Nun, meine Damen und Herren, ich möchte aber einen Schritt weitergehen. Sollten wir uns nicht ernstlich fragen, was das wirkliche Problem für Sowjetrußland in der Frage der deutschen Wiedervereinigung ist? Ist es wirklich die mit so viel Nachdruck immer und immer wieder herausgestellte militärische Frage, der militärische Aspekt, der Sicherheitsaspekt im militärischen Sinne? Herr Kollege Ollenhauer hat selbst gesagt, daß dieser militärische Aspekt für Sowjetrußland gar nicht so wichtig sei. Ich stimme ihm zu. In einem Zeitalter, in dem beide Lager die Wasserstoffbombe besitzen, ist tatsächlich die Kriegsgefahr, die Gefahr eines totalen Krieges als ultima ratio einer festgefahrenen Politik, außerordentlich unwahrscheinlich geworden, und es ist durchaus denkbar — ich halte es sogar für wahrscheinlich —, daß Sowjetrußland sich heute in verhältnismäßiger Sicherheit zu befinden glaubt. Von da her müssen wir meines Erachtens manche Reaktionen der sowjetrussischen Politik verstehen.
Ich möchte aber gleich hinzufügen, Herr Kollege Ollenhauer: Die Bedeutung des Verteidigungsbeitrages, den die Bundesrepublik im Rahmen der Anstrengungen der westlichen Welt, insbesondere hier auf dem Boden Westeuropas, macht, kann dabei nicht gering geschätzt werden. Im Gegenteil, diese Bedeutung ist gerade deswegen, weil es so ist, so außerordentlich groß. Ich spreche das bekannte Problem an, daß trotz des Besitzes der Wasserstoffbombe, oder vielleicht gerade wegen dieses Besitzes, die Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung mit herkömmlichen Waffen auch auf europäischem Boden keineswegs ausgeschlossen ist.
Um dieser Gefahr zu begegnen, nicht allein durch Verträge — die für sich allein ja nie genügen —, sondern auch durch Schaffung von Verteidigungsrealitäten, muß das europäische Verteidigungswerk im Rahmen der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft mit einem deutschen Beitrag so rasch und so gründlich wie möglich vorangetrieben werden.
Das bedeutet keinen feindseligen Akt gegenüber der Sowjetunion. Ich glaube, die sowjetrussischen Führer sind Realisten genug, zu sehen, was wir damit wollen.
— Lieber Herr Kollege Wehner, ich bin auch durch meinen Besuch in Moskau nicht davon überzeugt worden, daß die sowjetrussischen Führer etwa die Realitäten nicht richtig sehen.
— Ich kann Ihnen nur sagen: ich bin überzeugt, man versteht in Sowjetrußland durchaus, daß der Westen Europas — wenn man einmal annimmt, daß die Wasserstoffbomben in einem kommenden Krieg nicht zum Einsatz kommen werden oder daß wenigstens eine große Wahrscheinlichkeit dafür besteht —, daß der Westen Europas und die übrige freie Welt gar keine andere Wahl haben als die, der ungeheuren Überlegenheit Sowjetrußlands in konventionellen Waffen eine gleich starke Kraft auf diesem Gebiet entgegenzusetzen, und davon sind wir leider Gottes noch weit entfernt.
Ich stimme durchaus Herrn Kollegen Ollenhauer zu: das eine tun und das andere nicht lassen. Das ist nur ein scheinbarer Widerspruch.
Wir sollten uns durchaus mit all jenen Kräften verbünden, die heute an die Großen dieser Welt appellieren, das Wettrüsten mit den schrecklichen modernen Waffen endlich zu beenden. Aber Sie wissen genau so wie ich, daß Sowjetrußland primär die Abrüstung auf dem Gebiet der Wasserstoffbomben fordert, ohne gleichzeitig die Abrüstung auf dem Gebiet der konventionellen Waffen mit einzubeziehen.
— Sie stimmen mir zu, Herr Kollege Mende, wenn ich Sie recht verstehe. — Das ist etwas, was die westliche Welt um ihrer Sicherheit willen nicht annehmen kann.
Man muß also davon ausgehen, daß Sowjetrußland in der gegenwärtigen Stunde nicht bereit ist
— und das sagten Sie ja wohl auch, Herr Kollege Ollenhauer —, der Wiedervereinigung Deutsch-
lands näherzutreten, wenn nicht alle Bedingungen, die es gestellt hat, erfüllt sind. Da kommt nun meine These: Selbst ein waffenloses und neutralisiertes Deutschland steckt in dieser sowjetrussischen Rechnung nicht drin. Das ergibt die Bedingung der Einbeziehung der sogenannten DDR mit ihrer gesamten kommunistischen Substanz in das zukünftige Deutschland und die Forderung nach Änderung der sozialen und politischen Struktur in der Bundesrepublik.
Einer Ihrer Kollegen, Herr Eichler, hat jüngst gesagt, offenbar habe die Sowjetunion zwei Ziele: das Maximalziel, Gesamtdeutschland unter seinen Einfluß zu bekommen, oder wenigstens, wenn dies bei der Bundesrepublik mißglücken sollte, die kommunistische Substanz im Osten zu halten. Infolgedessen wird man nicht sagen können, daß die sowjetrussische Politik eine Politik des Status quo sei. Ich fürchte, wir müssen hinzufügen: Die sowjetrussische Politik will den gegenwärtigen territorialen Stand erhalten; sie will aber darüber hinaus versuchen, die kommunistische Position in den Westen und vor allen Dingen in die Bundesrepublik vorzuschieben.
Das ist jedenfalls ein Versuch, auf den sie es ankommen lassen will. Ob er glückt oder nicht, darauf will sie offenbar warten; denn sie glaubt, daß ihrer Politik der Erfolg beschieden sein wird.
Sie selbst, Herr Kollege Ollenhauer, haben Vermutungen darüber angestellt, welches etwa die Motive, die Gedankengänge, die Berechnungen sein könnten, die Sowjetrußland anstellt, um diese Zuversicht zu hegen. Wir sind gewiß auf Vermutungen angewiesen. Aber es ist nicht schwer, sich klarzumachen, welche Gedankengänge in den sowjetrussischen Köpfen tatsächlich vorhanden sind. Sie glauben an den automatischen Zerfall der kapitalistischen Welt, sie glauben daran, daß diese zum Untergang verdammt ist. Sie gehen davon aus, daß, obwohl diese kapitalistische Welt nach kommunistischer Theorie eines Tages den Kommunismus in seinem Heimatland zerstören wolle, die technischen Gegebenheiten der heutigen Situation, insbesondere der Besitz der Wasserstoffbombe in beiden Lagern, diesen Gelüsten einen Riegel vorschieben. Ihre Blicke gehen nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Sie wissen, daß die öffentliche Meinung des amerikanischen Volkes gegen kriegerische Abenteuer eingestellt ist. Sie wissen, daß auch die amerikanische Regierung — Präsident Eisenhower und Herr Dulles haben es ihnen ja versichert — gegen jedes kriegerische Abenteuer steht. Sie glauben also, wie sie uns auch in Moskau versichert haben, daß die derzeitigen Führer der westlichen Politik ernsthaft den Frieden wollen. Auch das sagt ihnen: wir haben Zeit.
Ähnlich steht es in Großbritannien. In Großbritannien ist noch das besondere Problem der kolonialen Überlieferung gegeben. Wir alle wissen, wie sehr Sowjetrußland die Ressentiments der kolonialen Welt gegen die bisherigen kolonialen Mächte auszunutzen bestrebt ist, um Wasser auf die Mühlen des Kommunismus zu leiten. Daher das Übergreifen der sowjetrussischen Politik nach Asien, Afrika, ja nach Südamerika.
Und in Europa! Man hat uns vorgeworfen, daß unser neuer Appell zu einer verstärkten Politik europäischer Einigung eine Art Alternative zur nicht stattfindenden Wiedervereinigung sei. Meine
Damen und Herren, wann je haben wir Ihnen Anlaß für eine solche Behauptung gegeben?
Wir haben die europäische Einigung immer als ein Werk betrachtet, das gerade auch der deutschen Wiedervereinigung besser als vieles andere dienen könnte. Daß wir das Werk der europäischen Einigung vorantreiben müssen, liegt auf der Hand. Europa zwischen den Giganten der heutigen Zeit, insbesondere unter dem Druck des Ostens, hat doch überhaupt nur eine Chance, wenn es sich so rasch wie möglich zusammenfindet.
Es handelt sich auch hier wiederum nicht um eine Unternehmung, die gegen Sowjetrußland gerichtet ist. Sowjetrußland kann doch nicht ernsthaft behaupten, daß das klein gewordene Europa eine Gefahr für die Riesenmacht, die Sowjetrußland heute darstellt, sein könne.
Außerdem haben wir allen Grund zur Beunruhigung, wenn wir in dieses westliche Europa hineinblicken. Es gibt Kommunismus nicht nur in Sowjetrußland; es gibt in Europa große Länder, in denen die Bevölkerung bis zu einem Drittel heute noch kommunistisch wählt. Das ist eine Tatsache, die ebenfalls auf eine sehr große Gefahr hinweist.
— Gewiß! Das ändert ja die Lage nicht. Vielleicht, Herr Kollege Schmid, sollten wir daran denken, daß wir unseren Verbündeten am besten dadurch helfen können, daß wir im Rahmen eines vereinigten Europa auch solche wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen mit herstellen helfen — Herr Ollenhauer will es ja vielleicht jetzt auch tun, mit uns zusammen im Aktionskomitee, das Herr Monnet ins Leben gerufen hat —, die den Kommunismus allmählich zurückdrängen. Das ist doch mit ein Ziel der europäischen Einigungspolitik, und wir sind überzeugt, daß die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und das Übereinkommen der Europäer auf wirtschaftlichen und sozialen Gebieten eine solche Änderung in Europa bewirken könnte.
Die härteste Kritik, die Herr Ollenhauer und die Sozialdemokratie an unserer Politik geübt hat, ist die, daß er die These aufgestellt hat, unsere Politik habe, wenn auch ungewollt, die sowjetrussische Deutschlandpolitik gestützt. Andere sagen, sie habe dieser Politik eine Ausrede geliefert. Manchmal findet man diese beiden Argumente in ein und demselben Artikel, in ein und derselben Rede beisammen, ohne daß die Urheber bemerken, daß sie einen Widerspruch in sich darstellen. Entweder hat unsere Politik diese sowjetrussische Deutschlandpolitik tatsächlich gestärkt, oder aber die sowjetrussische Deutschlandpolitik lag — wie wir behaupten — von vornherein fest, und die Russen benutzen allenfalls, was wir getan haben, als eine durchsichtige Ausrede.
Ich will ganz deutlich aussprechen, daß ich fest
davon überzeugt bin, daß die deutsche Sozialdemokratie ein kräftiges Bollwerk, neben den anderen
politischen Parteien in Deutschland, wider den Kommunismus darstellt;
ich glaube Ihnen da jedes Wort. Aber Sie müssen sich fragen, ob auch Sowjetrußland die Lage so sieht. Sie wissen, daß Herr Molotow in Genf die Sozialdemokratie zweimal apostrophiert hat. Auf wen setzt die sowjetrussische Politik in Deutschland?
Setzt sie darauf, daß wir eine falsche Politik machen und daß sie sie dann benutzen könne, um ihre Politik durchzuführen, oder tut sie es umgekehrt mit Ihnen so?
— Herr Professor Schmid, seien Sie nicht so sicher! Herr Kollege Ollenhauer, Molotow hat in Genf z. B. bei der Frage des Gesamtdeutschen Rates und des „hochmütigen Verhaltens der Bundesrepublik gegenüber der DDR" gesagt: „Meine Herren, Sie wissen doch, daß Herr Ollenhauer hier in Genf die Auffassung vertritt, daß man gesamtdeutsche technische Kontakte aufnehmen solle",
und damit im Zusammenhang sagte er: Also könnten die hochmütige Haltung der Bundesrepublik gegenüber der DDR und die Nichtanerkennung gar nicht mehr lange dauern.
Was wollte er damit sagen?
wir dürfen Herrn Molotow weder als den Interpreten der Außenpolitik der Bundesregierung in diese Zusammenhänge bringen noch als den Interpreten Ihrer Politik. Aber wenn Sie sagen, unsere Politik habe die sowjetrussische Deutschlandpolitik gestärkt und habe ihr Argumente geliefert, dann müssen Sie sich schon gefallen lassen, daß ich Sie auf die Gefahr hinweise, daß Ihre Politik das genau bei der sowjetrussischen Politik zu tun droht.
Darin liegt beileibe nicht der Vorwurf, daß die Sozialdemokratische Partei irgend etwas dieser Art beabsichtigt hätte. Deswegen habe ich Ihnen ja ausdrücklich gesagt, daß es nicht der Fall sei. Aber liegt es denn nicht nahe, anzunehmen, daß Sowjetrußland für die nächsten zwei Jahre hinsichtlich Deutschlands folgendermaßen spekuliert?
Molotow sagte: Die Pariser Verträge sind den Westdeutschen aufgezwungen worden, sie haben sie gar nicht freiwillig akzeptiert; der beste Beweis dafür ist, daß nicht nur die Werktätigen in der DDR, sondern auch die in der Bundesrepublik, die Sozialdemokraten und die Kommunisten, dagegen waren. Nun gut, worauf spekulierte er wohl? Sie
haben von den Fehlspekulationen des Kommunismus in den vergangenen Jahren gesprochen. Ich gebe Ihnen darin recht: der Kommunismus hat sich im Grunde immer wieder verspekuliert, zu seinem Nachteil, wie ich glaube, aber auch zu unserem Schaden. Er könnte jedoch damit rechnen, daß in den nächsten zwei Jahren in Deutschland vielleicht politische Gruppierungen entstehen, die jedenfalls die Politik des Zusammengehens Deutschlands mit der westlichen Welt ablösen.
— Ich nehme ihn ja zur Kenntnis, Herr Ollenhauer. Ich habe Ihnen gerade gesagt, ich bin froh gewesen, daß Sie das heute früh auch Sowjetrußland gegenüber erklärt haben. Aber glauben Sie denn, daß Sowjetrußland deswegen seine Spekulation aufgeben wird, daß es zumindest als erste Etappe — und da sehen wir die Gefahr — gelingen könnte, die bisherige Politik der Bundesregierung durch eine Politik eines neutralisierten und vielleicht auch waffenlosen Deutschlands abzulösen? Glauben Sie nicht, daß man sich in Moskau sagt: Warum sollte das nicht gelingen, besonders wenn außer der Sozialdemokratie im Jahre 1957 in den Deutschen Bundestag noch andere Gruppen einziehen sollten, die vielleicht noch radikalere Konsequenzen zu ziehen gewillt sein werden? Das ist eine Spekulation auf eine Politik, die in den Augen der Sowjetunion mindestens eine Etappe auf dem Wege zu ihrem Endziel darstellen könnte. Deswegen gerade war ich so dankbar, daß Sie heute mit solcher Deutlichkeit den Standpunkt der Sozialdemokratie dargestellt haben.
Sie haben auch davon gesprochen, unser Fehler liege darin, ,daß wir unsere Interessen mit denen des Westens völlig identifiziert hätten. Aber, Herr Ollenhauer, was gibt Ihnen Anlaß dazu, das zu sagen? Deswegen, weil wir in den vergangenen Jahren mit dem Westen eine gemeinsame Politik gemacht haben, weil aus ehemaligen Gegnern des Weltkrieges Verbündete geworden sind, sollten wir unsere Interessen mit denen des Westens identifiziert haben. Wir haben lediglich das getan, was jede vernünftige Außenpolitik tut: wir haben geprüft, welche Interessen unserer ehemaligen Gegner mit unseren eigenen Interessen identisch oder gleichlaufend sind, und haben daraus die richtigen Konsequenzen gezogen.
Welches waren diese Interessen? Nun, es waren zunächst die Interessen der Sicherheit. Die westliche Welt sah sich — das ist doch eine feststehende Tatsache — nach dem letzten Krieg ganz einfach durch die gewaltige militärische und territoriale Expansion Sowjetrußlands bedroht. Dagegen hat sie sich organisiert: Berliner Luftbrücke, Korea, Griechenland, Türkei — ich brauche doch das alles nicht mehr ausdrücklich ins Gedächtnis zu rufen. Das war unser Glück. Wenn diese deutschen Sicherheitsinteressen nicht parallel gelaufen wären mit den Sicherheitsinteressen der westlichen Welt, — ich wage nicht auszudenken, meine Damen und Herren, wo wir heute stünden!
Aber auch das zweite Hauptanliegen der deutschen Politik, das gleichrangig mit den Interessen der Sicherheit zu bewerten ist — beide sind voneinander überhaupt nicht zu lösen —, das Anliegen der deutschen Wiedervereinigung, ist ein Interesse, das auch der Westen teilt. Es ist uns fa nicht nur gelungen, ein Bündnis mit den ehemaligen Kriegsgegnern herzustellen und dadurch nach menschlichem Ermessen unsere Sicherheit so gut zu schützen, als es in der gegebenen geschichtlichen Stunde möglich ist, es ist uns darüber hinaus gelungen — und der Außenminister hat ausdrücklich darauf hingewiesen, daß das doch keine Selbstverständlichkeit ist —, daß der Westen auch das Anliegen der deutschen Wiedervereinigung als ein eigenes Anliegen begreift. Die westlichen Regierungen haben doch nicht nur Deklarationen abgegeben. Wir haben in der Beratenden Versammlung des Europarates die ganze Frage bei der jüngsten Tagung durchberaten. Dabei ist fast in jeder Rede zum Ausdruck gekommen, wie sehr der Westen weiß, daß es in Europa eine dauernde Ordnung des Friedens und des Rechts nicht geben wird, solange die Frage der deutschen Wiedervereinigung nicht gelöst ist.
Das ist doch immerhin etwas; das ist ein Erfolg auch unserer Politik der vergangenen Jahre, und Sie sollten sie gewiß nicht gering achten. Seien Sie gewiß, uns ist dabei klar und wir haben in keinem Augenblick außer Betracht gelassen, daß es im Westen Tendenzen geben mag und gibt, die sich vielleicht kurzsichtig mit der Tatsache der deutschen Spaltung abfinden wollen. Wo immer wir konnten, haben wir die verantwortlichen Staatsmänner des Westens darauf aufmerksam gemacht, daß hier ein Problem liegt, das gelöst werden muß um des Heiles aller willen. Wir werden fortfahren, dies zu tun, auch wenn einmal vorübergehend gewisse westliche Politiker glauben sollten, daß das Anliegen der Wiedervereinigung vielleicht störend in gewisse westliche Konzeptionen eingriffe. Wir haben aber — und das versichere ich aus voller Überzeugung — nicht einen einzigen Anhaltspunkt dafür, daß gewisse da und dort in einzelnen Zeitungen auftretende Meinungsäußerungen dieser Art der Meinung der verantwortlichen politischen Führer der westlichen Politik entsprechen. Im Gegenteil, gerade Genf hat uns erneut davon überzeugt, daß der Westen geschlossen hinter dem Anliegen der deutschen Wiedervereinigung steht.
Ich habe das Gefühl—und ich sage das ohne jeden Willen, Sowjetrußland zu attackieren —, daß Sowjetrußland weniger vor den militärischen Aspekten als viel eher Sorge davor hat, w o ein wiedervereinigtes Deutschland, wo das gesamte deutsche Volk von 70 Millionen gesinnungsmäßig, weltanschaulich und daher auch im eigentlichen Sinne politisch steht.
Das ist eine sehr ernste Feststellung. Kommen Sie mir nun nicht sofort mit dem Gegenargument: Also müssen wir das Anliegen der Wiedervereinigung aufgeben! Ich habe das Gefühl, daß sich die sowjetrussischen Führer sagen: Dieses deutsche Volk wird — und nach einer Wiedervereinigung sogar noch fester — im Lager der nichtkommunistischen Welt stehen. Ja, ich gehe darüber hinaus: welches
große Volk in Europa gibt es, das gegenüber dem
Kommunismus mehr immun wäre als das deutsche?
Hier liegt unser tragisches Problem. Das Militärische — so, denke ich mir, sagen sich die russischen Politiker — ist ein Annex des Politischen. Ein Volk wie das deutsche, das gesinnungsmäßig im Lager der freien Welt steht, ist ein Faktor im Ringen der heutigen Kräfte um die ideologische Herrschaft über diesen Planeten. Die Entscheidung, die dieses vereinte deutsche Volk treffen wird, ist für denjenigen, der mit einer Ausbreitung des Kommunismus über den Erdball rechnet, auf diese Ausbreitung hofft und sie wünscht, natürlich eine Tatsache von allererster Bedeutung.
Wenn dieses Feststellung richtig ist — ich gestehe Ihnen: ich halte sie für die zentrale Feststellung in unseren außenpolitischen Überlegungen, und ich glaube, daß wir von ihr bei allen unseren Plänen ausgehen müssen —, dann werden Sie mich fragen: Weiche Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Nun, ich habe meine Ausführungen über die sowjetrussische Politik, über die sowjetrussische Ideologie nicht gemacht, um Anklagen gegen Sowjetrußland zu schleudern. Ich habe Sowjetrußland als ein Phänomen genommen, das in der Welt ist und mit dem man zu rechnen hat. Aber wenn das so ist, dann kann unsere zukünftige Politik nur einen Kurs einschlagen: wir sind darauf angewiesen, das Anliegen der deutschen und westeuropäischen Sicherheit und das Anliegen der Wiedervereinigung g e m eins am zu betreiben. Das Anliegen der Sicherheit ist nur zusammen mit unseren Verbündeten in der westlichen Welt zu sichern. Das steht fest. Es ist durch kein noch so schönes und ideales kollektives Sicherheitssystem auf dem Papier zu sichern. Die deutsche Wiedervereinigung erreichen wir nur, das ist wahr, wenn die Sowjetunion dabei mitwirkt. Infolgedessen heißt die Losung: diese beiden Interessen miteinander zu verbinden und auch die Sowjetunion zu einer Lösung zu bewegen, bei der beiden Interessen Gerechtigkeit widerfährt.
Wir können aber nicht das Anliegen der Wiedervereinigung mit dem Preis unserer nationalen Unabhängigkeit und mit der Aufgabe unserer freiheitlichen demokratischen Ordnung bezahlen.
Es ist nicht zuviel gesagt, wenn ich behaupte, daß die Vorschläge von Herrn Molotow in Genf genau darauf hinauslaufen. Er hat zwar einschränkend gesagt — nachdem er sich vielleicht ein wenig vergaloppiert hatte —, man könne das aus seinen Ausführungen nicht herauslesen. Aber der Herr Außenminister hat schon mit Recht darauf hingewiesen, daß, wenn man alle seine Ausführungen zusammennimmt, auch mit bestem Willen nichts anderes gefunden werden kann, als was ich soeben gesagt habe.
Das bedeutet, daß wir für unsere Politik gar keine andere Wahl haben, als unsere Sicherheit weiterhin zu schützen. Zugleich müssen wir Sowjetrußland davon überzeugen, daß ein wiedervereinigtes freies Deutschland, obwohl es nicht kommunistisch gesonnen sein wird, bereit ist, mit Sowjetrußland in friedlicher Nachbarschaft zu leben.
Ich bin mir darüber klar, wie schwer das ist. Wie oft sind Zusicherungen solcher Art unter Völkern und unter Staatsmännern ausgetauscht worden! Ich weiß, daß Sowjetrußland nicht von heute auf morgen bereit sein wird, solche Zusicherungen hinzunehmen. Ich weiß, daß auch der Schock des letzten Krieges, den der Wahnsinnige unternommen hat, insbesondere der Überfall auf Sowjetrußland, noch heftig in Sowjetrußland nachwirkt und daß es etwas kosten wird, die Sowjetunion davon zu überzeugen, daß wir dieses friedliche Nebeneinanderleben wirklich wollen.
Aber wir müssen die Sowjetunion auch davor warnen, Gefangene ihrer eigenen Propaganda zu werden. Wenn jüngst Besucher aus der Sowjetunion zurückgekommen sind und erzählt haben, Sowjetrußland wolle aus den Gründen, die ich soeben aufgezählt habe, die Wiedervereinigung Deutschlands nicht, weil man das vereinigte Deutschland als gesinnungsmäßige politische Potenz nicht haben wolle und weil dieses vereinigte Deutschland sofort wieder expansiv nach Osten werden würde, dann dürfen wir doch in aller Bescheidenheit darauf hinweisen, daß es etwas kurios klingt, wenn eine Riesenmacht wie die Sowjetunion, die im Besitz der Wasserstoffbombe ist, eine solche Expansionspolitik von deutscher Seite erwartet. Eine einzige Wasserstoffbombe, abgeworfen an einer wichtigen Stelle des deutschen Gebiets, würde doch das Ende eines solchen Abenteuers bedeuten. Außerdem dürfen wir Sowjetrußland darauf hinweisen, daß es allen Traditionen der deutschen Politik widerspricht, anzunehmen, ein wiedervereinigtes Deutschland werde in Konflikt mit Sowjetrußland geraten. Im Gegenteil, es hat immer den Lebensinteressen. sowohl des deutschen wie des russischen Volkes entsprochen, wenn beide Völker in friedlicher Nachbarschaft gelebt haben, und so wird es auch in Zukunft sein.
Herr Ollenhauer meinte, das bedeute ein SichAbfinden mit der Lage. Ja, es mag leicht so aussehen, wenn man in einer Stunde wie dieser nicht in der Lage ist, ein fix-und-fertiges Rezept für die deutsche Wiedervereinigung zu geben. Herr Ollenhauer, Sie können es auch nicht.
Sie haben es auch nicht behauptet. Der Unterschied zwischen uns ist folgender. Sie glauben offenbar, daß man dann wenigstens damit anfangen müßte, daß man an die Russen diese Frage nach dem militärischen Status eines wiedervereinigten Deutschlands stellt. Nun, es könnte sehr leicht sein, Herr Kollege Ollenhauer, daß diese Frage von Rußland so beantwortet wird, daß die letzten Illusionen verfliegen. Eine unter den zehn Bedingungen, die der Außenminister hier erwähnt hat, ist die, daß im Falle der Wiedervereinigung Gesamtdeutschland sich von westlichen Verteidigungsbünden fernhalten müßte. Wenn meine These richtig ist, daß Sowjetrußland sich noch nicht bereit erklärt, sich mit einem wiedervereinigten Deutschland abzufinden, ganz gleich, wie sein militärischer Status ist, weil es einfach die geistige und politische Bedeutung dieses Landes fürchtet, dann bleibt uns eben nur übrig, in den kommenden Jahren mühselig und geduldig zusammen mit unseren westlichen Verbündeten Sowjetrußland davon zu überzeugen, daß hier keine Gefahr droht. Das können wir nicht allein, denn die Welt ist nun einmal in
zwei Lager gespalten, und wenn ich von den kolonialen oder bisher kolonialen Gebieten absehe, dann gibt es nur eine kommunistische und eine nichtkommunistische Welt; dazwischendrin gibt es nichts.
— Herr Kollege Schmid, dazwischen gibt es nichts.
— Sollten Sie ernsthaft der Meinung sein, Herr Kollege Schmid — die Frage interessiert mich außerordentlich, sie ist wirklich von allergrößter Bedeutung —, daß, wie ich soeben sagte, von den kolonialen oder bisher kolonialen Gebieten abgesehen, wo eine besondere Situation gegeben ist — —
— Das habe ich ja gesagt: wo eine besondere Situation gegeben ist.
— Gut, dann sind wir uns darüber einig, daß da die Welt in ein kommunistisches und ein nichtkommunistisches Lager gespalten ist, daß es da-zwischendrin nichts gibt. Denn für die Sowjetrussen ist z. B. der freiheitliche Sozialismus, wie Sie ihn vertreten, genau so eine faschistische Angelegenheit wie irgend etwas anderes; das wissen wir doch.
Sie sagen mir sicherlich: Ja, um Gottes willen, es muß doch etwas geschehen!, und so sagen viele Deutsche. Die Fassungslosigkeit, mit der viele Deutsche diesem Phänomen gegenüberstehen, dem angeblichen toten Punkt, der ja nicht ein toter Punkt, sondern der wahrscheinlich eine tote Strecke seit Jalta und Potsdam ist, worauf man immer wieder hinweisen muß, diese Fassungslosigkeit erklärt sich nur dadurch, daß man sich scheut, die Tatsachen in ihrer vollen Härte zu sehen. Das, womit wir hier ringen, ist das schauerliche Überbleibsel der Politik Adolf Hitlers im vergangenen Krieg. Nicht nur die Wiedervereinigung mit den 18 Millionen drüben, auch die Frage der deutschen Gebiete jenseits der Oder und Neiße ist das schlimme Erbe. Vielleicht sehen es manche Leute hier im Westen deswegen nicht, weil ihnen in den vergangenen Jahren der Wirtschaftsblüte, diese Probleme ein wenig zu fern gerückt sind.
Infolgedessen bleibt uns gar nichts anderes übrig als die Politik, die der Außenminister sehr klar umrissen hat. Er hat keineswegs resigniert. Er hat keineswegs gesagt, man müsse nichts tun. Herr Kollege Ollenhauer, es ist doch klar, daß die Regierung in dieser Situation die größten Anstrengungen unternehmen wird, daß sie noch einmal eine Prüfung des gesamten Sachverhalts anstellen, noch. einmal eine sorgfältige Analyse machen wird, aus der sich ergeben könnte, welche neuen Impulse man dem Anliegen der deutschen Wiedervereinigung geben kann. Aber erwarten Sie von der Regierung nicht, daß sie jetzt unmittelbar nach der Genfer Konferenz mit einem rasch zusammengezimmerten Programm hervortritt. Ich finde, es sollten auch viele unserer Kollegen und viele andere deutsche Persönlichkeiten sich klar sein darüber, daß man bei allem Verständnis für die Herzensnot, in der sich jeder von uns im Hinblick auf das deutsche Anliegen befindet, doch fragen muß, ob es auch der Sache der Wiedervereinigung dient, wenn jeder
zweite oder dritte mit einem eigenen hausgemachten Programm für die deutsche Wiedervereinigung hervortritt.
Wir sind ja durchaus bereit, das gemeinsam zu tun. Sie dürfen überzeugt sein, daß sowohl die Regierung — Sie haben die Anstrengungen des Bundesaußenministers in der letzten Zeit bemerkt
— wie auch wir hier im Bundestag bereit sind, mit Ihnen zusammen in den zuständigen Gremien die notwendigen Prüfungen und Überlegungen anzustellen.
— Auch rechtzeitig! Rechtzeitig, Herr Kollege Schmid, das heißt doch auch zugleich sorgfältig.
— Herr Kollege Schmid, Sie kommen immer wieder auf die Fragestellung zurück.
Ich will mich nicht wiederholen. Aber glauben Sie wirklich ernsthaft — ich will jetzt einmal davon absehen, das ganze Problem der Sicherheit wieder aufzuwerfen —, daß Ihre Fragestellung an dem Tatbestand, den ich geschildert habe, der ja weit über das Militärische hinausgreift, das geringste ändern würde?
— Ich glaube es nicht. Wir haben in Genf genug Tatsachen vorgesetzt bekommen, die uns die Lage klarmachen.
Wir werden, gestützt auf die Loyalität unserer Verbündeten, den Weg weitergehen, der uns Sicherheit beschert. Wir werden zu gleicher Zeit — ich wiederhole das, was der Außenminister gesagt hat — Rußland davon zu überzeugen versuchen, daß es uns auf eine friedliche Politik und auf ein dauerndes gutnachbarliches Verhältnis mit Sowjetrußland ankommt. Bitte, wirken wir in diesem Punkte zusammen und denken wir daran, wie stark es doch Sowjetrußland beeindrucken könnte, wenn es sähe und in der Zukunft immer mehr und mehr sähe, daß die großen demokratischen Parteien dieses Landes und dieses Hauses in dieser Frage Schulter an Schulter stehen!
Vielleicht wird dann Sowjetrußland, Herr Kollege Ollenhauer, die Fehlspekulation eines Tages einsehen. Vielleicht wird es begreifen, daß es auch in seinem Interesse nicht gut ist, drüben mit Gewalt ein kommunistisches und verhaßtes Herrschaftssystem — verhaßt, weil es sich um eine Regierung handelt, die man den Menschen aufgezwungen hat — aufrechtzuerhalten und zu versuchen, gar noch in der Bundesrepublik kommunistische Einflüsse durchzusetzen. Sowjetrußland muß ja auch sehen, daß diese Politik zur Folge hätte, daß in diesem Volke das Gefühl ständig wachsen würde, der Widersacher der deutschen Einigung sei einzig und allein Sowjetrußland. Damit würde wieder eine unheilvolle Saat der Feindschaft zwischen unseren beiden Völkern gesät werden, und das wollen wir vermieden wissen.
Sie, meine Damen und Herren von der sozialdemokratischen Fraktion, haben einen Entschließungsentwurf vorgelegt, dem wir in vielem unsere Zustimmung geben könnten. Aber Sie werden nicht leugnen, daß Sie darin natürlich auch Ihre Auffassungen über die einzuschlagende Politik niedergelegt haben, und Sie werden von uns daher nicht verlangen, daß wir diesem Entschließungsentwurf unsere Zustimmung geben. Es ist wohl auch nicht möglich, den Entschließungsentwurf aufzuteilen und Punkt für Punkt darüber abzustimmen, sondern wir wollen ganz ehrlich unsere gegenseitigen Auffassungen hier zum Ausdruck bringen. Wir hätten vielleicht folgendes tun können, wir hätten sagen können: Wir sind uns immer noch in den und den Punkten uneins, aber in folgenden Punkten sind wir uns einig. Vielleicht hätte eine solche gemeinsame Entschließung einen guten Eindruck im Volk und draußen gemacht. Verstehen Sie es also richtig, wenn wir diesem Entschließungsentwurf nachher nicht unsere Zustimmung geben können.
Wir erwarten von Ihnen auch nicht, daß Sie dem Entschließungsentwurf, den wir vorlegen werden, Ihre Zustimmung geben; denn er enthält unsere eigene politische Konzeption. Er schließt sich an die Ausführungen des Herrn Bundesaußenministers an — kurz und bündig —, spricht seine Zustimmung dazu aus und enthält auch noch einige Sätze zu der Frage der deutschen Wiedervereinigung und zu dem Verhältnis zu Sowjetrußland.
Wir wissen uns mit Ihnen einig, daß es unsere Pflicht ist, in den kommenden Monaten den Menschen in der Sowjetzone mit aller Kraft das Gefühl unserer ständigen Gegenwart zu geben. Vielleicht machen wir folgendes, Herr Kollege Ollenhauer: Beschränken wir uns nicht nur auf solche Versicherungen. Lassen wir uns aber auch nicht auf das gefährliche Abenteuer gesamtdeutscher institutioneller Kontakte ein. Wir sind sicher, daß solche Kontakte von drüben — und „drüben" heißt in diesem Fall doch „Moskau" — nur dazu benutzt werden würden, ein Surrogat für den fehlenden gesamtdeutschen Rat zu schaffen. Und wir sitzen dabei am kürzeren Hebelarm! Immerhin, wir können über diese Dinge und darüber, wie Sie es sich denken, noch diskutieren. Wir können uns darüber hinaus in gemeinsamer Arbeit im Bundestag und seinen Ausschüssen überlegen, was wir an praktischen Maßnahmen unternehmen können, um die Bevölkerung der Sowjetzone wirklich von unserer helfenden Gegenwart zu überzeugen.
Die Resolution, die die Koalitionsparteien dem Hohen Hause vorlegen werden, hat folgenden Wortlaut:
Der Deutsche Bundestag billigt die von dem Bundesminister des Auswärtigen in der 114. Sitzung des Bundestages namens der Bundesregierung abgegebene Erklärung. Er erwartet, daß die Bundesregierung auch in Zukunft alle Anstrengungen unternimmt, um die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit im Zusammenwirken mit den Regierungen der Französischen Republik, des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten von Amerika herbeizuführen.
Er appelliert an die Regierung der UdSSR, die auch von ihr anerkannte Verpflichtung zur Wiedervereinigung Deutschlands im Wege freier Wahlen im Einklang mit den nationalen Interessen des deutschen Volkes und den Interessen der europäischen Sicherheit zu erfüllen.
Damit würde die Grundlage für dauernde friedliche Beziehungen zwischen dem deutschen Volke und den Völkern der Sowjetunion gelegt werden.
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