Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bekam gestern morgen aus Hessen eine Karte mit der Bitte, zu prüfen, ob es nicht möglich wäre, zu verhindern, daß diese Sitzung durch den Rundfunk übertragen wird; denn es mache doch einen sehr schlechten Eindruck, wenn hier die Parteien sich in solchen Lebensfragen unserer Politik miteinander stritten. Diese Karte hat mich in meiner Absicht bestärkt, einmal alles das hervorzuheben, in Leitsätze zusammenzustellen, was uns in diesen Fragen einigt. Ich möchte zu diesem Zweck einmal alles das, was sich an innerpolitischen Streitigkeiten, an Parteidifferenzen, an taktischen oder aus Intrigen geborenen Vorgängen ereignet hat, völlig beiseite schieben und nur über diese Lebensfragen unserer Nation sprechen, in dem Bestreben, eine Grundlage für eine einige, geschlossene Auffassung herbeizuführen.
Ich beginne mit der Saar. Nachdem die Deutschen an der Saar den Mut gehabt haben, zum Saarstatut nein zu sagen, sagte mir einer der älteren dortigen Politiker: Was wäre aus uns, die wir für ein Nein gekämpft haben, geworden, wenn wir in der Minderheit und die bisherige separatistische Regierung am Ruder geblieben wäre?
An diese Worte sollten wir in Deutschland denken. Wir machen uns oft viel zu wenig klar, welcher Mut von den Vorkämpfern an der Saar aufgebracht worden ist. Wir sollten diesen Mut als Ansporn für uns und im Gedenken an Berlin und die Sowjetzone in dem Sinne werten, daß ein jeder echte Demokrat da, wo es not tut, einen solchen Mut betätigen sollte; denn ohne mutige Demokraten gibt es keine Demokratie.
Mit dieser Volksabstimmung ist die Entscheidung der höchsten demokratischen Instanz gefallen. Diese Entscheidung wird beachtet werden müssen. Nach Ablauf einer Übergangszeit, welche auch von den deutschen Parteien an der Saar einmütig vorgeschlagen wird, muß die Saar Teil der Bundesrepublik werden. Die Übergangszeit müßte genau begrenzt sein. Ob dann die Saar als eigenes Bundesland — oder in welcher Form sonst — zurückkehrt, muß mit den Saarländern abgesprochen werden.
Mit ihrer Abstimmung haben die Menschen an der Saar aber auch einen in sich zweideutigen Vertrag, wie Paul Reynaud einmal sagte: einen „procès-verbal de désaccord", d. h. eine Dokumentation innerer Widersprüche, beseitigt. Damit ist die Bahn frei, im Einvernehmen mit den Deutschen an der Saar und mit unseren französischen Nachbarn einen klaren und unzweideutigen Vertrag abzuschließen. Die Grundlage dieses Vertrages, welcher den wirtschaftlichen Interessen Frankreichs Rechnung tragen soll und wird, werden Vorschläge etwa in dem Sinne sein können, wie sie im vergangenen Frühjahr von den Ministern Preusker und Blücher hier gemacht worden sind.
Ein solches Abkommen muß auch vorsehen — und darauf möchte ich die Aufmerksamkeit lenken —, daß, soweit reparationsähnliche Verpflichtungen übernommen werden, diese nicht von der Saar allein, sondern von Gesamtdeutschland zu tragen sind. Wenn wir demnächst im Außenpolitischen Ausschuß über diese Fragen sprechen, sollte es möglich sein, eine gemeinsame Plattform zu schaffen. Das wäre unser Wunsch hierzu.
Nun zur Frage der Wiedervereinigung und der Ost- und Westbeziehungen. Auch hier möchte ich versuchen, zunächst das, was uns einigt, zusammenzufassen. Ich möchte weiterhin auch nicht versäumen, den Ernst der Situation, in der wir uns befinden, gebührend hervorzuheben.
Lassen Sie mich damit beginnen, daß wir alle ohne Unterschied in diesem Hause den Wunsch haben, daß der Rest der Gefangenen und auch die Zivilinternierten, die noch nicht zurückgekehrt sind, nun sehr bald zurückkommen.
Wir unterstützen die Bemühungen der Regierung nach dieser Richtung hin. Wenn wir nur noch eine einzige Begründung hinzufügen wollen, dann ist es die: denn es ist bald Weihnachten.
Und dann zum zweiten. Das deutsche Volk wünscht nichts sehnlicher als eine lange Periode des Friedens. Das Ausland, das uns oft noch für ein militaristisches Volk hält, sollte sich darüber klarwerden, welch eine große innere Wandlung in diesem deutschen Volk vor sich gegangen ist, eine Wandlung, geboren in dumpfen Luftschutzkellern in langen Bombennächten, geboren auf der Flucht vor Feuersäulen, die durch die Gassen der Großstädte rasten, geboren aus der Erkenntnis, daß es unendlich viel wertvoller ist, materielle Güter dieser Welt für Zwecke friedlicher Forschung, wirtschaftlicher Weiterentwicklung, Wohnungsbauten und soziale Besserstellung zu verwenden als für kriegerische Zwecke. Und endlich: unsere Jugend wird wie die Jugend anderer Völker für die Verteidigung der Heimat im Ernstfall ihre Pflicht tun, wie es ihre Väter und Vorväter getan haben. Aber sie drängt sich nicht zu den Waffen. Wir sind nicht die Militaristen, als die wir verschrien werden.
Und zum dritten. Das deutsche Volk weiß — und auch darüber sind wir wohl alle einig —, daß Deutschland nicht als schwacher Staat allein mitten in Europa zwischen Ost und West stehen kann. Versuche Deutschlands in der Vergangenheit, eine Einzelstellung inmitten Europas durchzuhalten, waren schon zu den Zeiten, als die europäischen Mächte und auch Deutschland noch Mächte waren, weder von Dauer noch von Erfolg.
Viertens. Wir sind nach unserer Erziehung und unserer Tradition, nach unserer Art zu leben und auf Grund unserer außenpolitischen Erfahrungen insbesondere in den letzten zehn Jahren, auf ein Zusammenstehen mit dem Westen angewiesen. Wir werden selbstverständlich auch dabei bleiben. Geographisch liegen wir nun freilich mitten in Europa zwischen Frankreich und Rußland. Die Westmächte werden dafür Verständnis haben, daß unsere Außenpolitik auch dieser geographischen Lage Rechnung tragen muß.
Fünftens. Wir haben aus der Erkenntnis unserer Schwäche und unserer unsicheren Lage die Pariser Verträge abgeschlossen, also, wie ich für meine politischen Freunde betonen möchte, zu unserer Sicherheit, nicht aus einer Politik der Stärke heraus. Wir werden aus dieser Politik unserer Sicherheit und in loyaler Vertragstreue zu unseren Verbündeten die Pariser Verträge einhalten. Ich darf hier zu meiner Freude feststellen, daß meine Vorredner die gleiche Erklärung abgegeben haben. Wir werden sie einhalten, so wie wir — und das möchte ich gerade auch für meine politischen Freunde hervorheben — ernstlich bemüht sind, diese Verträge auch praktisch — allerdings mit Sorgfalt — durchzuführen.
Gerade die Tatsache, daß wir, unterstützt von auf diesem Gebiete besonders sachkundigen Parteifreunden, uns ernstlich und eingehend mit dieser Aufgabe befassen, sollte dafür, daß wir zu diesen Verträgen stehen, Beweis genug sein und auch gewesen sein.
Wenn eine zukünftige politische Entwicklung eine Abänderung dieser Verträge nötig machen sollte — die Revisionsmöglichkeit ist ja im Deutschland-Vertrag vorgesehen —, dann werden sie vielleicht abgeändert werden müssen, selbstverständlich in Übereinstimmung mit den Vertragspartnern. Auch darüber hat sich heute morgen Übereinstimmung ergeben.
Aber das ist alles schon so oft ausgesprochen worden, daß es eigentlich nicht nötig sein sollte, es immer wieder zu wiederholen. Ich glaube, wenn ich das hier einfügen darf: wir treiben in der Außenpolitik viel zu sehr eine Politik der Untersuchung der Methoden, statt auf den Kern zu kommen.
Als wir die Pariser Verträge abschlossen, kannten wir die Erklärung der Sowjetunion, daß dadurch nach ihrer Meinung die Wiedervereinigung verhindert würde. Wir haben gleichwohl abgeschlossen, und zwar aus den zuvor genannten Gründen, also im Interesse der Sicherung Deutschlands und der Freiheit seiner Bewohner. Wir haben aber andererseits von der Seite der Sowjetunion noch nie gehört, daß, wenn wir die Pariser Verträge nicht abschlössen oder sie aufkündigten, die Wiedervereinigung mit unserer Mittelzone so erfolgen würde, daß das künftige Leben Gesamtdeutschlands auf der Grundlage demokratischer Freiheit im westeuropäischen Sinne gesichert wäre.
Zum weiteren: Die ehemaligen Siegerstaaten einschließlich Sowjetrußlands haben im Potsdamer Kommuniqué bindend proklamiert, daß ein einheitlicher deutscher Staat fortbestehe. Sie haben damit in dieser Richtung eine Rechtsverpflichtung für sich übernommen und einen Rechtsanspruch für uns begründet. Es ist wahrlich an der Zeit, daß zehn Jahre nach der Festlegung dieser Grundsätze nun ein Friedensvertrag geschlossen wird. Es ist insbesondere ein geradezu grotesker Zustand, daß einer großen Nation zehn Jahre nach Beendigung der Feindseligkeiten noch ihre Hauptstadt Berlin vorenthalten wird und daß diese Stadt aufgespalten bleibt.
In der Atlantikcharta vom 14. August 1941 haben die Alliierten sich verpflichtet, für ihre Länder keinen Gewinn territorialer Art zu suchen und keinen territorialen Veränderungen zuzustimmen, die nicht den in Freiheit ausgesprochenen Wünschen dieser Völker entsprechen. Sie haben sich ferner verpflichtet, das Recht aller Völker zu beachten, diejenige Regierungsform zu wählen, unter der sie leben wollen, und sie haben sich weiter verpflichtet, dafür einzutreten, daß Souveränitätsrechte und eine eigene Regierung all den Völkern zurückzugeben sind, denen sie gewaltsam genommen worden sind. Diese Atlantikcharta ist durch die nie abgeänderte und nie widerrufene Erklärung der Alliierten auf der Krimkonferenz vom 12. Februar 1945 eine konkrete völkerrechtliche Verpflichtung auch für Sowjetrußland geworden. Sie ist dann auch in die erste Deklaration der Vereinten Nationen aufgenommen und damit allgemeingültiges Recht geworden.
Wir können nur immer wiederholen, daß wir alle Völker, die diese Verpflichtung übernommen haben, an diese ihre Zusage gebunden halten. Wir danken aber in diesem Zusammenhang auch unsererseits den Regierungen und Völkern der Westmächte für die Energie, mit der sie zu wiederholten Malen in Durchführung dieser Grundsätze für Deutschland, für Berlin und für den Gedanken der Wiedervereinigung eingetreten sind.
Wir hoffen sehr, daß sie, auch weiterhin gestützt auf die Zustimmung ihrer Völker und zugleich im eigenen Lebensinteresse ihrer Völker, uns weiter unterstützen.
Ich danke zugleich aber auch den Mitgliedern des Europarates, insbesondere Herrn de Menthon, für die verständnisvolle Art, in der sie immer für diese Frage der Wiedervereinigung eingetreten sind.
Sechstens. Der genaue Status eines künftigen Gesamtdeutschland wird in einem zukünftigen Friedensvertrag ausgehandelt werden, d. h. insbesondere in Übereinstimmung aller vier vormaligen Besatzungsmächte. Er wird auch unter Zustimmung Deutschlands ausgehandelt werden müssen, er wird ausgehandelt werden müssen nach den zuvor genannten, erstmals in der Atlantikcharta ausgesprochenen Grundsätzen. Weil viele zustimmen müssen, gibt es kein Rezept eines einzigen, von dem man mit Sicherheit sagen könnte, daß das das Rezept wäre, nach dem die Dinge zu meistern wären.
Erst dieser so ausgehandelte zukünftige Status Gesamtdeutschlands wird dann auch die Grundlage dafür geben, in welchem Umfang und in welcher Weise Gesamtdeutschland endgültig militärisch organisiert sein wird. Diesen Gedanken hat der Deutsche Bundestag in seiner Drucksache 1201 Ziffer 5 durch Beschluß vom 26. Februar 1955, den er vor wenigen Wochen hier neu bestätigt hat, wie folgt formuliert:
Der Deutsche Bundestag fordert, es möge so bald wie möglich ein Friedensvertrag mit Deutschland geschlossen werden, der in gleicher Weise für die beteiligten Mächte wie für die in ihren Entschlüssen freie gesamtdeutsche Regierung annehmbar wäre.
Wir — und ich auf Grund persönlicher Erfahrungen — haben das Vertrauen zu dem Außen-
minister von Brentano, daß es seiner Geschicklichkeit und seiner Wendigkeit gelingt, bei derartigen Verhandlungen das für Deutschland herauszuholen, was sich nur herausholen läßt.
Und dann weiter: Es dürfte wohl auch bei niemandem in Deutschland ein Zweifel darüber bestehen, weder nach der ersten Konferenz von Genf mit ihrem Lächeln und ihren Freundlichkeiten noch — erst recht nicht — nach der zweiten Genfer Konferenz, daß das Endziel der kommunistischen Zentrale auch weiterhin darin besteht, die ganze Welt dem Kommunismus nach und nach zu unterjochen. Totalitäre Systeme, auf welchem Gebiet sie auch bestehen mögen — und wir Deutschen haben unsere Erfahrungen gesammelt —, bleiben immer ihrem Endziel treu. Sie machen zwar Pausen, sie schließen zwar auch Verträge, die dieses Endziel scheinbar vergessen oder übersehen lassen, sie halten auch ernstlich solche Verträge, aber gespannteste Wachsamkeit bleibt auch dann immer nötig.
Nun ist die große Frage aufgetaucht: Soll man gleichwohl mit Sowjetrußland sprechen oder verhandeln oder nicht?, wobei ich als selbstverständlich unterstelle, daß auch bei allen derartigen Besprechungen oder Verhandlungen niemals die Loyalität gegenüber unseren Bundesgenossen irgendwie außer acht gelassen werden dürfte.
Das ist heute morgen auch schon mit Recht betont worden; aber es entspricht wohl nur einer gewissen Primitivität der deutschen politischen Diskussion auf diesem Gebiet, wenn auch dieser Zusatz immer wieder öffentlich gemacht werden muß.
Wir haben mit Moskau diplomatische Beziehungen angeknüpft. Das bedeutet an sich nichts Neues und auch gar nichts Erschütterndes, auch nicht gegenüber dem Ausland; denn jedes souveräne Land unterhält nach allen Seiten hin diplomatische Beziehungen und nimmt in politischen Gesprächen seine Interessen wahr. Es liegt in der Natur der Dinge, daß ein deutsches diplomatisches Auftreten in Ländern, zu denen bisher keine Beziehungen bestanden haben, zunächst der beiderseitigen Information und anschließend daran allenfalls der Pflege geistigen und wirtschaftlichen Kontaktes dienen wird. Wir haben in der deutschen Öffentlichkeit in der letzten Zeit wiederholt sehr feine Unterschiede definieren hören über Besprechungen und Verhandlungen, vollständige oder unvollständige Beziehungen, darüber, ob und über welche Themen nun verhandelt oder nur gesprochen werden dürfe usw. Wir haben uns mit all dem tierischen Ernst, dessen der Deutsche in solchen Situationen fähig ist, einer solchen Diskussion hingegeben.
Ich glaube, wir kommen am ehesten zur Übereinstimmung, wenn wir uns auf die Worte eines Realpolitikers einigen. Diese Worte lauten:
Immerhin betrachte ich es doch als einen Fortschritt, daß Sowjetrußland diese Verpflichtung, die Einheit wiederherzustellen, anerkennt; ferner, daß wir, sobald wir diplomatische Beziehungen zu Sowjetrußland haben, in der Lage sind, nicht nur mit den drei westlichen Alliierten, sondern auch mit Sowjetrußland, dessen Stimme ja auch nötig ist, über die Prozedur
der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands zu sprechen.
Ich wiederhole: „über die Prozedur der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands zu sprechen."
Diese Worte sind in der Pressekonferenz, die der
Herr Bundeskanzler noch in Moskau über das Ergebnis der Konferenz abgehalten hat, von ihm ausgesprochen worden. Wir können uns dieser Feststellung des Herrn Bundeskanzlers nur anschließen.
Ob nun Gespräche oder Verhandlungen, meine Damen und Herren, zweierlei scheint auf jeden Fall als äußerste Grenze solcher Gespräche oder Verhandlungen festzustehen, und ich glaube auch hierüber Einigkeit feststellen zu können. Das eine ist: wir werden niemals die Souveränität und die Freiheit der Bundesrepublik und die Freiheit ihrer Bewohner für eine Wiedervereinigung im sowjetischen Sinne hergeben.
Das würde die Bolschewisierung ganz Deutschlands sein. Und zum zweiten: wir werden uns niemals auf die schiefe Ebene einer Verbindung kommunistischer und westlicher Elemente zu einer einheitlichen Regierung, auf deutsch: wir werden uns niemals zu dem Experiment einer Volksfrontregierung hergeben dürfen.
Lassen Sie mich zu den Punkten, von denen ich glaube, daß wir darin einig sein könnten oder werden könnten, noch einen letzten hinzufügen. In der Presse ist in der Tat nach der letzten Genfer Konferenz mehrfach der Gedanke aufgetaucht, daß es nunmehr mit der Wiedervereinigung aus sei und daß man dafür an die Integration Europas mit erneuten Kräften herangehen müsse. — Ich behaupte nicht, daß eine Partei das gesagt habe, ich habe nur von der Presse gesprochen. — Sie wissen, daß ich und mit mir sehr viele meiner Freunde viel für eine Vereinigung Europas getan haben. Wir haben nicht nur im Europarat mitgearbeitet. Ich habe persönlich im Studienkomitee der Europabewegung unter Vorsitz Spaaks an der Ausarbeitung einer europäischen Verfassung mitgearbeitet. Wir haben schließlich im Verfassungsausschuß unter dem Vorsitz unseres Herrn Außenministers von Brentano im Winter 1952/53 innerhalb der Frist von sechs Monaten, die uns die europäischen Minister seinerzeit gestellt hatten, den Entwurf einer europäischen Verfassung fertiggestellt. Ich werde immer mit Freude an diese Zeit der Zusammenarbeit mit ausländischen und deutschen Kollegen unter dem Vorsitz des Herrn von Brentano zurückdenken.
Wir fühlen uns dem Gedanken der europäischen Vereinigung auch weiterhin verpflichtet. Wir müssen uns nur über die Realitäten Klarheit verschaffen. Vorangetrieben wurde in jenen Jahren die europäische Vereinigung einmal durch die Unterjochung der europäischen Oststaaten, durch die Blockade Berlins, durch die Angriffe auf Nordgriechenland und auf Korea; das dadurch geschaffene Sicherheitsbedürfnis zwang und führte die Menschen in Europa zusammen. Sie wurde andererseits vorangetrieben durch den enthusiastischen Elan, der sich nach dem Kriege aller Völker Europas bemächtigt hatte, insbesondere auch der deutschen Jugend, die in der Vereinigung Europas ein neues, ein erstrebenswertes Ideal sah. Diese bei-
den Elemente — Sicherheitsbedürfnis auf der einen, Enthusiasmus auf der andern Seite — beflügelten die Arbeit derer, die für ein vereinigtes Europa eintraten.
Zwei Säulen waren gewissermaßen aufgerichtet, die Montanunion auf der einen Seite, die Verträge über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft auf der andern Seite. Auf diesen beiden Säulen und auf der noch zu errichtenden dritten Säule eines einheitlichen europäischen wirtschaftlichen Marktes sollte sich dann der Kuppelbau der europäischen Einheit wölben, an dem mitzuarbeiten wir hofften und glaubten.
Die Kriegsgefahr von damals hat sich für viele verflüchtigt. Man glaubt an eine Entspannung; die Angst ist vorbei. Die Menschheit ist satter geworden. Der Enthusiasmus der Jugend ist zwar noch vorhanden, aber er verflüchtigt sich wie jeder Enthusiasmus, der nicht sofort in Taten umgewandelt werden kann. Unser Verfassungsentwurf ist von den sogenannten Experten zergliedert, zerfetzt, versenkt worden. Von all den Säulen steht nur noch eine, die Montanunion als übernationale Organisation. Aber aus der Geschichte unseres Vaterlandes wissen wir, daß die Einigung Deutschlands lange Zeit gedauert hat, daß sie über Höhen und durch Tiefen führte und daß ein besonders starker Antrieb gerade aus der Zollunion des 1. Januar 1834 kam.
So glaube ich sagen zu dürfen, daß wir, wenn wir die Einigung Europas weitertreiben wollen, sie weniger in der Schaffung großer europäischer Bürokratien, die außerdem nicht ganz billig sind, suchen sollten, sondern daß wir etwa von der OEEC her, vom Wirtschaftlichen her, versuchen sollten, diese Entwicklung weiterzuführen.
Es ist in der deutschen Öffentlichkeit leider kaum bemerkt worden, daß unser verehrter sozialdemokratischer Kollege im Europarat Herr Dr. Mommer im Oktober dieses Jahres die Erklärung abgegeben hat, daß er und seine Freunde sich in Zukunft in besonderem Maße für eine Integration Europas einsetzen würden. Ich möchte namens meiner Freunde diese Erklärung auch hier sehr begrüßen.
Um aber Klarheit zu schaffen, muß gesagt werden, was vorhin auch zu unserer Freude schon ausgesprochen wurde: daß nicht die europäische Vereinigung jetzt etwa an die Stelle der Wiedervereinigung tritt. Es handelt sich — Herr Kiesinger hat es mit Recht gesagt — nicht um eine Alternative, nicht um eine Wahl zwischen dem einen oder dem anderen, sondern beides soll in Angriff genommen und gefördert werden. Das eine schließt das andere niemals aus.
Und nun, meine Damen und Herren, nachdem ich geglaubt habe feststellen zu können, daß wir in sehr zahlreichen Punkten einer Meinung sind, noch einige Ausführungen über den Ernst der Situation, über den man sich vielleicht in manchen Kreisen nicht einig ist.
Nach dem Ausgang der letzten Konferenz sieht es scheinbar mit der Frage der Wiedervereinigung trübe aus. Warum? Darf ich eine kleine Geschichte einflechten? Vor einiger Zeit erschien im Buchhandel ein Buch, auf dessen Titelblatt eine Dame in großer Abendtoilette und ein Herr im Frack abgebildet waren. Darüber stand: „Man benimmt sich wieder." Das bezog sich auf das gesellschaftliche Leben, vermutlich hier in Bonn, und man hat ja auch genügend Scherze über die neu auftauchenden Fräcke, die nach Maß geschneiderten und die geliehenen, gemacht. Aber hat sich mit diesem neuen Benehmen auch an den Menschen viel geändert?
Man benimmt sich auch wieder in der Außenpolitik. Worte wie „Whiskysäufer" von damals oder „Hyänen des Großkapitals" sind verschwunden. Man sagt sich Freundlichkeiten. Man lächelt. Man läßt sich zusammen fotografieren. Warum?
Die Politik der Sowjetunion ist dessen innegeworden, daß die sture Haltung der Politik Stalins den Westen zusammengeschweißt, daß Handlungen wie die Blockade Berlins, wie der Angriff auf Nordgriechenland, wie der Einbruch in Korea gerade erst die Verteidigungsorganisation des Westens nötig gemacht und veranlaßt haben. Man glaubt vielleicht, durch eine andere Handhabung politischer Sitten nun das, was man im Westen gegen sich zusammengeschaffen hat, wieder zu erweichen und aufzulösen. Es liegt an den Völkern des Westens, ob sie vergessen, hinter allen äußeren Freundlichkeiten das wirkliche politische Wollen der anderen zu erkennen, und ob sie vergessen, was an politischen Zielen dort vorhanden ist.
Es will uns scheinen, als wenn die russische Politik darauf ausginge, in einer Vielzahl von Konferenzen über die Frage der Wiedervereinigung den guten Willen der Westmächte, uns beizustehen, abzunutzen und in der öffentlichen Meinung der Westmächte, insbesondere Frankreichs und Englands, Ermüdungserscheinungen, ja darüber hinaus Erwägungen aufkommen zu lassen, ob die Wiedervereinigung Deutschlands für diese Staaten überhaupt von Vorteil wäre. Es liegt der sowjetrussischen Diplomatie offensichtlich daran, in der Weltöffentlichkeit den Gedanken aufkommen zu lassen: „Warum sollen wir uns mit dieser ewigen deutschen Frage immer noch beschäftigen! Laßt doch die Deutschen das unter sich ausmachen!" Und unter den Deutschen ist dann die Bundesrepublik einerseits und die sogenannte DDR andererseits zu verstehen. Wir glauben, die Politik der Sowjetunion ziele darauf ab, in der Frage der Wiedervereinigung Bonn und Moskau, und Moskau nur verborgen hinter Pankow, zu konfrontieren und sich allein gegenüberstehen zu lassen.
Wenn das so kommen sollte, dann, meine Damen und Herren, kommt für unser deutsches Vaterland, für seine politische Führung, aber auch für die moralische Haltung und Standhaftigkeit seiner Bewohner d i e große Bewährungsprobe.
Aber es naht zugleich für die Mächte des Westens auch eine große Gefahr.
Wir entsinnen uns noch alle, wie zum Schluß des zweiten Weltkrieges eine neue polnische Regierung geschaffen wurde durch die Zusammenfügung zweier Systeme. Auf Wunsch der Sowjetunion kam das sogenannte Lubliner Komitee, das heißt, die Kommunisten, in die gemeinschaftliche Regierung; auf Wunsch der Westmächte kamen die Exilpolen in diese gemeinschaftliche polnische Regierung. Beide wurden zusammengeschweißt - mit dem
Erfolg, daß Polen sehr bald kommunistisch und damit Satellit Rußlands war. Und daher kommt es, daß die Grenze der freien Welt nicht mehr bei Brest-Litowsk, sondern dicht östlich von Lübeck, Braunschweig und Kassel liegt.
Sollte, was Gott verhüten möge, einmal ein ähnliches Schicksal Deutschland beschieden werden, dann würde die Grenze der Freiheit an Rhein und Rhone, an der Schelde, am Kanal und in Kopenhagen liegen, und dann würden die Völker des Westens sich vielleicht daran erinnern, daß die Frage der Existenz Deutschlands doch auch von sehr großer, von entscheidender Bedeutung für die eigene Sicherheit wäre.
England und Frankreich können kein Interesse daran haben, daß mehrere ohnmächtige kleine Staaten den Raum in der Mitte Deutschlands ausfüllen. Nicht eine Menge schwacher Länder und Ländchen, sondern eine Betonmauer in Gestalt eines wiedervereinigten Deutschlands und eines geeinten Europas liegt im wohlverstandenen Interesse des Westens.
Man hat geglaubt, daß Rußland zu einer Wiedervereinigung dadurch zu bestimmen sei, daß man auf sein angebliches Sicherheitsbedürfnis eingehe und ihm zusätzliche Angebote nach der Richtung mache. Wie ist die Wirklichkeit? Rußland weiß, daß Deutschland nach den Pariser Verträgen höchstens 12 Divisionen haben darf. Rußland weiß, daß uns die ABC-Waffen, die Atomwaffen, die biologischen und die chemischen Waffen, verboten sind. Rußland weiß, daß wir keine Kriegsschiffe größeren Formats haben dürfen, daß uns Düsenflugzeuge verboten sind, daß die Größe unserer Luftwaffe — —
— Kommt, Kommt! Rußland weißt daß nach dem westeuropäischen Vertrag die Einhaltung dieser Beschränkungen vom Westen kontrolliert wird. Rußland weiß, daß unsere Divisionen nicht unter unserem Oberbefehl, sondern im Ernstfall unter dem NATO-Oberbefehl stehen. Rußland weiß, daß wir dem Westen zugesagt haben, keine Angriffe vorzutragen, und daß wir diese Beschränkungen selbst angeboten haben.
Rußland weiß andererseits, daß es selbst über 175 Divisionen ersten Aufgebots verfügt. Es weiß, daß seine Satellitenstaaten des europäischen Ostens etwa 80 Divisionen haben. Es weiß, daß die sowjetische Mittelzone sechs kasernierte Divisionen, dazu 80 000 Mann bewaffneter Fabrikwehr besitzt, daß es eine Luftflotte besitzt und daß eine neue Luftflotte hinzukommen soll. Rußland weiß weiter, daß infolge der Neutralität Österreichs eine neutrale Zone von Ungarn über Wien und Innsbruck bis Genf führt, daß also Verschiebungen von Norden nach Süden und von Süden nach Norden in Europa sehr erschwert sind.
Wo ist hier ein Bedürfnis nach Sicherheit? Ich glaube nicht, daß Rußland ernstlich Sorge vor einem wiedervereinten Deutschland hat. Rußlands Sorge, wenn es sie einst gehabt hat, ist verschwunden, seitdem es Düsenflugzeuge mit hohen Geschwindigkeiten und Raketen gibt, von denen die neuesten eine Reichweite bis zu 6000 km haben; und Rußland hat in den letzten Tagen durch eine neue Wasserstoffbombenexplosion der Welt zu Gemüte geführt, daß es auch auf diesem Gebiete mehr als aufgeholt hat.
Sicherheit in der ganzen Welt brauchen wir Deutsche und wir Europäer!
Man verhandelt über Sicherheitszonen, über neutralisierte Zonen, und was an ähnlichen Vorschlägen nicht alles vorgetragen wird. Wenn wir uns überlegen, daß ein Panzerkorps an einem Tage 300 km zurücklegen kann, wenn wir an die Geschwindigkeit der Düsenflugzeuge denken, wenn wir uns überlegen, daß die Transozeanraketen eine Stundengeschwindigkeit von 9000 bis 10 000 km haben und keinen Umweg um neutrale Zonen machen werden,
wenn wir uns überlegen, daß sich radioaktiver Staub bei Explosionen über weite Strecken unserer Erdoberfläche verbreitet, dann kommen wir doch zu dem Ergebnis, daß die Wirkung eines neutralisierten Streifens von 300 oder 400 km Breite praktisch in ein Nichts zusammenschrumpft.
Abrüstungsverhandlungen können noch Aussicht auf Erfolg haben; aber eine Diskussion über neutralisierte Zonen als Äquivalent gegen die Wiedervereinigung hat, wenigstens nach meiner persönlichen Oberzeugung, keinen Zweck. Ein kleines Beispiel: Sie wissen, daß die Radarstationen in der neuesten Vervollkommnung die Möglichkeit geben, etwa aus der Gegend von Hannover festzustellen, ob auf dem Hauptbahnhof in Basel Güterzüge oder D-Züge ausfahren und einfahren. Es gibt die Möglichkeit, das Herannahen überfallartiger Flugzeug- und Raketenangriffe schnellstens zu erkennen, allerdings auch nur um wenige, aber sehr entscheidende Minuten im voraus. Die Westmächte hatten jetzt in Genf angeboten, daß Rußland berechtigt sein soll, seine Radarstationen von östlich der Elbe nach Westen vorzuverlegen bis etwa an die Maas oder Schelde, und die Westmächte entsprechend umgekehrt. Das ist abgelehnt worden. Wo bleibt dann noch ein Sicherheitsbedürfnis Rußlands, wenn das Angebot beiseite geschoben wird?
Auf der Genfer Konferenz war ja erkennbar, daß Molotow die Erörterung über neutralisierte Zonen und über Sicherheitspakte praktisch beiseite geschoben und dafür die Diskussion nach einer anderen Richtung gelenkt hat. Nunmehr sprach er davon, daß die Errungenschaften der sogenannten DDR auch in einem vereinigten Deutschland aufrechterhalten bleiben müßten und daß diesen Errungenschaften des Ostens auch Eingang in den deutschen Westen verschafft werden müsse. Ich darf feststellen, daß wir einig darüber sind, daß von alledem nichts geschehen darf. Warum — das ist das einzige, was ich hervorheben will — laufen in immer steigendem Maße die Menschen, insbesondere die jungen Menschen, vor diesen Errungenschaften davon?!
In diesem Zusammenhang in ausdrücklichem Auftrag meiner politischen Freunde noch eine besondere Warnung. Die Juli-Konferenz von Genf hat von Rußland her gesehen den Zweck gehabt, ausfindig zu machen, wie weit der Westen im Ernstfall zu gehen bereit ist, nachdem Atomwaffen
und Wasserstoffbomben die Möglichkeit eines dritten Weltkrieges - vorsichtig ausgedrückt — ohnehin in sehr weite Ferne gerückt hatten. Viele haben den Eindruck gewonnen, daß Rußland im Juli von Genf mit der Überzeugung zurückgekehrt ist, daß der Westen keinesfalls zu einem solchen Widerstand schreitet, der einen dritten Weltkrieg mit allen seinen Folgen auslösen könnte. Ich glaube, daß umgekehrt der Westen die gleiche Feststellung hinsichtlich des Ostens getroffen hat. Man kann über diese Feststellungen nur sehr erfreut sein, denn sie zeigt uns, daß keine der beiden großen Mächtegruppen bewußt auf einen Weltkrieg mit allen seinen Schrecken lossteuert.
Neben allumfassenden Weltkriegen gibt es aber an kriegerischen Möglichkeiten Unternehmungen von sogenannter lokaler Natur, wobei der Begriff „lokal", geographisch gesehen, doch recht weit umschrieben werden kann. Korea, Indochina, der Gefahrenherd an der israelisch-ägyptischen Grenze sind auch in diesem Sinne lokaler Natur. Es besteht daher die Gefahr, daß die vermeintliche Sicherheit dahin, daß der andere Teil einen dritten Weltkrieg unter allen Umständen vermeiden will, gerade den Anreiz stärkt, diese oder jene lokale Unternehmung zu starten.
Auch vor dem zweiten Weltkrieg glaubten viele, daß z. B. die Entwicklung der Gaswaffen einen zweiten Weltkrieg unmöglich machen würde, und deshalb wurde bei diesem oder jenem Abenteurer der Gedanke wachgerufen, durch einen schnellen Krieg, einen sogenannten Blitzkrieg, Unternehmungen lokaler Natur schnell und sicher durchzuführen. Meine Freunde möchten mit diesem Hinweis warnend ihre Stimme erheben. Sie möchten darauf verweisen, daß der Übermut und die Leichtfertigkeit, die aus einer falschen Einschätzung der anderen und ihrer Haltung entstehen, gerade das herbeiführen könnten, was nach den Wünschen aller Völker vermieden werden sollte. Deshalb auch für uns eine Politik der Sicherheit, und deshalb auch unsere warnende Stimme an alle, die es angeht.
Was kann von uns Deutschen praktisch zur Wiedervereinigung beigetragen werden? Wir können auf die Rechtslage verweisen, auf das Potsdamer Abkommen mit der Verpflichtung zur Einheit, auf die Atlantik-Charta mit der Verpflichtung zur Freiheit, auf die Atlantik-Charta mit der Verpflichtung zur Herausgabe alles dessen, was ohne freiheitliche Zustimmung der Bewohner besetzt worden ist. Vielleicht darf ich noch ein Beispiel anfügen. Im Jahre 1954 ist auf der Konferenz von Genf, jener Konferenz, die über das Schicksal von Indochina entschied, das Land Vietnam, der östliche Teil von Indochina, geteilt worden. Es ist merkwürdig, daß alle Dinge immer geteilt werden: Deutschland, Korea, Vietnam und mit Deutschland Europa. Damals haben sich die kommunistischen Staaten Sowjetunion und China an diesem Vertragsabschluß, an dieser Teilung beteiligt und haben ihrerseits durchgesetzt, daß spätestens am 20. Juli 1956 in beiden Teilen dieses Landes freie Wahlen unter internationaler Kontrolle stattfinden müssen mit dem Zweck, daß die Wiedervereinigung des Landes und daß seine Verfassung für die Zukunft beschlossen werden kann. Ich habe mir erlaubt, gelegentlich einmal im Europarat darauf zu verweisen. Es war mir eine Freude, vor einigen
Tagen in der französischen Zeitung „Le Monde" den gleichen Hinweis zu finden: Warum würden nicht einmal die Westmächte in der Form einer sagen wir, nicht nur defensiven Diplomatie auch ihrerseits Vorschläge an den Osten in dieser Beziehung richten?
Noch eines dazu! Es wird richtig sein, alle Erörterungen der Zukunft über die Wiedervereinigung nicht im Rampenlicht der Öffentlichkeit vorzunehmen, weil diese Öffentlichkeit einer praktischen Erledigung der Arbeiten nur hindernd im Wege steht. Keiner will von seinem ursprünglichen Standpunkt in der Öffentlichkeit zuerst zurück. Eine nicht öffentliche Verhandlung führt nach aller Erfahrung weiter. Ein Näherkommen entgegengesetzter Ansichten ist nur in nicht öffentlichen Besprechungen zu erreichen. Möglicherweise hat die in der Öffentlichkeit nicht beachtete geheime Konferenz zwischen amerikanischen und chinesischen Unterhändlern in Genf sehr viel mehr an praktischem Erfolg gezeitigt als die letzte öffentlich geführte Genfer Konferenz vom Oktober/November dieses Jahres.
Aber wir haben auch nach der persönlichen Seite hin eine besondere Aufgabe gegenüber der Ostzone, und das ist die, daß wir, jeder einzelne von uns, uns bemühen, den Willen zum Durchhalten dort zu stärken. Da komme ich auf die Art zu sprechen, wie der von uns geschaffene Feiertag des 17. Juni eigentlich begangen werden sollte und wie er nicht gefeiert werden sollte. Was geschieht jetzt? Jeder benutzt den freien Tag, nimmt seinen Pkw oder sein Motorrad und rattert in die freie Natur; aber an die Menschen in der Ostzone wird in keiner Weise gedacht. Wir sind zu satt geworden, und Sattsein macht stumpf und träge!
Wie wäre es, wenn Glockengeläute an dem Tag zur Besinnung riefe, wenn um 12 Uhr zwei Minuten Verkehrsstille wäre, wenn in den Schulen der Bedeutung der besetzten Zone und ihrer Menschen gedacht würde und wenn jeder von uns — jeder nach seinem Vermögen — wenigstens an diesem Tage an die Menschen in der Ostzone ein Paket schickte?
Ich glaube, das wäre besser, als Spaziergänge und Spazierfahrten zu machen und zuzusehen, wie an diesem Tag drüben in der Zone die Menschen arbeiten müssen.
Wir Deutschen, die wir in Frieden mit allen Völkern dieser Erde leben wollen, sollten auch die Verbindung mit ihnen allen suchen. Der engere Ausbau unserer Beziehungen zu den Staaten des amerikanischen Kontinents, die Fühlungnahme mit den Völkern des Nahen Ostens und Asiens sollten unsere Aufgabe werden. Wir haben auch hier die Überzeugung, daß sich Herr von Brentano, der in der kurzen Zeit seiner Tätigkeit schon so manche glückliche Probe gegeben hat, auch dieser Aufgabe gern zuwenden wird. Wir begrüßen es, daß Herr Vizekanzler Blücher in Neu-Delhi vorsprechen will. Wir müssen uns um das, was in fremden Erdteilen vorgeht, auch kümmern, weil die Lösung der Frage der Wiedervereinigung vielleicht nur in globalem Rahmen möglich sein wird. Es muß uns aus wirtschaftlichen und aus politischen Gründen interessieren, was im vorderen und mittleren Orient vor sich geht, was sich an den Grenzen z. B. von Pakistan und Afghanistan ereignet,
welche Bewegungen in Tibet, in Sinkiang, in der Mongolei, in der Mandschurei vor sich gehen oder vor sich gegangen sind. Es könnte nützlich sein, die wirtschaftliche Entwicklung Chinas, es könnte ebenso nützlich sein, die Entwicklung der politischen Beziehungen Chinas und der Sowjetunion laufend und aus der Nähe zu beobachten. Es könnte auch zu empfehlen sein, unser geistiges Wissen und unser technisches Können in deutschen Schulen den unterentwickelten Ländern zur Verfügung zu stellen. Aufgaben bieten sich in dieser sich umgestaltenden Welt vielfältig an.
Nicht nur wegen der Frage der Wiedervereinigung, aber auch wegen dieser Frage und aus Gründen der allgemeinen Politik scheint es notwendig, noch über die engen Grenzen des uns beschäftigenden Problems der Wiedervereinigung hinaus einen Blick in ,die Welt zu werfen. Der französische Staatsmann Paul Reynaud sprach kürzlich in einem Vortrag in New York davon, daß das Zeitalter des Kolonialismus alten Stils vorbei sei. Große Gebiete haben sich in der Zwischenzeit selbständig gemacht. Seit etwa zehn Jahren geht durch die gesamte farbige Welt Asiens und Afrikas in immer wachsendem Maße ein Erwachen und Erstarken vor sich, verbunden mit einem Umlernen, mit einem Bewußtsein der eigenen Bedeutung, der eigenen Macht und der eigenen Zukunftsmöglichkeiten, dessen Ausmaß und dessen Wirken von den weißen Völkern dieser Erde noch nicht richtig gewürdigt wird. Ich erinnere mich — und ich glaube, unsere Mitglieder im Europarat werden sich erinnern —, wie im vergangenen Dezember der französische Abgeordnete aus Afrika, Herr Senghor, aufstand und sagte: Asien reckt sich, Afrika erwacht, und Europa zankt sich. Für die farbige Welt geht, im großen gesehen, gewissermaßen ein Zeitabschnitt zu Ende, den wir, auf Europa angewandt, als Mittelalter zu bezeichnen hätten. In den Zeiten der Renaissance und der Reformation, im Zeitalter der Entdeckungen und noch einmal im Zeitalter der französischen Revolution ging bei den Völkern Europas eine ähnliche Entwicklung vor sich, die ungeahnte Kräfte frei werden ließ und zu neuen gesellschaftlichen, zu neuen wirtschaftlichen und zu neuen politischen Formen und Machtgruppierungen geführt hat. Das, was in der farbigen Welt jetzt vor sich geht, muß dieser Entwicklung in Europa vor 400 Jahren und 150 Jahren gleichgestellt werden.
Um die Seele dieser farbigen Völker kämpft nun der freie Westen, kämpft der Block der kommunistischen Staaten. Der Block der kommunistischen Staaten bedient sich des Dranges der Völker Asiens und Afrikas, vom Joch des alten Kolonialismus frei zu werden, neue Lebensformen, neue Staatsgestaltungen für sich zu schaffen. Diesen Völkern wird der Kommunismus als der Weg gezeigt, der zur nationalen und wirtschaftlichen Freiheit führt. Das wahre Gesicht des Kommunismus verschwindet dort hinter der Maske des Befreiers, hinter der Maske des Bringers neuer glücklicher Zustände. Die weiße Welt steht demgegenüber den kommunistischen Mächten propagandistisch im Hintertreffen.
Es gibt aber auch einen modernen Kolonialismus. Er besteht darin, daß ein Staat versucht, einen äußerlich scheinbar unabhängigen Staat zu schaffen, regiert von einer totalitären Einheitspartei, regiert von der gleichen Einheitspartei, die auch im herrschenden Staat am Ruder ist und auf diesem
Wege den Satellitenstaat unterjocht und wirtschaftlich dem herrschenden Staat nutzbar macht. Ein Teil der farbigen Völker der Welt hat diese Gefahr des neuen Kolonialismus, der ihnen vom Kommunismus her droht, erkannt und hat auf der Konferenz in Bandung vom April dieses Jahres in einer besonderen Entschließung sich scharf gegen den Kolonialismus in jeder Form gewendet, und unter „jeder Form" war auch diese neue Art des kommunistischen Kolonialismus gemeint. Dieser Kolonialismus unterdrückt seit zehn Jahren auch die Mittelzone Deutschlands, unterdrückt die baltischen Staaten, unterdrückt Polen, Ungarn, Bulgarien, Albanien, Rumänien und die Tschechoslowakei.
Die Zweiteilung Deutschlands ist auch eine Zweiteilung Europas. Sollte es den Völkern des Westens nun nicht möglich sein, wenigstens ideologisch und propagandistisch diesem neuen Kolonialismus entgegenzutreten? Herr Bulganin hat in einer seiner früheren Noten an die angelsächsischen Mächte die Aufforderung gerichtet, alle ihre Stützpunkte aus Europa zurückzuziehen. Wir verstehen nicht, warum nicht eine Gegenfrage an die Sowjetunion gerichtet wird. Diese Gegenfrage würde zum Inhalt haben, ob die Sowjetunion ihrerseits bereit wäre, sich aus Europa, d. h. aus Deutschland und den osteuropäischen Staaten zurückzuziehen. Diese Frage bezieht sich dann nicht nur auf einen Rückzug der militärischen Streitkräfte Rußlands aus den Satellitenstaaten; die Frage bezieht sich auch und viel mehr, da Rußland ja auch ideologisch Europa angegriffen hat, darauf, daß die deutsche Mittelzone und die Staaten Osteuropas aus ihrer Fesselung an die Sowjetunion freigegeben werden. Neben dem Rückzug der russischen Truppen aus Osteuropa sollte daher auch die Abhaltung freier Wahlen unter internationalem Schutz und internationaler Kontrolle in allen von Rußland abhängigen Staaten des europäischen Ostens gefordert werden. Das russische Volk hat so wenig irgendeinen Nutzen von der Unterjochung anderer Völker, wie nach den Lehren der Geschichte andere Völker von der Unterjochung ihrer Nachbarn gehabt haben. Freie europäische Staaten vom atlantischen Meer bis zur Ostgrenze Polens würden auch für das russische Volk eine größere Friedensgarantie bieten als die Unterjochung der Mittelzone Deutschlands und der osteuropäischen Staaten.