Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Geschäftsordnung beantrage ich namens der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion erstens: die Abstimmung über den Antrag auf Übergang zur Tagesordnung bis zum Schluß der Beratung zurückzustellen und zunächst die Sachdebatte durchzuführen, zweitens: die Zahl der Redner, die zum Antrag auf Übergang zur Tagesordnung sprechen, nicht zu beschränken, jedenfalls jede Fraktion durch einen Sprecher zu diesem Antrag auf Übergang zur Tagesordnung zu Wort kommen zu lassen. Ich glaube nicht, daß dieser Antrag auf einen anderen Paragraphen der Geschäftsordnung gestützt zu werden braucht als auf den, daß man Anträge zur Geschäftsordnung stellen kann. Aber hilfsweise — nur hilfsweise! — berufe ich mich auch auf § 127.
Meine Damen und Herren, es ist inzwischen schriftlich ein Antrag auf Übergang zur Tagesordnung eingegangen. Ein solcher Antrag kann zwar nach § 29 der Geschäftsordnung jederzeit bis zur Abstimmung zurückgestellt werden, aber die Geschäftsordnung schreibt nicht vor, daß über einen solchen Antrag s o f o r t entschieden werden muß. Im Gegenteil, in § 29 Abs. 1 Satz 3 ist nur für die Reihenfolge der Abstimmungen angeordnet, daß im Zuge der Abstimmungen ein Antrag auf Übergang zur Tagesordnung den Vorrang vor Änderungsanträgen hat. Daraus folgt im Wege des Umkehrschlusses, daß keinesfalls ein Antrag auf Übergang zur Tagesordnung unbedingt die Beratung unterbricht. Sonst würde auch ein Widerspruch zwischen den §§ 29 und 30 bestehen. Denn ein Antrag auf Schluß der Beratung bedarf nach § 30 Abs. 2 der Unterstützung von 30 anwesenden Abgeordneten, während ein Antrag auf Übergang zur Tagesordnung nach § 29 Abs. 1 Satz 1 von jedem einzelnen Abgeordneten ohne alle Unterstützung gestellt werden kann. Ist aber ein einzelner Abgeordneter nicht befugt, den Antrag auf Schluß der Beratung zu stellen, so wäre es nicht sinnvoll, wenn er doch den gleichen Erfolg auf dem Umweg über den Antrag auf Übergang zur Tagesordnung erreichen könnte. Andernfalls würde jede Minderheit, ja sogar jeder einzelne Abgeordnete in der Lage sein, jederzeit den zumindest vorläufigen Abbruch der Beratungen zu erzwingen und den Gang der Debatte durch den Antrag auf Übergang zur Tagesordnung und die Abstimmung darüber zu unterbrechen. Der Wortlaut und der Sinn der Geschäftsordnung lassen es also offen, zu welchem Zeitpunkt über einen Antrag auf Übergang zur Tagesordnung abzustimmen ist, solange die Beratung noch nicht geschlossen ist. Infolgedessen steht es im Ermessen des Herrn Präsidenten, über den Zeitpunkt dieser Abstimmung zu entscheiden, vorausgesetzt, daß dieser Zeitpunkt nicht zum Gegenstand eines Antrags zur Geschäftsordnung und eines Beschlusses gemacht wird. Denn im Zweifel entscheidet immer der Bundestag selber durch Plenarbeschluß, wie verfahren werden soll. Ein Beschluß des Bundestages ist nur dort unzulässig, wo die Geschäftsordnung ausnahmsweise dem Präsidenten abschließend ein freies Ermessen einräumt, etwa im § 34 zu der Frage, ob überhaupt das Wort zur Geschäftsordnung erteilt wird. In § 29 ist dem Herrn Bundestagspräsidenten keine solche Ermessensfreiheit eingeräumt, so daß auf Antrag das Plenum kraft seiner Autonomie verbindlich darüber zu beschließen hat, wann es über einen Antrag auf Übergang zur Tagesordnung abstimmen will.
Es würde der Bedeutung unserer Beratung über den von der Bundestagsfraktion des Gesamtdeutschen Blocks/ BHE eingebrachten Antrags, den Herrn Bundeskanzler um den Vorschlag auf Entlassung zweier Bundesminister zu ersuchen, nicht entsprechen, hierbei lediglich je einen Redner für und gegen den Antrag auf Übergang zur Tagesordnung zu Worte kommen zu lassen.
Wenn es in § 29 Abs. 1 Satz 2 heißt, daß vor der Abstimmung ein Redner für und ein Redner gegen den Antrag auf Übergang zur Tagesordnung zu hören sind, so handelt es sich hierbei nur um das Mindestmaß der Worterteilungen, wie im Kommentar von Ritzel/ Koch zutreffend ausgeführt ist. Aber diese Vorschrift über ein Mindestmaß der Debatte steht nicht der Möglichkeit entgegen, auch noch weitere Redner zu Wort kommen zu lassen. Der Präsident ist befugt, weitere Wortmeldungen zu berücksichtigen, und der Bundestag ist frei darin, selber darüber zu beschließen, welchen Raum er dieser Erörterung geben will.
Stets hat es sogar bei Auseinandersetzungen über die Geschäftsordnung zu den guten Gepflogenheiten aller Präsidenten des 1. und 2. Bundestages gehört; in Angelegenheiten von grundsätzlicher und hochpolitischer Bedeutung die Diskussion nicht abzuschneiden und mindestens jeder Fraktion Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. So hat z. B. der 1. Bundestag den von der Bayernpartei eingebrachten Antrag auf Wiedereinführung der Todesstrafe erst erschöpfend beraten, ehe nach Schluß der Sachdebatte die von zwei Abgeordneten gestellten Anträge auf Übergang zur Tagesordnung zur Abstimmung kamen.
Hier steht heute ein Antrag auf der Tagesordnung, der sowohl prinzipielle Fragen über die rechtlichen und politischen Beziehungen zwischen Bundestag und Bundesregierung aufwirft, als auch die Amtsführung insbesondere des Herrn Bundesministers für Angelegenheiten der Vertriebenen zum Gegenstand hat. Der Bundestag täte nicht gut daran, einer gründlichen und freien Aussprache über diese Frage auszuweichen.
Aber wie ist es denn dazu gekommen, daß der Herr Abgeordnete Stücklen diesen Antrag schriftlich eingereicht hat? Der Herr Abgeordnete Stücklen hatte im Ältestenrat zugesagt, daß ein Antrag auf Absetzung von der Tagesordnung nicht gestellt werden würde, wohl aber mit einem Antrag auf Übergang zur Tagesordnung zu rechnen sei. Das veranlaßte mich, von meinem Recht Gebrauch zu machen, mich sehr frühzeitig, sofort nach Beginn der Tagesordnung, schriftlich zu diesem Punkt 5 zu melden. Dann haben sich auch Herr Kollege Stücklen gemeldet und Herr Kollege Engell für den BHE, und es entstand die Frage, wer sich zuerst gemeldet hatte. Der Herr Kollege Kunze hat zwar mit der ihm eigenen Selbstgewißheit, die auch seine Zwischenrufe auszuzeichnen pflegt,
gesagt, „natürlich" habe sich der Herr Abgeordnete Stücklen zuerst gemeldet. Aber es ergab sich dann, daß ich etwas früher aufgestanden war. Dieser Tatsache verdanken wir dieses Novum in der Geschäftsordnung, daß man neuerdings zur Hilfe schriftlich vorzulegender Anträge greift, wie es im Reichstage früher üblich gewesen sein soll.
Meine Damen und Herren, ich muß deshalb auch sagen, daß die ausführliche Debatte darum notwendig ist, weil hier mit dem Antrage auf Übergang zur Tagesordnung ein offenkundiger Mißbrauch getrieben werden soll.
Der Bundestag kann gewiß einen Gegenstand von der Tagesordnung absetzen. Diese im § 26 Abs. 4 unserer Geschäftsordnung anerkannte Befugnis ist eine Folge der parlamentarischen Autonomie, ergibt sich also aus dem Recht des Bundestages, durch eigenen Entschluß seine Sitzungen und somit auch die Tagesordnung der Sitzungen festzusetzen. Aber damit ist noch keineswegs gesagt, daß der Bundestag willkürlich und nach Belieben jeden Gegenstand mit der Absicht und mit dem Ziel von seiner Tagesordnung absetzen kann, die Beratung eines Gegenstandes überhaupt oder jedenfalls auf unabsehbare Zeit zu verweigern.
Deshalb ist es notwendig, die im § 26 der Geschäftsordnung über die Tagesordnung gegebenen Bestimmungen in Verbindung mit der Regelung für die Beratung von Anträgen auszulegen. In § 76 Abs. 1 der Geschäftsordnung heißt es:
. . . die Anträge von Abgeordneten . . . werden gedruckt und an die Mitglieder des Bundestages . . . verteilt.
Nach dieser zwingenden Vorschrift darf daher kein Antrag vom Druck und von der Verteilung ausgeschlossen werden. Da es . in § 99 Abs. 1 weiterhin heißt: „Anträge . . . werden sofort beraten oder ohne Beratung an einen Ausschuß überwiesen", so geht daraus hervor, daß unsere Geschäftsordnung die Notwendigkeit, einen jeden Antrag zu behandeln, schlechthin als selbstverständlich voraussetzt.
Die Befugnis zur Absetzung von der Tagesordnung nach § 26 bezieht sich infolgedessen lediglich auf den technischen oder formalen Geschäftsgang, soll und darf also kein Mittel bedeuten, einen Gegenstand materiell zu erledigen. Was hier mit dem Antrage bezweckt wird, ist ja nichts anderes, als daß man auf eine Vertagung der Sache hinaus will.
Meine Damen und Herren, der Bundestag würde einen unheilvollen Weg beschreiten, wollte er eine antragsberechtigte Minderheit dadurch mundtot machen, daß er ihren Anträgen durch Übergang zur Tagesordnung die parlamentarische Verhandlung versagt.
Eine der CDU nahestehende Zeitung, die „Neue Frankfurter Presse", hat dieser Tage einen ihrer Leitartikel mit der Überschrift versehen: „Demokratie ohne Spielregeln". Nun, Sie werden gewiß eines in der umfangreichen Geschäftsordnung nicht finden und auch nicht zu finden brauchen, weil das eigentlich jeder Abgeordnete und jede Fraktion von sich aus mitzubringen hätten: das ist der Geist der Fairneß.
Gegen diesen Geist der Fairneß ist gerade in der letzten Zeit ganz erheblich gesündigt worden.
— Ja, zur Geschäftsordnung, weil es zur Geschäftsordnung gehört!
Das Anliegen, das hier von einer Fraktion dieses Hauses vorgebracht worden ist, ist ein Anliegen zahlreicher Heimatvertriebener, zu denen zwar Sie, Herr Hilbert, nicht gehören.
Über dieses Anliegen wünschen Sie zur Tagesordnung überzugehen. — Ihnen kommt das außerordentlich lächerlich vor.