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ID0211501600

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    2. Deutscher Bundestag — 115. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1955 6155 115. Sitzung Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1955. Geschäftliche Mitteilungen 6155 C Vorlage des Berichts des Bundesministers der Finanzen über Maßnahmen der Bundesregierung betr. Städtebaulicher Ideenwettbewerb „Hauptstadt Berlin" und Architektenwettbewerb „Wiederherstellung Reichstagsgebäude" (Drucksache 1907) 6155 C Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung vom 1. Dezember 1955 betr. Genfer Außenministerkonferenz, europäische Sicherheit, Wiedervereinigung Deutschlands, Ost-West-Kontakte (Entschließungsanträge Drucksachen 1898, 1909) in Verbindung mit der Beratung des Antrags der Fraktion der SPD betr. Genfer Außenministerkonferenz der Vier Mächte (Drucksache 1723) 6155 C Ollenhauer (SPD) . 6155 C Dr. Adenauer, Bundeskanzler . . 6162 C Kiesinger (CDU/CSU) . . . 6163 B, 6166 B Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) 6165 D, 6166 B Dr. Becker (Hersfeld) (FDP) . . . . 6172 A Dr. Gille (GB/BHE) . 6178 D Dr. von Brentano, Bundesminister des Auswärtigen 6185 A Kraft, Bundesminister für besondere Aufgaben . 6185 C Dr. Brühler (DP) 6185 D Dr. Lenz (Godesberg) (CDU/CSU) (zur Geschäftsordnung) . 6187 D Abstimmungen 6188 A Nächste Sitzung 6188 C Anlage: Liste der beurlaubten Abgeordneten 6188 Die Sitzung wird um 9 Uhr durch den Vizepräsidenten Dr. Jaeger eröffnet.
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    Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete beurlaubt bis einschließlich Dr. Kopf 31. 3. 1956 Mensing 1. 3. 1956 Dr. Starke 28. 2. 1956 Jahn (Frankfurt) 9. 1. 1956 Moll 1. 1. 1956 Peters 1. 1. 1956 Neumann 31. 12. 1955 Dr. Dr. h. c. Müller (Bonn) 17. 12. 1955 Dr. Luchtenberg 16. 12. 1955 Dr. Reichstein 16. 12. 1955 Dr. Graf (München) 15. 12. 1955 Schröter (Wilmersdorf) 15. 12. 1955 Frau Rudoll 14. 12. 1955 Eberhard 10. 12. 1955 Stahl 9. 12. 1955 Leukert 5. 12. 1955 Frau Albertz 2. 12. 1955 Dr. Baade 2. 12. 1955 Bauknecht 2. 12. 1955 Bazille 2. 12. 1955 Diekmann 2. 12. 1955 Even 2. 12. 1955 Hansen (Köln) 2. 12. 1955 Dr. Horlacher 2. 12. 1955 Frau Hütter 2. 12. 1955 Jacobi 2. 12. 1955 Dr. Keller 2. 12. 1955 Kramel 2. 12. 1955 Kriedemann 2. 12. 1955 Dr. Maier (Stuttgart) 2. 12. 1955 Menke 2. 12. 1955 Dr. Mocker 2. 12. 1955 Dr. Mommer 2. 12. 1955 Neuburger 2. 12. 1955 Frau Pitz 2. 12. 1955 Dr. Pohle (Düsseldorf) 2. 12. 1955 Rasner 2. 12. 1955 Struve 2. 12. 1955 Wagner (Ludwigshafen) 2. 12. 1955 Dr. Wahl 2. 12. 1955 Welke 2. 12. 1955
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    Rede von Dr. Max Becker


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bekam gestern morgen aus Hessen eine Karte mit der Bitte, zu prüfen, ob es nicht möglich wäre, zu verhindern, daß diese Sitzung durch den Rundfunk übertragen wird; denn es mache doch einen sehr schlechten Eindruck, wenn hier die Parteien sich in solchen Lebensfragen unserer Politik miteinander stritten. Diese Karte hat mich in meiner Absicht bestärkt, einmal alles das hervorzuheben, in Leitsätze zusammenzustellen, was uns in diesen Fragen einigt. Ich möchte zu diesem Zweck einmal alles das, was sich an innerpolitischen Streitigkeiten, an Parteidifferenzen, an taktischen oder aus Intrigen geborenen Vorgängen ereignet hat, völlig beiseite schieben und nur über diese Lebensfragen unserer Nation sprechen, in dem Bestreben, eine Grundlage für eine einige, geschlossene Auffassung herbeizuführen.
    Ich beginne mit der Saar. Nachdem die Deutschen an der Saar den Mut gehabt haben, zum Saarstatut nein zu sagen, sagte mir einer der älteren dortigen Politiker: Was wäre aus uns, die wir für ein Nein gekämpft haben, geworden, wenn wir in der Minderheit und die bisherige separatistische Regierung am Ruder geblieben wäre?

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    An diese Worte sollten wir in Deutschland denken. Wir machen uns oft viel zu wenig klar, welcher Mut von den Vorkämpfern an der Saar aufgebracht worden ist. Wir sollten diesen Mut als Ansporn für uns und im Gedenken an Berlin und die Sowjetzone in dem Sinne werten, daß ein jeder echte Demokrat da, wo es not tut, einen solchen Mut betätigen sollte; denn ohne mutige Demokraten gibt es keine Demokratie.

    (Beifall bei der FDP und bei der SPD.)

    Mit dieser Volksabstimmung ist die Entscheidung der höchsten demokratischen Instanz gefallen. Diese Entscheidung wird beachtet werden müssen. Nach Ablauf einer Übergangszeit, welche auch von den deutschen Parteien an der Saar einmütig vorgeschlagen wird, muß die Saar Teil der Bundesrepublik werden. Die Übergangszeit müßte genau begrenzt sein. Ob dann die Saar als eigenes Bundesland — oder in welcher Form sonst — zurückkehrt, muß mit den Saarländern abgesprochen werden.
    Mit ihrer Abstimmung haben die Menschen an der Saar aber auch einen in sich zweideutigen Vertrag, wie Paul Reynaud einmal sagte: einen „procès-verbal de désaccord", d. h. eine Dokumentation innerer Widersprüche, beseitigt. Damit ist die Bahn frei, im Einvernehmen mit den Deutschen an der Saar und mit unseren französischen Nachbarn einen klaren und unzweideutigen Vertrag abzuschließen. Die Grundlage dieses Vertrages, welcher den wirtschaftlichen Interessen Frankreichs Rechnung tragen soll und wird, werden Vorschläge etwa in dem Sinne sein können, wie sie im vergangenen Frühjahr von den Ministern Preusker und Blücher hier gemacht worden sind.

    (Beifall bei der FDP.)

    Ein solches Abkommen muß auch vorsehen — und darauf möchte ich die Aufmerksamkeit lenken —, daß, soweit reparationsähnliche Verpflichtungen übernommen werden, diese nicht von der Saar allein, sondern von Gesamtdeutschland zu tragen sind. Wenn wir demnächst im Außenpolitischen Ausschuß über diese Fragen sprechen, sollte es möglich sein, eine gemeinsame Plattform zu schaffen. Das wäre unser Wunsch hierzu.
    Nun zur Frage der Wiedervereinigung und der Ost- und Westbeziehungen. Auch hier möchte ich versuchen, zunächst das, was uns einigt, zusammenzufassen. Ich möchte weiterhin auch nicht versäumen, den Ernst der Situation, in der wir uns befinden, gebührend hervorzuheben.
    Lassen Sie mich damit beginnen, daß wir alle ohne Unterschied in diesem Hause den Wunsch haben, daß der Rest der Gefangenen und auch die Zivilinternierten, die noch nicht zurückgekehrt sind, nun sehr bald zurückkommen.

    (Allseitiger Beifall.)

    Wir unterstützen die Bemühungen der Regierung nach dieser Richtung hin. Wenn wir nur noch eine einzige Begründung hinzufügen wollen, dann ist es die: denn es ist bald Weihnachten.
    Und dann zum zweiten. Das deutsche Volk wünscht nichts sehnlicher als eine lange Periode des Friedens. Das Ausland, das uns oft noch für ein militaristisches Volk hält, sollte sich darüber klarwerden, welch eine große innere Wandlung in diesem deutschen Volk vor sich gegangen ist, eine Wandlung, geboren in dumpfen Luftschutzkellern in langen Bombennächten, geboren auf der Flucht vor Feuersäulen, die durch die Gassen der Großstädte rasten, geboren aus der Erkenntnis, daß es unendlich viel wertvoller ist, materielle Güter dieser Welt für Zwecke friedlicher Forschung, wirtschaftlicher Weiterentwicklung, Wohnungsbauten und soziale Besserstellung zu verwenden als für kriegerische Zwecke. Und endlich: unsere Jugend wird wie die Jugend anderer Völker für die Verteidigung der Heimat im Ernstfall ihre Pflicht tun, wie es ihre Väter und Vorväter getan haben. Aber sie drängt sich nicht zu den Waffen. Wir sind nicht die Militaristen, als die wir verschrien werden.
    Und zum dritten. Das deutsche Volk weiß — und auch darüber sind wir wohl alle einig —, daß Deutschland nicht als schwacher Staat allein mitten in Europa zwischen Ost und West stehen kann. Versuche Deutschlands in der Vergangenheit, eine Einzelstellung inmitten Europas durchzuhalten, waren schon zu den Zeiten, als die europäischen Mächte und auch Deutschland noch Mächte waren, weder von Dauer noch von Erfolg.
    Viertens. Wir sind nach unserer Erziehung und unserer Tradition, nach unserer Art zu leben und auf Grund unserer außenpolitischen Erfahrungen insbesondere in den letzten zehn Jahren, auf ein Zusammenstehen mit dem Westen angewiesen. Wir werden selbstverständlich auch dabei bleiben. Geographisch liegen wir nun freilich mitten in Europa zwischen Frankreich und Rußland. Die Westmächte werden dafür Verständnis haben, daß unsere Außenpolitik auch dieser geographischen Lage Rechnung tragen muß.


    (Dr. Becker [Hersfeld])

    Fünftens. Wir haben aus der Erkenntnis unserer Schwäche und unserer unsicheren Lage die Pariser Verträge abgeschlossen, also, wie ich für meine politischen Freunde betonen möchte, zu unserer Sicherheit, nicht aus einer Politik der Stärke heraus. Wir werden aus dieser Politik unserer Sicherheit und in loyaler Vertragstreue zu unseren Verbündeten die Pariser Verträge einhalten. Ich darf hier zu meiner Freude feststellen, daß meine Vorredner die gleiche Erklärung abgegeben haben. Wir werden sie einhalten, so wie wir — und das möchte ich gerade auch für meine politischen Freunde hervorheben — ernstlich bemüht sind, diese Verträge auch praktisch — allerdings mit Sorgfalt — durchzuführen.

    (Beifall rechts und in der Mitte.)

    Gerade die Tatsache, daß wir, unterstützt von auf diesem Gebiete besonders sachkundigen Parteifreunden, uns ernstlich und eingehend mit dieser Aufgabe befassen, sollte dafür, daß wir zu diesen Verträgen stehen, Beweis genug sein und auch gewesen sein.
    Wenn eine zukünftige politische Entwicklung eine Abänderung dieser Verträge nötig machen sollte — die Revisionsmöglichkeit ist ja im Deutschland-Vertrag vorgesehen —, dann werden sie vielleicht abgeändert werden müssen, selbstverständlich in Übereinstimmung mit den Vertragspartnern. Auch darüber hat sich heute morgen Übereinstimmung ergeben.
    Aber das ist alles schon so oft ausgesprochen worden, daß es eigentlich nicht nötig sein sollte, es immer wieder zu wiederholen. Ich glaube, wenn ich das hier einfügen darf: wir treiben in der Außenpolitik viel zu sehr eine Politik der Untersuchung der Methoden, statt auf den Kern zu kommen.

    (Sehr richtig! rechts und in der Mitte.)

    Als wir die Pariser Verträge abschlossen, kannten wir die Erklärung der Sowjetunion, daß dadurch nach ihrer Meinung die Wiedervereinigung verhindert würde. Wir haben gleichwohl abgeschlossen, und zwar aus den zuvor genannten Gründen, also im Interesse der Sicherung Deutschlands und der Freiheit seiner Bewohner. Wir haben aber andererseits von der Seite der Sowjetunion noch nie gehört, daß, wenn wir die Pariser Verträge nicht abschlössen oder sie aufkündigten, die Wiedervereinigung mit unserer Mittelzone so erfolgen würde, daß das künftige Leben Gesamtdeutschlands auf der Grundlage demokratischer Freiheit im westeuropäischen Sinne gesichert wäre.

    (Sehr wahr! bei der FDP.)

    Zum weiteren: Die ehemaligen Siegerstaaten einschließlich Sowjetrußlands haben im Potsdamer Kommuniqué bindend proklamiert, daß ein einheitlicher deutscher Staat fortbestehe. Sie haben damit in dieser Richtung eine Rechtsverpflichtung für sich übernommen und einen Rechtsanspruch für uns begründet. Es ist wahrlich an der Zeit, daß zehn Jahre nach der Festlegung dieser Grundsätze nun ein Friedensvertrag geschlossen wird. Es ist insbesondere ein geradezu grotesker Zustand, daß einer großen Nation zehn Jahre nach Beendigung der Feindseligkeiten noch ihre Hauptstadt Berlin vorenthalten wird und daß diese Stadt aufgespalten bleibt.
    In der Atlantikcharta vom 14. August 1941 haben die Alliierten sich verpflichtet, für ihre Länder keinen Gewinn territorialer Art zu suchen und keinen territorialen Veränderungen zuzustimmen, die nicht den in Freiheit ausgesprochenen Wünschen dieser Völker entsprechen. Sie haben sich ferner verpflichtet, das Recht aller Völker zu beachten, diejenige Regierungsform zu wählen, unter der sie leben wollen, und sie haben sich weiter verpflichtet, dafür einzutreten, daß Souveränitätsrechte und eine eigene Regierung all den Völkern zurückzugeben sind, denen sie gewaltsam genommen worden sind. Diese Atlantikcharta ist durch die nie abgeänderte und nie widerrufene Erklärung der Alliierten auf der Krimkonferenz vom 12. Februar 1945 eine konkrete völkerrechtliche Verpflichtung auch für Sowjetrußland geworden. Sie ist dann auch in die erste Deklaration der Vereinten Nationen aufgenommen und damit allgemeingültiges Recht geworden.
    Wir können nur immer wiederholen, daß wir alle Völker, die diese Verpflichtung übernommen haben, an diese ihre Zusage gebunden halten. Wir danken aber in diesem Zusammenhang auch unsererseits den Regierungen und Völkern der Westmächte für die Energie, mit der sie zu wiederholten Malen in Durchführung dieser Grundsätze für Deutschland, für Berlin und für den Gedanken der Wiedervereinigung eingetreten sind.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wir hoffen sehr, daß sie, auch weiterhin gestützt auf die Zustimmung ihrer Völker und zugleich im eigenen Lebensinteresse ihrer Völker, uns weiter unterstützen.
    Ich danke zugleich aber auch den Mitgliedern des Europarates, insbesondere Herrn de Menthon, für die verständnisvolle Art, in der sie immer für diese Frage der Wiedervereinigung eingetreten sind.

    (Erneuter Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Sechstens. Der genaue Status eines künftigen Gesamtdeutschland wird in einem zukünftigen Friedensvertrag ausgehandelt werden, d. h. insbesondere in Übereinstimmung aller vier vormaligen Besatzungsmächte. Er wird auch unter Zustimmung Deutschlands ausgehandelt werden müssen, er wird ausgehandelt werden müssen nach den zuvor genannten, erstmals in der Atlantikcharta ausgesprochenen Grundsätzen. Weil viele zustimmen müssen, gibt es kein Rezept eines einzigen, von dem man mit Sicherheit sagen könnte, daß das das Rezept wäre, nach dem die Dinge zu meistern wären.

    (Sehr richtig! bei der FDP.)

    Erst dieser so ausgehandelte zukünftige Status Gesamtdeutschlands wird dann auch die Grundlage dafür geben, in welchem Umfang und in welcher Weise Gesamtdeutschland endgültig militärisch organisiert sein wird. Diesen Gedanken hat der Deutsche Bundestag in seiner Drucksache 1201 Ziffer 5 durch Beschluß vom 26. Februar 1955, den er vor wenigen Wochen hier neu bestätigt hat, wie folgt formuliert:
    Der Deutsche Bundestag fordert, es möge so bald wie möglich ein Friedensvertrag mit Deutschland geschlossen werden, der in gleicher Weise für die beteiligten Mächte wie für die in ihren Entschlüssen freie gesamtdeutsche Regierung annehmbar wäre.
    Wir — und ich auf Grund persönlicher Erfahrungen — haben das Vertrauen zu dem Außen-


    (Dr. Becker [Hersfeld])

    minister von Brentano, daß es seiner Geschicklichkeit und seiner Wendigkeit gelingt, bei derartigen Verhandlungen das für Deutschland herauszuholen, was sich nur herausholen läßt.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Und dann weiter: Es dürfte wohl auch bei niemandem in Deutschland ein Zweifel darüber bestehen, weder nach der ersten Konferenz von Genf mit ihrem Lächeln und ihren Freundlichkeiten noch — erst recht nicht — nach der zweiten Genfer Konferenz, daß das Endziel der kommunistischen Zentrale auch weiterhin darin besteht, die ganze Welt dem Kommunismus nach und nach zu unterjochen. Totalitäre Systeme, auf welchem Gebiet sie auch bestehen mögen — und wir Deutschen haben unsere Erfahrungen gesammelt —, bleiben immer ihrem Endziel treu. Sie machen zwar Pausen, sie schließen zwar auch Verträge, die dieses Endziel scheinbar vergessen oder übersehen lassen, sie halten auch ernstlich solche Verträge, aber gespannteste Wachsamkeit bleibt auch dann immer nötig.
    Nun ist die große Frage aufgetaucht: Soll man gleichwohl mit Sowjetrußland sprechen oder verhandeln oder nicht?, wobei ich als selbstverständlich unterstelle, daß auch bei allen derartigen Besprechungen oder Verhandlungen niemals die Loyalität gegenüber unseren Bundesgenossen irgendwie außer acht gelassen werden dürfte.

    (Sehr richtig! rechts.)

    Das ist heute morgen auch schon mit Recht betont worden; aber es entspricht wohl nur einer gewissen Primitivität der deutschen politischen Diskussion auf diesem Gebiet, wenn auch dieser Zusatz immer wieder öffentlich gemacht werden muß.
    Wir haben mit Moskau diplomatische Beziehungen angeknüpft. Das bedeutet an sich nichts Neues und auch gar nichts Erschütterndes, auch nicht gegenüber dem Ausland; denn jedes souveräne Land unterhält nach allen Seiten hin diplomatische Beziehungen und nimmt in politischen Gesprächen seine Interessen wahr. Es liegt in der Natur der Dinge, daß ein deutsches diplomatisches Auftreten in Ländern, zu denen bisher keine Beziehungen bestanden haben, zunächst der beiderseitigen Information und anschließend daran allenfalls der Pflege geistigen und wirtschaftlichen Kontaktes dienen wird. Wir haben in der deutschen Öffentlichkeit in der letzten Zeit wiederholt sehr feine Unterschiede definieren hören über Besprechungen und Verhandlungen, vollständige oder unvollständige Beziehungen, darüber, ob und über welche Themen nun verhandelt oder nur gesprochen werden dürfe usw. Wir haben uns mit all dem tierischen Ernst, dessen der Deutsche in solchen Situationen fähig ist, einer solchen Diskussion hingegeben.

    (Sehr wahr! bei der FDP.)

    Ich glaube, wir kommen am ehesten zur Übereinstimmung, wenn wir uns auf die Worte eines Realpolitikers einigen. Diese Worte lauten:
    Immerhin betrachte ich es doch als einen Fortschritt, daß Sowjetrußland diese Verpflichtung, die Einheit wiederherzustellen, anerkennt; ferner, daß wir, sobald wir diplomatische Beziehungen zu Sowjetrußland haben, in der Lage sind, nicht nur mit den drei westlichen Alliierten, sondern auch mit Sowjetrußland, dessen Stimme ja auch nötig ist, über die Prozedur
    der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands zu sprechen.
    Ich wiederhole: „über die Prozedur der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands zu sprechen."
    Diese Worte sind in der Pressekonferenz, die der
    Herr Bundeskanzler noch in Moskau über das Ergebnis der Konferenz abgehalten hat, von ihm ausgesprochen worden. Wir können uns dieser Feststellung des Herrn Bundeskanzlers nur anschließen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ob nun Gespräche oder Verhandlungen, meine Damen und Herren, zweierlei scheint auf jeden Fall als äußerste Grenze solcher Gespräche oder Verhandlungen festzustehen, und ich glaube auch hierüber Einigkeit feststellen zu können. Das eine ist: wir werden niemals die Souveränität und die Freiheit der Bundesrepublik und die Freiheit ihrer Bewohner für eine Wiedervereinigung im sowjetischen Sinne hergeben.

    (Erneuter Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Das würde die Bolschewisierung ganz Deutschlands sein. Und zum zweiten: wir werden uns niemals auf die schiefe Ebene einer Verbindung kommunistischer und westlicher Elemente zu einer einheitlichen Regierung, auf deutsch: wir werden uns niemals zu dem Experiment einer Volksfrontregierung hergeben dürfen.

    (Wiederholter Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Lassen Sie mich zu den Punkten, von denen ich glaube, daß wir darin einig sein könnten oder werden könnten, noch einen letzten hinzufügen. In der Presse ist in der Tat nach der letzten Genfer Konferenz mehrfach der Gedanke aufgetaucht, daß es nunmehr mit der Wiedervereinigung aus sei und daß man dafür an die Integration Europas mit erneuten Kräften herangehen müsse. — Ich behaupte nicht, daß eine Partei das gesagt habe, ich habe nur von der Presse gesprochen. — Sie wissen, daß ich und mit mir sehr viele meiner Freunde viel für eine Vereinigung Europas getan haben. Wir haben nicht nur im Europarat mitgearbeitet. Ich habe persönlich im Studienkomitee der Europabewegung unter Vorsitz Spaaks an der Ausarbeitung einer europäischen Verfassung mitgearbeitet. Wir haben schließlich im Verfassungsausschuß unter dem Vorsitz unseres Herrn Außenministers von Brentano im Winter 1952/53 innerhalb der Frist von sechs Monaten, die uns die europäischen Minister seinerzeit gestellt hatten, den Entwurf einer europäischen Verfassung fertiggestellt. Ich werde immer mit Freude an diese Zeit der Zusammenarbeit mit ausländischen und deutschen Kollegen unter dem Vorsitz des Herrn von Brentano zurückdenken.
    Wir fühlen uns dem Gedanken der europäischen Vereinigung auch weiterhin verpflichtet. Wir müssen uns nur über die Realitäten Klarheit verschaffen. Vorangetrieben wurde in jenen Jahren die europäische Vereinigung einmal durch die Unterjochung der europäischen Oststaaten, durch die Blockade Berlins, durch die Angriffe auf Nordgriechenland und auf Korea; das dadurch geschaffene Sicherheitsbedürfnis zwang und führte die Menschen in Europa zusammen. Sie wurde andererseits vorangetrieben durch den enthusiastischen Elan, der sich nach dem Kriege aller Völker Europas bemächtigt hatte, insbesondere auch der deutschen Jugend, die in der Vereinigung Europas ein neues, ein erstrebenswertes Ideal sah. Diese bei-


    (Dr. Becker [Hersfeld])

    den Elemente — Sicherheitsbedürfnis auf der einen, Enthusiasmus auf der andern Seite — beflügelten die Arbeit derer, die für ein vereinigtes Europa eintraten.
    Zwei Säulen waren gewissermaßen aufgerichtet, die Montanunion auf der einen Seite, die Verträge über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft auf der andern Seite. Auf diesen beiden Säulen und auf der noch zu errichtenden dritten Säule eines einheitlichen europäischen wirtschaftlichen Marktes sollte sich dann der Kuppelbau der europäischen Einheit wölben, an dem mitzuarbeiten wir hofften und glaubten.
    Die Kriegsgefahr von damals hat sich für viele verflüchtigt. Man glaubt an eine Entspannung; die Angst ist vorbei. Die Menschheit ist satter geworden. Der Enthusiasmus der Jugend ist zwar noch vorhanden, aber er verflüchtigt sich wie jeder Enthusiasmus, der nicht sofort in Taten umgewandelt werden kann. Unser Verfassungsentwurf ist von den sogenannten Experten zergliedert, zerfetzt, versenkt worden. Von all den Säulen steht nur noch eine, die Montanunion als übernationale Organisation. Aber aus der Geschichte unseres Vaterlandes wissen wir, daß die Einigung Deutschlands lange Zeit gedauert hat, daß sie über Höhen und durch Tiefen führte und daß ein besonders starker Antrieb gerade aus der Zollunion des 1. Januar 1834 kam.
    So glaube ich sagen zu dürfen, daß wir, wenn wir die Einigung Europas weitertreiben wollen, sie weniger in der Schaffung großer europäischer Bürokratien, die außerdem nicht ganz billig sind, suchen sollten, sondern daß wir etwa von der OEEC her, vom Wirtschaftlichen her, versuchen sollten, diese Entwicklung weiterzuführen.

    (Beifall bei der FDP.)

    Es ist in der deutschen Öffentlichkeit leider kaum bemerkt worden, daß unser verehrter sozialdemokratischer Kollege im Europarat Herr Dr. Mommer im Oktober dieses Jahres die Erklärung abgegeben hat, daß er und seine Freunde sich in Zukunft in besonderem Maße für eine Integration Europas einsetzen würden. Ich möchte namens meiner Freunde diese Erklärung auch hier sehr begrüßen.

    (Beifall bei der FDP.)

    Um aber Klarheit zu schaffen, muß gesagt werden, was vorhin auch zu unserer Freude schon ausgesprochen wurde: daß nicht die europäische Vereinigung jetzt etwa an die Stelle der Wiedervereinigung tritt. Es handelt sich — Herr Kiesinger hat es mit Recht gesagt — nicht um eine Alternative, nicht um eine Wahl zwischen dem einen oder dem anderen, sondern beides soll in Angriff genommen und gefördert werden. Das eine schließt das andere niemals aus.

    (Zustimmung bei der FDP.)

    Und nun, meine Damen und Herren, nachdem ich geglaubt habe feststellen zu können, daß wir in sehr zahlreichen Punkten einer Meinung sind, noch einige Ausführungen über den Ernst der Situation, über den man sich vielleicht in manchen Kreisen nicht einig ist.
    Nach dem Ausgang der letzten Konferenz sieht es scheinbar mit der Frage der Wiedervereinigung trübe aus. Warum? Darf ich eine kleine Geschichte einflechten? Vor einiger Zeit erschien im Buchhandel ein Buch, auf dessen Titelblatt eine Dame in großer Abendtoilette und ein Herr im Frack abgebildet waren. Darüber stand: „Man benimmt sich wieder." Das bezog sich auf das gesellschaftliche Leben, vermutlich hier in Bonn, und man hat ja auch genügend Scherze über die neu auftauchenden Fräcke, die nach Maß geschneiderten und die geliehenen, gemacht. Aber hat sich mit diesem neuen Benehmen auch an den Menschen viel geändert?

    (Abg. Frau Dr. Dr. h. c. Lüders: Sehr richtig!)

    Man benimmt sich auch wieder in der Außenpolitik. Worte wie „Whiskysäufer" von damals oder „Hyänen des Großkapitals" sind verschwunden. Man sagt sich Freundlichkeiten. Man lächelt. Man läßt sich zusammen fotografieren. Warum?
    Die Politik der Sowjetunion ist dessen innegeworden, daß die sture Haltung der Politik Stalins den Westen zusammengeschweißt, daß Handlungen wie die Blockade Berlins, wie der Angriff auf Nordgriechenland, wie der Einbruch in Korea gerade erst die Verteidigungsorganisation des Westens nötig gemacht und veranlaßt haben. Man glaubt vielleicht, durch eine andere Handhabung politischer Sitten nun das, was man im Westen gegen sich zusammengeschaffen hat, wieder zu erweichen und aufzulösen. Es liegt an den Völkern des Westens, ob sie vergessen, hinter allen äußeren Freundlichkeiten das wirkliche politische Wollen der anderen zu erkennen, und ob sie vergessen, was an politischen Zielen dort vorhanden ist.
    Es will uns scheinen, als wenn die russische Politik darauf ausginge, in einer Vielzahl von Konferenzen über die Frage der Wiedervereinigung den guten Willen der Westmächte, uns beizustehen, abzunutzen und in der öffentlichen Meinung der Westmächte, insbesondere Frankreichs und Englands, Ermüdungserscheinungen, ja darüber hinaus Erwägungen aufkommen zu lassen, ob die Wiedervereinigung Deutschlands für diese Staaten überhaupt von Vorteil wäre. Es liegt der sowjetrussischen Diplomatie offensichtlich daran, in der Weltöffentlichkeit den Gedanken aufkommen zu lassen: „Warum sollen wir uns mit dieser ewigen deutschen Frage immer noch beschäftigen! Laßt doch die Deutschen das unter sich ausmachen!" Und unter den Deutschen ist dann die Bundesrepublik einerseits und die sogenannte DDR andererseits zu verstehen. Wir glauben, die Politik der Sowjetunion ziele darauf ab, in der Frage der Wiedervereinigung Bonn und Moskau, und Moskau nur verborgen hinter Pankow, zu konfrontieren und sich allein gegenüberstehen zu lassen.
    Wenn das so kommen sollte, dann, meine Damen und Herren, kommt für unser deutsches Vaterland, für seine politische Führung, aber auch für die moralische Haltung und Standhaftigkeit seiner Bewohner d i e große Bewährungsprobe.

    (Zustimmung bei den Regierungsparteien.)

    Aber es naht zugleich für die Mächte des Westens auch eine große Gefahr.
    Wir entsinnen uns noch alle, wie zum Schluß des zweiten Weltkrieges eine neue polnische Regierung geschaffen wurde durch die Zusammenfügung zweier Systeme. Auf Wunsch der Sowjetunion kam das sogenannte Lubliner Komitee, das heißt, die Kommunisten, in die gemeinschaftliche Regierung; auf Wunsch der Westmächte kamen die Exilpolen in diese gemeinschaftliche polnische Regierung. Beide wurden zusammengeschweißt - mit dem


    (Dr. Becker [Hersfeld])

    Erfolg, daß Polen sehr bald kommunistisch und damit Satellit Rußlands war. Und daher kommt es, daß die Grenze der freien Welt nicht mehr bei Brest-Litowsk, sondern dicht östlich von Lübeck, Braunschweig und Kassel liegt.
    Sollte, was Gott verhüten möge, einmal ein ähnliches Schicksal Deutschland beschieden werden, dann würde die Grenze der Freiheit an Rhein und Rhone, an der Schelde, am Kanal und in Kopenhagen liegen, und dann würden die Völker des Westens sich vielleicht daran erinnern, daß die Frage der Existenz Deutschlands doch auch von sehr großer, von entscheidender Bedeutung für die eigene Sicherheit wäre.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    England und Frankreich können kein Interesse daran haben, daß mehrere ohnmächtige kleine Staaten den Raum in der Mitte Deutschlands ausfüllen. Nicht eine Menge schwacher Länder und Ländchen, sondern eine Betonmauer in Gestalt eines wiedervereinigten Deutschlands und eines geeinten Europas liegt im wohlverstandenen Interesse des Westens.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU.)

    Man hat geglaubt, daß Rußland zu einer Wiedervereinigung dadurch zu bestimmen sei, daß man auf sein angebliches Sicherheitsbedürfnis eingehe und ihm zusätzliche Angebote nach der Richtung mache. Wie ist die Wirklichkeit? Rußland weiß, daß Deutschland nach den Pariser Verträgen höchstens 12 Divisionen haben darf. Rußland weiß, daß uns die ABC-Waffen, die Atomwaffen, die biologischen und die chemischen Waffen, verboten sind. Rußland weiß, daß wir keine Kriegsschiffe größeren Formats haben dürfen, daß uns Düsenflugzeuge verboten sind, daß die Größe unserer Luftwaffe — —

    (Abg. Kiesinger: Daß wir darauf verzichtet haben, Herr Kollege!)

    — Kommt, Kommt! Rußland weißt daß nach dem westeuropäischen Vertrag die Einhaltung dieser Beschränkungen vom Westen kontrolliert wird. Rußland weiß, daß unsere Divisionen nicht unter unserem Oberbefehl, sondern im Ernstfall unter dem NATO-Oberbefehl stehen. Rußland weiß, daß wir dem Westen zugesagt haben, keine Angriffe vorzutragen, und daß wir diese Beschränkungen selbst angeboten haben.
    Rußland weiß andererseits, daß es selbst über 175 Divisionen ersten Aufgebots verfügt. Es weiß, daß seine Satellitenstaaten des europäischen Ostens etwa 80 Divisionen haben. Es weiß, daß die sowjetische Mittelzone sechs kasernierte Divisionen, dazu 80 000 Mann bewaffneter Fabrikwehr besitzt, daß es eine Luftflotte besitzt und daß eine neue Luftflotte hinzukommen soll. Rußland weiß weiter, daß infolge der Neutralität Österreichs eine neutrale Zone von Ungarn über Wien und Innsbruck bis Genf führt, daß also Verschiebungen von Norden nach Süden und von Süden nach Norden in Europa sehr erschwert sind.
    Wo ist hier ein Bedürfnis nach Sicherheit? Ich glaube nicht, daß Rußland ernstlich Sorge vor einem wiedervereinten Deutschland hat. Rußlands Sorge, wenn es sie einst gehabt hat, ist verschwunden, seitdem es Düsenflugzeuge mit hohen Geschwindigkeiten und Raketen gibt, von denen die neuesten eine Reichweite bis zu 6000 km haben; und Rußland hat in den letzten Tagen durch eine neue Wasserstoffbombenexplosion der Welt zu Gemüte geführt, daß es auch auf diesem Gebiete mehr als aufgeholt hat.
    Sicherheit in der ganzen Welt brauchen wir Deutsche und wir Europäer!

    (Beifall rechts und in der Mitte.)

    Man verhandelt über Sicherheitszonen, über neutralisierte Zonen, und was an ähnlichen Vorschlägen nicht alles vorgetragen wird. Wenn wir uns überlegen, daß ein Panzerkorps an einem Tage 300 km zurücklegen kann, wenn wir an die Geschwindigkeit der Düsenflugzeuge denken, wenn wir uns überlegen, daß die Transozeanraketen eine Stundengeschwindigkeit von 9000 bis 10 000 km haben und keinen Umweg um neutrale Zonen machen werden,

    (Sehr richtig! rechts)

    wenn wir uns überlegen, daß sich radioaktiver Staub bei Explosionen über weite Strecken unserer Erdoberfläche verbreitet, dann kommen wir doch zu dem Ergebnis, daß die Wirkung eines neutralisierten Streifens von 300 oder 400 km Breite praktisch in ein Nichts zusammenschrumpft.
    Abrüstungsverhandlungen können noch Aussicht auf Erfolg haben; aber eine Diskussion über neutralisierte Zonen als Äquivalent gegen die Wiedervereinigung hat, wenigstens nach meiner persönlichen Oberzeugung, keinen Zweck. Ein kleines Beispiel: Sie wissen, daß die Radarstationen in der neuesten Vervollkommnung die Möglichkeit geben, etwa aus der Gegend von Hannover festzustellen, ob auf dem Hauptbahnhof in Basel Güterzüge oder D-Züge ausfahren und einfahren. Es gibt die Möglichkeit, das Herannahen überfallartiger Flugzeug- und Raketenangriffe schnellstens zu erkennen, allerdings auch nur um wenige, aber sehr entscheidende Minuten im voraus. Die Westmächte hatten jetzt in Genf angeboten, daß Rußland berechtigt sein soll, seine Radarstationen von östlich der Elbe nach Westen vorzuverlegen bis etwa an die Maas oder Schelde, und die Westmächte entsprechend umgekehrt. Das ist abgelehnt worden. Wo bleibt dann noch ein Sicherheitsbedürfnis Rußlands, wenn das Angebot beiseite geschoben wird?

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Auf der Genfer Konferenz war ja erkennbar, daß Molotow die Erörterung über neutralisierte Zonen und über Sicherheitspakte praktisch beiseite geschoben und dafür die Diskussion nach einer anderen Richtung gelenkt hat. Nunmehr sprach er davon, daß die Errungenschaften der sogenannten DDR auch in einem vereinigten Deutschland aufrechterhalten bleiben müßten und daß diesen Errungenschaften des Ostens auch Eingang in den deutschen Westen verschafft werden müsse. Ich darf feststellen, daß wir einig darüber sind, daß von alledem nichts geschehen darf. Warum — das ist das einzige, was ich hervorheben will — laufen in immer steigendem Maße die Menschen, insbesondere die jungen Menschen, vor diesen Errungenschaften davon?!

    (Beifall bei der FDP und DP.)

    In diesem Zusammenhang in ausdrücklichem Auftrag meiner politischen Freunde noch eine besondere Warnung. Die Juli-Konferenz von Genf hat von Rußland her gesehen den Zweck gehabt, ausfindig zu machen, wie weit der Westen im Ernstfall zu gehen bereit ist, nachdem Atomwaffen


    (Dr. Becker [Hersfeld])

    und Wasserstoffbomben die Möglichkeit eines dritten Weltkrieges - vorsichtig ausgedrückt — ohnehin in sehr weite Ferne gerückt hatten. Viele haben den Eindruck gewonnen, daß Rußland im Juli von Genf mit der Überzeugung zurückgekehrt ist, daß der Westen keinesfalls zu einem solchen Widerstand schreitet, der einen dritten Weltkrieg mit allen seinen Folgen auslösen könnte. Ich glaube, daß umgekehrt der Westen die gleiche Feststellung hinsichtlich des Ostens getroffen hat. Man kann über diese Feststellungen nur sehr erfreut sein, denn sie zeigt uns, daß keine der beiden großen Mächtegruppen bewußt auf einen Weltkrieg mit allen seinen Schrecken lossteuert.
    Neben allumfassenden Weltkriegen gibt es aber an kriegerischen Möglichkeiten Unternehmungen von sogenannter lokaler Natur, wobei der Begriff „lokal", geographisch gesehen, doch recht weit umschrieben werden kann. Korea, Indochina, der Gefahrenherd an der israelisch-ägyptischen Grenze sind auch in diesem Sinne lokaler Natur. Es besteht daher die Gefahr, daß die vermeintliche Sicherheit dahin, daß der andere Teil einen dritten Weltkrieg unter allen Umständen vermeiden will, gerade den Anreiz stärkt, diese oder jene lokale Unternehmung zu starten.

    (Sehr richtig! bei der FDP.)

    Auch vor dem zweiten Weltkrieg glaubten viele, daß z. B. die Entwicklung der Gaswaffen einen zweiten Weltkrieg unmöglich machen würde, und deshalb wurde bei diesem oder jenem Abenteurer der Gedanke wachgerufen, durch einen schnellen Krieg, einen sogenannten Blitzkrieg, Unternehmungen lokaler Natur schnell und sicher durchzuführen. Meine Freunde möchten mit diesem Hinweis warnend ihre Stimme erheben. Sie möchten darauf verweisen, daß der Übermut und die Leichtfertigkeit, die aus einer falschen Einschätzung der anderen und ihrer Haltung entstehen, gerade das herbeiführen könnten, was nach den Wünschen aller Völker vermieden werden sollte. Deshalb auch für uns eine Politik der Sicherheit, und deshalb auch unsere warnende Stimme an alle, die es angeht.

    (Beifall bei der FDP und bei der CDU/CSU.)

    Was kann von uns Deutschen praktisch zur Wiedervereinigung beigetragen werden? Wir können auf die Rechtslage verweisen, auf das Potsdamer Abkommen mit der Verpflichtung zur Einheit, auf die Atlantik-Charta mit der Verpflichtung zur Freiheit, auf die Atlantik-Charta mit der Verpflichtung zur Herausgabe alles dessen, was ohne freiheitliche Zustimmung der Bewohner besetzt worden ist. Vielleicht darf ich noch ein Beispiel anfügen. Im Jahre 1954 ist auf der Konferenz von Genf, jener Konferenz, die über das Schicksal von Indochina entschied, das Land Vietnam, der östliche Teil von Indochina, geteilt worden. Es ist merkwürdig, daß alle Dinge immer geteilt werden: Deutschland, Korea, Vietnam und mit Deutschland Europa. Damals haben sich die kommunistischen Staaten Sowjetunion und China an diesem Vertragsabschluß, an dieser Teilung beteiligt und haben ihrerseits durchgesetzt, daß spätestens am 20. Juli 1956 in beiden Teilen dieses Landes freie Wahlen unter internationaler Kontrolle stattfinden müssen mit dem Zweck, daß die Wiedervereinigung des Landes und daß seine Verfassung für die Zukunft beschlossen werden kann. Ich habe mir erlaubt, gelegentlich einmal im Europarat darauf zu verweisen. Es war mir eine Freude, vor einigen
    Tagen in der französischen Zeitung „Le Monde" den gleichen Hinweis zu finden: Warum würden nicht einmal die Westmächte in der Form einer sagen wir, nicht nur defensiven Diplomatie auch ihrerseits Vorschläge an den Osten in dieser Beziehung richten?
    Noch eines dazu! Es wird richtig sein, alle Erörterungen der Zukunft über die Wiedervereinigung nicht im Rampenlicht der Öffentlichkeit vorzunehmen, weil diese Öffentlichkeit einer praktischen Erledigung der Arbeiten nur hindernd im Wege steht. Keiner will von seinem ursprünglichen Standpunkt in der Öffentlichkeit zuerst zurück. Eine nicht öffentliche Verhandlung führt nach aller Erfahrung weiter. Ein Näherkommen entgegengesetzter Ansichten ist nur in nicht öffentlichen Besprechungen zu erreichen. Möglicherweise hat die in der Öffentlichkeit nicht beachtete geheime Konferenz zwischen amerikanischen und chinesischen Unterhändlern in Genf sehr viel mehr an praktischem Erfolg gezeitigt als die letzte öffentlich geführte Genfer Konferenz vom Oktober/November dieses Jahres.
    Aber wir haben auch nach der persönlichen Seite hin eine besondere Aufgabe gegenüber der Ostzone, und das ist die, daß wir, jeder einzelne von uns, uns bemühen, den Willen zum Durchhalten dort zu stärken. Da komme ich auf die Art zu sprechen, wie der von uns geschaffene Feiertag des 17. Juni eigentlich begangen werden sollte und wie er nicht gefeiert werden sollte. Was geschieht jetzt? Jeder benutzt den freien Tag, nimmt seinen Pkw oder sein Motorrad und rattert in die freie Natur; aber an die Menschen in der Ostzone wird in keiner Weise gedacht. Wir sind zu satt geworden, und Sattsein macht stumpf und träge!

    (Beifall.)

    Wie wäre es, wenn Glockengeläute an dem Tag zur Besinnung riefe, wenn um 12 Uhr zwei Minuten Verkehrsstille wäre, wenn in den Schulen der Bedeutung der besetzten Zone und ihrer Menschen gedacht würde und wenn jeder von uns — jeder nach seinem Vermögen — wenigstens an diesem Tage an die Menschen in der Ostzone ein Paket schickte?

    (Erneuter Beifall.)

    Ich glaube, das wäre besser, als Spaziergänge und Spazierfahrten zu machen und zuzusehen, wie an diesem Tag drüben in der Zone die Menschen arbeiten müssen.
    Wir Deutschen, die wir in Frieden mit allen Völkern dieser Erde leben wollen, sollten auch die Verbindung mit ihnen allen suchen. Der engere Ausbau unserer Beziehungen zu den Staaten des amerikanischen Kontinents, die Fühlungnahme mit den Völkern des Nahen Ostens und Asiens sollten unsere Aufgabe werden. Wir haben auch hier die Überzeugung, daß sich Herr von Brentano, der in der kurzen Zeit seiner Tätigkeit schon so manche glückliche Probe gegeben hat, auch dieser Aufgabe gern zuwenden wird. Wir begrüßen es, daß Herr Vizekanzler Blücher in Neu-Delhi vorsprechen will. Wir müssen uns um das, was in fremden Erdteilen vorgeht, auch kümmern, weil die Lösung der Frage der Wiedervereinigung vielleicht nur in globalem Rahmen möglich sein wird. Es muß uns aus wirtschaftlichen und aus politischen Gründen interessieren, was im vorderen und mittleren Orient vor sich geht, was sich an den Grenzen z. B. von Pakistan und Afghanistan ereignet,


    (Dr. Becker [Hersfeld])

    welche Bewegungen in Tibet, in Sinkiang, in der Mongolei, in der Mandschurei vor sich gehen oder vor sich gegangen sind. Es könnte nützlich sein, die wirtschaftliche Entwicklung Chinas, es könnte ebenso nützlich sein, die Entwicklung der politischen Beziehungen Chinas und der Sowjetunion laufend und aus der Nähe zu beobachten. Es könnte auch zu empfehlen sein, unser geistiges Wissen und unser technisches Können in deutschen Schulen den unterentwickelten Ländern zur Verfügung zu stellen. Aufgaben bieten sich in dieser sich umgestaltenden Welt vielfältig an.
    Nicht nur wegen der Frage der Wiedervereinigung, aber auch wegen dieser Frage und aus Gründen der allgemeinen Politik scheint es notwendig, noch über die engen Grenzen des uns beschäftigenden Problems der Wiedervereinigung hinaus einen Blick in ,die Welt zu werfen. Der französische Staatsmann Paul Reynaud sprach kürzlich in einem Vortrag in New York davon, daß das Zeitalter des Kolonialismus alten Stils vorbei sei. Große Gebiete haben sich in der Zwischenzeit selbständig gemacht. Seit etwa zehn Jahren geht durch die gesamte farbige Welt Asiens und Afrikas in immer wachsendem Maße ein Erwachen und Erstarken vor sich, verbunden mit einem Umlernen, mit einem Bewußtsein der eigenen Bedeutung, der eigenen Macht und der eigenen Zukunftsmöglichkeiten, dessen Ausmaß und dessen Wirken von den weißen Völkern dieser Erde noch nicht richtig gewürdigt wird. Ich erinnere mich — und ich glaube, unsere Mitglieder im Europarat werden sich erinnern —, wie im vergangenen Dezember der französische Abgeordnete aus Afrika, Herr Senghor, aufstand und sagte: Asien reckt sich, Afrika erwacht, und Europa zankt sich. Für die farbige Welt geht, im großen gesehen, gewissermaßen ein Zeitabschnitt zu Ende, den wir, auf Europa angewandt, als Mittelalter zu bezeichnen hätten. In den Zeiten der Renaissance und der Reformation, im Zeitalter der Entdeckungen und noch einmal im Zeitalter der französischen Revolution ging bei den Völkern Europas eine ähnliche Entwicklung vor sich, die ungeahnte Kräfte frei werden ließ und zu neuen gesellschaftlichen, zu neuen wirtschaftlichen und zu neuen politischen Formen und Machtgruppierungen geführt hat. Das, was in der farbigen Welt jetzt vor sich geht, muß dieser Entwicklung in Europa vor 400 Jahren und 150 Jahren gleichgestellt werden.
    Um die Seele dieser farbigen Völker kämpft nun der freie Westen, kämpft der Block der kommunistischen Staaten. Der Block der kommunistischen Staaten bedient sich des Dranges der Völker Asiens und Afrikas, vom Joch des alten Kolonialismus frei zu werden, neue Lebensformen, neue Staatsgestaltungen für sich zu schaffen. Diesen Völkern wird der Kommunismus als der Weg gezeigt, der zur nationalen und wirtschaftlichen Freiheit führt. Das wahre Gesicht des Kommunismus verschwindet dort hinter der Maske des Befreiers, hinter der Maske des Bringers neuer glücklicher Zustände. Die weiße Welt steht demgegenüber den kommunistischen Mächten propagandistisch im Hintertreffen.
    Es gibt aber auch einen modernen Kolonialismus. Er besteht darin, daß ein Staat versucht, einen äußerlich scheinbar unabhängigen Staat zu schaffen, regiert von einer totalitären Einheitspartei, regiert von der gleichen Einheitspartei, die auch im herrschenden Staat am Ruder ist und auf diesem
    Wege den Satellitenstaat unterjocht und wirtschaftlich dem herrschenden Staat nutzbar macht. Ein Teil der farbigen Völker der Welt hat diese Gefahr des neuen Kolonialismus, der ihnen vom Kommunismus her droht, erkannt und hat auf der Konferenz in Bandung vom April dieses Jahres in einer besonderen Entschließung sich scharf gegen den Kolonialismus in jeder Form gewendet, und unter „jeder Form" war auch diese neue Art des kommunistischen Kolonialismus gemeint. Dieser Kolonialismus unterdrückt seit zehn Jahren auch die Mittelzone Deutschlands, unterdrückt die baltischen Staaten, unterdrückt Polen, Ungarn, Bulgarien, Albanien, Rumänien und die Tschechoslowakei.
    Die Zweiteilung Deutschlands ist auch eine Zweiteilung Europas. Sollte es den Völkern des Westens nun nicht möglich sein, wenigstens ideologisch und propagandistisch diesem neuen Kolonialismus entgegenzutreten? Herr Bulganin hat in einer seiner früheren Noten an die angelsächsischen Mächte die Aufforderung gerichtet, alle ihre Stützpunkte aus Europa zurückzuziehen. Wir verstehen nicht, warum nicht eine Gegenfrage an die Sowjetunion gerichtet wird. Diese Gegenfrage würde zum Inhalt haben, ob die Sowjetunion ihrerseits bereit wäre, sich aus Europa, d. h. aus Deutschland und den osteuropäischen Staaten zurückzuziehen. Diese Frage bezieht sich dann nicht nur auf einen Rückzug der militärischen Streitkräfte Rußlands aus den Satellitenstaaten; die Frage bezieht sich auch und viel mehr, da Rußland ja auch ideologisch Europa angegriffen hat, darauf, daß die deutsche Mittelzone und die Staaten Osteuropas aus ihrer Fesselung an die Sowjetunion freigegeben werden. Neben dem Rückzug der russischen Truppen aus Osteuropa sollte daher auch die Abhaltung freier Wahlen unter internationalem Schutz und internationaler Kontrolle in allen von Rußland abhängigen Staaten des europäischen Ostens gefordert werden. Das russische Volk hat so wenig irgendeinen Nutzen von der Unterjochung anderer Völker, wie nach den Lehren der Geschichte andere Völker von der Unterjochung ihrer Nachbarn gehabt haben. Freie europäische Staaten vom atlantischen Meer bis zur Ostgrenze Polens würden auch für das russische Volk eine größere Friedensgarantie bieten als die Unterjochung der Mittelzone Deutschlands und der osteuropäischen Staaten.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)



Rede von Dr. Eugen Gerstenmaier
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gille.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Alfred Gille


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (GB/BHE)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (GB/BHE)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemand ist wohl mit hochgespannten Erwartungen an den Beginn der Genfer Konferenz herangetreten, aber eine starke innere Anteilnahme hat uns wohl alle bewegt. die wir von Deutschland aus das Auf und Ab des Ringens in Genf beobachten konnten. Zu hochgespannten Erwartungen war schon kein Anlaß mehr, als der von den vier Regierungschefs beschworene Geist von Genf sich bereits wenige Stunden nach dem Abschiedsgruß zu verflüchtigen begann. Die Äußerungen, die Herr Bulganin und sein Begleiter bei dem Besuch in Pankow von sich gaben, ließen erkennen, daß das Ringen der vier Außenminister um die Verwirklichung der Direktiven im Oktober doch zu besonderen Erwartungen nur wenig Anlaß geben würde.
    Das Ergebnis liegt nun vor uns, und der eingehende Bericht des Herrn Bundesaußenministers hat


    (Dr. Gille)

    uns noch einmal den ganzen Ablauf der Geschehnisse vor Augen geführt. Ich empfehle jedem, die ausgezeichnete Materialzusammenstellung unseres Auswärtigen Amts einmal wirklich in einer ruhigen Stunde allein für sich zu studieren. Es ist daraus viel zu entnehmen. Ohne ein sorgfältiges Studium alles dessen, was dort von westlicher und von östlicher Seite zum Deutschlandproblem gesagt worden ist, finden wir keine sichere Grundlage eines eigenen Urteils. Abgesehen davon ist es geradezu ein Lehrbuch für dialektische Verdrehungskünste.
    Die Arbeitsgrundlage der vier Außenminister war eine Direktive, auf die sich die Regierungschefs geeinigt hatten. Es ist nicht zu verkennen, daß bei der Formulierung dieser Direktive ein Kompromiß zustande gekommen war. Bei dem Ringen urn diesen Kompromiß sind eben Formulierungen hineingekommen, die keineswegs so eindeutig und unmißverständlich waren, daß sie Herrn Molotow nicht die Möglichkeit gaben, stunden- und stundenlang über Tage hinweg Auslegungsstreitigkeiten über die Direktive anzuzetteln, also über die Grundlage der ganzen Arbeit. Es nützte nichts, daß die Außenminister der drei Westmächte immer wieder darauf verwiesen, daß die Regierungschefs sich geeinigt hätten, Deutschland auf der Grundlage freier Wahlen zu vereinigen. Es nützte auch nichts, als der Außenminister Dulles Herrn Molo-tow darauf hinwies, daß Herr Bulganin derjenige war, der in dem Gespräch der vier Regierungschefs gesagt hatte, daß es ein „gewaltiger" Fortschritt sein würde, wenn man Deutschland auf der Grundlage freier Wahlen wiedervereinigen könne. Auf diese Argumente wußte Herr Molotow immer nur eine Entgegnung zu machen: Man verkenne die reale Lage, die sich im Laufe von zehn Jahren auf dem deutschen Gebiet entwickelt habe; es seien zwei selbständige souveräne deutsche Staaten entstanden. An einer Stelle seiner vielen Reden verstieg sich Herr Molotow sogar zu der Behauptung, es sei völlig irreal, anzunehmen, daß man die Sicherheit Europas in Verbindung bringen könne mit einem noch gar nicht existierenden deutschen Staat. Also Negativa über Negativa!
    Vielleicht gestattet mir der Herr Präsident, einige Sätze aus einem zusammenfassenden Urteil zu verlesen, das der englische Außenminister an einem der letzten Sitzungstage abgegeben hat. Diese zusammenfassende Darstellung gibt wohl den Eindruck der drei westlichen Außenminister über die grundsätzliche Haltung der Sowjetunion wieder. Es heißt dort: Was hat die Sowjetregierung denn tatsächlich gesagt? Das sagte Herr MacMillan in der Sitzung vom 9. November 1955:
    1. Deutschland kann nicht wiedervereinigt werden, ehe nicht die NATO und die Westeuropäische Union beseitigt sind.
    Wohlgemerkt: nicht etwa der Austritt Deutschlands aus der NATO und der Westeuropäischen Union, sondern die Beseitigung dieser Sicherheitsvorkehrungen insgesamt!
    Die Sowjetregierung ist bereit, das Glück, die Einheit und die Unabhängigkeit des deutschen Volkes als Schachfiguren in ihrem auf Zerschlagung des westlichen Verteidigungssystems gerichteten Spiel zu benutzen.
    2. Selbst wenn die NATO und die WEU — so sagte Herr MacMillan —
    vernichtet werden sollten, würde die Sowjetregierung immer noch nicht dem deutschen Volke Freiheit und Unabhängigkeit geben. Selbst dann wird für das deutsche Volk keine Wahl bezüglich seiner Zukunft bestehen. Es muß das abscheuliche System annehmen, das Ostdeutschland aufgedrängt wurde, oder widrigenfalls weiterhin geteilt bleiben.
    Das ist der Eindruck, den auch die beiden anderen westlichen Außenminister mit ähnlichen Worten — und zwar nach meiner Auffassung zutreffend — wiedergegeben haben, der Eindruck davon, was Sowjetrußland in Wahrheit auf der Genfer Konferenz gesagt, gefordert und verlangt hat.
    Wenn wir, um einen eigenen Standpunkt zu finden, nun das Ergebnis von Genf noch etwas genauer betrachten, dann möchte ich von zwei Eindrücken sprechen, die wir bei dem Studium der Reden gewinnen. Der eine Eindruck enthält zweifellos eine Reihe beachtlicher Positiva. Die drei Außenminister der Westmächte sind nicht müde geworden, immer wieder neue Argumente herbeizutragen, um das Unrecht der zehn Jahre währenden Spaltung Deutschlands vor Augen zu stellen und nachzuweisen, daß ohne die Wiederherstellung eines einheitlichen deutschen Staates keine Sicherheit für Europa denkbar ist. Auch meine politischen Freunde stehen nicht an, für diese Haltung der drei Westaußenminister ein Wort des Dankes zu sagen.

    (Beifall beim GB/BHE und bei Abgeordneten der Regierungsparteien.)

    Dieser Dank soll in keiner Weise herabgemindert werden, wenn ich mir gestatte, darauf hinzuweisen — was Herr Kiesinger uns vor etwa einer Stunde hier mit sehr gewichtigen Argumenten vortrug —, daß wir uns in der glücklichen Lage befanden, daß unser deutsches Interesse mit dem Interesse der westlichen Alliierten übereinstimmte. Ich meine, diese Feststellung sollten wir im Auge behalten.
    Wir sollten des weiteren bedenken, daß die westlichen Alliierten eine doppelte Verpflichtung in der Deutschlandfrage tragen,

    (Sehr richtig! beim GB/BHE)

    einmal die Verantwortung als Besatzungsmächte — deren sie sich auch bewußt sind; das ist auch in Genf zum Ausdruck gekommen —, und zum anderen die vertraglichen Verpflichtungen, die sie gegenüber der Bundesrepublik in den Pariser Verträgen bzw. in der Londoner Schlußakte übernommen haben.

    (Sehr gut! beim GB/BHE.)

    Das sollte man nicht vergessen, wenn man hier ein Wort des Dankes ausspricht; denn wir sollten nicht so leicht glauben, daß diese so sehr positive und für uns begrüßenswerte Haltung uns auch dann erhalten bleiben wird, wenn einmal die Entwicklung dahin gehen sollte, daß das westliche Sicherheitsbedürfnis nicht mehr hundertprozentig mit den Besorgnissen und Wünschen der Bundesrepublik oder gar Gesamtdeutschlands zusammenfällt.

    (Abg. Dr. Keller: Sehr wahr!)

    Das ist eine Einschränkung, die an dieser Stelle doch wohl nötig ist.
    Herr Bundeskanzler, Sie haben heute ein Wort gesprochen, das ich nicht ganz unwidersprochen


    (Dr. Gille)

    hinnehmen möchte oder das ich wenigstens für aufklärungsbedürftig halte. Sie meinten, daß wir hinsichtlich der öffentlichen Behandlung der Deutschlandfrage zwischen Szylla und Charybdis hindurchzusteuern versuchen müßten. Wir müßten einmal dafür sorgen, daß man die Deutschlandfrage in der internationalen Politik nicht vergißt und nicht in die Schublade legt; aber wir müßten auch verhindern, daß die freie Welt der Behandlung dieser Frage einmal überdrüssig werde. Verehrter Herr Bundeskanzler, hier scheint mir ein Widerspruch vorzuliegen. Der Herr Außenminister und auch Herr Kiesinger wiesen darauf hin — und ich halte das für zutreffend —, daß das Sicherheitsbedürfnis der freien Welt mit den Sicherheitsinteressen und den Wiedervereinigungsinteressen Deutschlands übereinstimme. Ich kann mir deshalb beim besten Willen nicht vorstellen, wann die freie Welt einmal dieser Haltung überdrüssig sein sollte. Ich möchte meinen, das ist doch kaum denkbar. Deshalb halte ich diese These des Herrn Bundeskanzlers nicht für richtig und meine, daß das deutsche Volk in allen seinen Gliederungen, in allen seinen politischen Richtungen, aber auch in allen seinen gesellschaftlichen Zusammenschlüssen die große Verpflichtung hat, von sich aus dafür zu sorgen — auch wenn die Nerven der anderen strapaziert werden sollten —, daß das Gespräch über die Deutschlandfrage niemals zum Verstummen kommt.

    (Beifall beim GB/BHE.)

    Auf den Zeitpunkt, wo die andern dessen einmal überdrüssig werden sollten, können wir getrost warten. Dann muß sich die Weltlage doch sehr stark geändert haben, dann muß das große gemeinsame Interesse nicht mehr vorhanden sein. Für Deutschland wäre es traurig, wenn diese Stunde eines Tages käme.
    Völkerrechtliche Verträge scheinen immer dann am haltbarsten zu sein, wenn die Interessenlage der beiden Vertragspartner übereinstimmt. Die eigentliche Bewährung der Loyalität und der Vertragstreue beginnt erst in dem Augenblick, wo die Interessenlage einmal schwierig zu werden beginnt.

    (Sehr gut! beim GB/BHE.)

    Deswegen sollten wir das Wort von der Vertragstreue, von der Loyalität und von dem Danksagen nicht so sehr in einer Zeit verbrauchen, in der die loyale Haltung selbstverständlich ist, weil sie vom eigenen Interesse bestimmt wird, sondern wir sollten uns dieses Wort für eine Zeit aufsparen, wo wir vielleicht einmal von der freien Welt verlangen müssen, daß sie auch unter Einschränkung ihrer eigensten Interessen hier den Vorposten der freien Welt gegen den Osten stützen muß, auch wenn sie einmal echte Opfer zu bringen genötigt sein könnte.

    (Beifall beim GB/BHE.)

    Die zweite Seite des völlig negativen Eindrucks, von dem ich schon sprach, ist, daß zum erstenmal von der Sowjetunion ex officio auf einer Konferenz das Argument für ihren Widerstand gegen die sofortige Wiedervereinigung angeführt wurde, ein Argument, mit dem sie sich nunmehr in innerpolitische deutsche Verhältnisse einmischt. Niemand wird verkennen, was diese neue These für die Lösung der Deutschlandfrage bedeutet. Sie verschiebt die ganze bisherige politische Betrachtung in einem Maße, das wir im Augenblick vielleicht noch gar nicht zu erkennen vermögen; es sind nämlich immer noch Überlegungen darüber im Gange, wie ernst sie nun eigentlich gemeint sei. Ich möchte meinen, wir handeln klug, wenn wir diesen Wunsch und diese Forderung der Sowjetunion sehr, sehr ernst nehmen und uns nicht mit einer gewissen Leichtigkeit über diese Dinge hinwegsetzen und glauben, daß sehr bald eine Stunde schlagen werde, in der die Sowjetunion von ihren großen ideologischen Zielsetzungen abgehen werde.
    Auch meine politischen Freunde stellen mit Dankbarkeit fest, daß alle Redner heute im Hause so völlig unmißverständlich die Meinung zum Ausdruck brachten, der auch wir sind, daß die Frage der Gestaltung der freiheitlichen Zukunft Gesamtdeutschlands nie und nimmer ein politisches Handelsobjekt für die Bundesrepublik sein könne.

    (Beifall beim GB/BHE und in der Mitte.)

    Das ist eine böse Bilanz, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, um die richtigen Wege zu finden.
    Welche Folgerungen sind nun zu ziehen? Ich glaube dem Herrn Bundesaußenminister zustimmen zu sollen, der sagte: Eine Folgerung müssen wir bestimmt ziehen, wir dürfen nicht in Resignation verfallen. Dazu ist manches zu sagen. Ich will mich nicht wiederholen, möchte aber meinen, daß wir eine zweite Folgerung ziehen sollten. Es geht hier nicht darum, wer recht hat, wer recht behält oder wer einmal recht oder unrecht gehabt hat, sondern darum, uns angesichts der bitterbösen Bilanz von Genf endlich in dem ehrlichen Willen zusammenzusetzen, durch gemeinsames Ringen und Suchen die gangbaren Wege für die Wiedervereinigung zu finden.

    (Beifall beim GB/BHE.)

    Deshalb möchte ich gleich an dieser Stelle den Herrn Bundesaußenminister — und ich weiß, daß das der Wunsch aller Fraktionen ist — sehr herzlich bitten, den Auswärtigen Ausschuß endlich einmal zu dem zu machen, was er eigentlich sein soll, nämlich zu dem Gremium, in welchem von den politischen Kräften des Bundestages die wirklichen Probleme ausgetragen und erörtert werden können.
    Ein einziges Mal, Herr Bundesaußenminister, seit Ihrem Amtsantritt haben Sie uns die Freude gemacht; das war in der vorletzten Sitzung.

    (Zuruf: Er ist gar nicht anwesend!)

    — Das interessiert nicht; das werden die Herren sicherlich sorgfältig nachlesen. Er hat uns einmal die Freude gemacht; ich glaube, es war in der vorletzten Sitzung. Ich weiß, mit welch einem guten Eindruck alle Mitglieder des Ausschusses nach Hause gingen. Ich habe die Ehre, nunmehr zwei Jahre dem Auswärtigen Ausschuß anzugehören. Die Sitzung, von der ich soeben sprach, ist die einzige, in der eine Aussprache stattfand, die man überhaupt als eine politische Aussprache bezeichnen kann.

    (Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Aachen] : Wann ist das gewesen?)

    — Die vorletzte Sitzung, gnädige Frau, jedenfalls bereits unter der Amtsführung des Herrn Bundesaußenministers.

    (Zuruf von der Mitte.)

    — Entschuldigen Sie mal, wir sprechen hier über Außenpolitik, und ich habe weiter nichts gesagt, als daß ich den Wunsch habe — und Sie können


    (Dr. Gille)

    sicher sein, den werden alle Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses genau so empfinden —, im Auswärtigen Ausschuß mehr, als das in der Vergangenheit der Fall war, zu echten politischen Aussprachen zu kommen. Es sind heute so viele Anregungen — nicht fertige, nicht perfekte Vorschläge, aber Anregungen — aus dem Hause heraus vorgetragen und auch in der öffentlichen Diskussion gegeben worden, daß der Auswärtige Ausschuß genügend Material hätte, mit dem er sich in einer echten, ehrlichen, offenen Aussprache beschäftigen sollte.
    Der zukünftige Status Gesamtdeutschlands hat auch heute wieder in der Aussprache eine Rolle gespielt. Ich bin der Auffassung, daß wir hier häufig aneinander vorbeireden. Der Begriff des zukünftigen Status Gesamtdeutschlands hat mindestens drei Seiten. Es kommt darauf an, von welcher Seite man den Komplex ansieht. Wenn man sich nicht darüber verständigt, redet man aneinander vorbei.
    Es geht einmal um den völkerrechtlichen Status. Dazu gehören auch die Fragen der endgültigen Grenzziehung. Zum andern handelt es sich um den innerpolitischen Status, der durch den neuen Vorschlag der Sowjetunion interessant geworden ist, und drittens um den militärischen Status.
    Der Bundestag hat in den letzten Jahren in Entschließungen mehrfach, und zwar völlig einmütig, gefordert, daß Gesamtdeutschland hinsichtlich seines Status die völlige Entscheidungsfreiheit behält. Meine Damen und Herren, wir sind der Meinung, daß diese These, die sicherlich viel für sich hat, einmal daraufhin überprüft werden muß, ob sie in jeder Hinsicht der Kritik standhält.
    Soweit es sich um den völkerrechtlichen Status und die Frage der Grenzziehung handelt, möchten wir zuversichtlich hoffen, daß niemals die Stunde kommt, in der die freie Welt an die Bundesrepublik etwa das Ansinnen stellt, als Bundesrepublik in dieser Frage irgendeine Entscheidung — und sei es auch nur in Teilfragen —, die Gesamtdeutschland vorbehalten ist, vorwegzunehmen. Wir möchten ebenso zuversichtlich hoffen, daß es in keinem frei gewählten deutschen Parlament einmal möglich sein wird, über diese Frage der Entscheidungsfreiheit hinsichtlich des völkerrechtlichen Status Gesamtdeutschlands mit sich reden und handeln zu lassen.

    (Beifall beim GB/BHE.)

    Ich brauche nicht weiter anzudeuten, aus welchem Grunde das gerade mir als Heimatvertriebenem besonders am Herzen liegt.

    (Zurufe vom GB/BHE: Deshalb ist ja niemand da! — Ihre Ausführungen gehen ja ins Leere! — Abg. Feller: Die Bundesregierung interessiert sich offenbar nicht für unsere Meinung!)

    — Meine lieben Freunde, wir werden das nur zur Kenntnis nehmen können. Vielleicht blendet inzwischen einmal der Fernsehfunk auf, um das „Interesse" des Herrn Bundeskanzlers und der Bundesregierung zu zeigen, wenn der erste Heimatvertriebene am heutigen Tag in dieser Frage das Wort nimmt.

    (Lebhafter Beifall beim GB/BHE.)

    Ich habe meinen Blick immer nach vorne gerichtet,
    so daß ich diese Behandlung bisher nicht bemerkt
    habe. Aber, meine lieben Freunde, das scheint ein
    Test dafür zu sein, was der Herr Bundeskanzler und seine Regierung davon halten, wenn ein Heimatvertriebener aus seinem Herzen heraus zu diesen Dingen in dieser Stunde das Wort nimmt. Wir werden uns das merken müssen.

    (Pfui-Rufe in der Mitte.)

    — „Pfui, pfui" rufen Sie nicht mir zu, sondern denen, deren Verhalten ich in dieser Form leider kritisieren mußte!

    (Abg. Spies [Emmenhausen] : Das ist doch eine Unterstellung sondergleichen! — Lebhafte Zurufe von der Mitte.)

    — Sie halten das für eine Unterstellung? (Weiterer Zuruf von der Mitte.)

    — Nun seien Sie mal ganz ruhig! Über Sie, Herr Dr. Rinke, ist in Kreisen der Heimatvertriebenen schon lange das letzte Wort gesprochen.

    (Sehr gut! und Lachen beim GB/BHE.)