hat in seiner Rede vom 16. März dieses Jahres sich ähnlich geäußert. Es hat doch noch immer in der Rechtsgeschichte Dinge gegeben, die nicht in den allgemeinen Verkehr gegeben wurden, die res extra commercium. Warum sollte dann nicht eine so gefährliche Materie, wie es die Kernbrennstoffe sind, zu einer Sache erklärt werden, die nicht dem allgemeinen Warenverkehr zur Verfügung steht, sondern nur unter Kontrolle dafür zuständiger Organe verwandt und weitergegeben werden kann?
Fünf Fraktionen des Hauses ersuchen die Bundesregierung, mit den in Frage kommenden Regierungen Verhandlungen auf der Grundlage der Erklärung des Aktionskomitees für die Vereinigten Staaten von Europa vom 18. Januar 1956 zu führen und dafür zu sorgen, daß die Voraussetzungen geschaffen werden, daß möglichst viele europäische Staaten unter Annahme dieser Prinzipien sich zu der Gemeinschaft „Euratom" zusammenschließen.
Gleichzeitig ist in dieser Resolution der Wunsch ausgesprochen, daß ein europäischer Markt gebildet werden solle. Hier möchte ich warnend sagen: die Schaffung des Gemeinsamen Marktes soll nicht die Voraussetzung für die Einrichtung von „Euratom" sein. „Euratom" soll nach der Resolution, die die Grundlage unserer Anträge ist, auf jeden Fall geschaffen werden. Hoffen wir, daß es dann den Gemeinsamen Markt nach sich ziehen wird.
Es wurde davon gesprochen, daß heute eine entscheidende Sitzung unseres Parlaments stattfinde; es wurde darauf hingewiesen, daß die Europaflagge aufgezogen worden ist. Ich möchte das als ein Sinnbild dafür deuten, daß wir uns klar darüber sind, daß Europa nur in unseren Parlamenten geschaffen werden kann, geschaffen auf der Grundlage frei gefaßter Entscheidungen der frei gewählten Vertretungen der freien Nationen dieses Kontinents.
Wir Sozialdemokraten sind zu Beginn dem Europarat mißtrauisch gegenübergetreten. Es hat uns nicht gefallen, daß man mit uns zusammen offenbar das Saargebiet als selbständigen Staat in die Völkergemeinschaft einschmuggeln wollte. Es hat uns auch nicht gefallen, daß man zu allererst von militärischen Dingen gesprochen hat, als wir nach Straßburg gehen sollten. Aber es hat sich in Straßburg einiges geändert. Es herrscht dort heute ein realistischerer Geist, ein offenerer Geist als in dem Jahre, da man uns aufgefordert hat, dem Europarat beizutreten. Mit vielem, das in den letzten Jahren geschaffen wurde, ist man aus dem Bereich der Illusionen und der Dogmen herausgetreten, ist man auch herausgetreten aus dem Bereich der Deklamationen.
Mit der Annahme der Resolutionen, die uns vorgelegt worden sind, verlassen wir das bloße Projekteschmieden und machen wir uns ans Bauen, ans Bauen nicht mit Stoffen, die uns in den Händen zerrinnen könnten, nein, diesmal mit Stoffen, die fest genug sind, das Fundament für Europa zu mauern. Und hier sollten wir alle zufassen!