Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat die Beratung der konjunkturpolitischen Lage im Deutschen Bundestag
zu diesem Zeitpunkt und hier in Berlin im Einvernehmen mit den Fraktionen des Hohen Hauses bewußt herbeigeführt, um von hier, aus der Hauptstadt eines wiedervereinigten Deutschland, dem deutschen Volke vor Augen zu führen, wie die Bundesregierung die derzeitige konjunkturelle Lage und die sich aus ihr abzeichnenden wirtschaftlichen Entwicklungen beurteilt, aber auch dazutun, welche wirtschafts- und finanzpolitischen Mittel ihr für diese spezifische Phase der Konjunktur geeignet erscheinen, um eine aktive Konjunkturbeeinflussung vorzunehmen und damit wieder mögliche Gefahren rechtzeitig zu bannen.
Daß diese Konjunkturdebatte hier in Berlin stattfindet, erachtet die Bundesregierung als einen glücklichen Umstand. Die Grenze zwischen dem Wirtschaftssystem der Freiheit und dem Wirtschaftssystem des Zwanges geht mitten durch die Stadt Berlin. Trotz der besonders schwierigen Verhältnisse, unter denen sich der wirtschaftliche Aufbau dieser Stadt vollziehen mußte, und trotz der hier noch zu lösenden Probleme werden an dieser in der Welt sichtbarsten Nahtstelle von Freiheit und Unfreiheit die Erfolge einer freiheitlichen Wirtschaftspolitik, wie sie die Bundesregierung eingeleitet hat, besonders deutlich sichtbar und spürbar. Sie mahnen uns gleichzeitig, der Sorgen Berlins und der großen Aufgaben eingedenk zu bleiben, die uns in einer hoffentlich recht nahen Zukunft gestellt werden. Wir werden auch auf dem wirtschaftlichen Felde und im sozialen Bereich mit Zuversicht und Entschlossenheit an die uns mit der Wiedervereinigung aufgegebenen Probleme herangehen. Wenn ich darum einleitend einige wirtschaftliche Daten und Fakten anführe, die den in sieben Jahren aus dem Zusammenbruch zurückgelegten Weg des Wiederaufbaus kennzeichnen sollen, dann geschieht das vornehmlich, um allen deutschen Menschen in Ost und West, die die Einheit unseres Vaterlandes in Frieden und Freiheit ersehnen, eine neue Hoffnung zu setzen.
Von Mitte 1948, dem Beginn der Politik der Sozialen Marktwirtschaft, bis Mitte 1955 ist die industrielle Produktion von 63 % — Basis 1936 — auf nunmehr über 200 % gestiegen. Im gleichen Zeitraum erhöhte sich die Zahl der Beschäftigten von 13,4 Millionen auf 17,7 Millionen, also um über 4,3 Millionen.
Die deutsche Ausfuhr erhöhte sich von 2,9 Milliarden im Jahre 1948 auf schätzungsweise 24 Milliarden DM für das Jahr 1955. Die Bank deutscher Länder, die zum Zeitpunkt der Währungsreform über keinerlei materielle Reserven verfügte, weist heute einen Gold- und Devisenbestand von 12,5 Milliarden DM aus, während gleichzeitig die Spareinlagen von 1,6 Milliarden auf 19,4 Milliarden angewachsen sind.
Trotz dieser gewaltigen Aufbauleistung sind, vor allem auch in einem internationalen Vergleich, Preise und Lebenshaltungskosten trotz gewisser Erhöhungstendenzen, über die noch zu sprechen sein wird, bemerkenswert stabil geblieben. Auf Indexbasis 1950 erhöhten sich die Bruttostundenverdienste des deutschen Arbeiters vom zweiten Vierteljahr 1949 zum gleichen Quartal 1955 von 93,3 auf 137,1 % — das sind rund 47 % Steigerung —, während sich der Reallohn von 87,2 % auf 125,8 % — das sind rund 44 % — verbesserte.
Während im Jahre 1950 in der Bundesrepublik für soziale Leistungen 11,4 Milliarden DM aufgewendet wurden, errechnet sich für 1955 ein Betrag von 22 Milliarden DM. Ich möchte meinen, daß ein Volk und eine Volkswirtschaft, die unter so harten Bedingungen diese hier in wenigen Ziffern charakterisierte Aufbauleistung vollzogen haben, auch vom Ökonomischen her gesehen auf diesen Zustand vertrauen dürfen.
Doch nun zur Konjunkturlage. Die Bundesregierung ist mit der Bank deutscher Länder der Auffassung, daß die bisherige tatsächliche Entwicklung der Erzeuger-, Handels- und Verbraucherpreise für sich allein betrachtet keinen Anlaß zu einer ernsten Besorgnis bietet.
Obwohl sich die Wirtschaft der Bundesrepublik in einer ausgesprochenen Hochkonjunktur befindet, ist das Preisniveau — und das besonders auf den Verbrauchsgütermärkten — im wesentlichen stabil geblieben.
Was indessen die Bundesregierung in den letzten Wochen mit einer gewissen Beunruhigung erfüllt hat, ist das Verhalten der Menschen im wirtschaftlichen Prozeß. Die Maßstäbe für das, was jeder einzelne aus einer Hochkonjunktur für sich an Nutzen ziehen kann, und für das, was der gesamten Volkswirtschaft dienlich ist, drohten allenthalben verloren zu gehen. Der Widerstand gegen höhere Preise ist sowohl innerhalb der Wirtschaft selbst als auch bei der Verbraucherschaft schwächer geworden. Diese Haltung läßt darauf schließen, daß man in manchen Kreisen und Gruppen der Wirtschaft mit der Möglichkeit rechnet, höhere Kosten durch eigene Preiserhöhungen oder eine Verteuerung der Lebenshaltung durch die Erhöhung des eigenen Arbeitseinkommens wettmachen oder sogar überkompensieren zu können. Aus einer so gedankenlosen inneren Einstellung erwächst naturgemäß die große volkswirtschaftliche Gefahr, daß überhöhte Löhne gefordert und auch zugestanden werden,
die Preise aber dabei in eine wirtschafts- und sozialpolitisch gleichermaßen gefährliche Entwicklung geraten. Die bekannte Spirale, in der sich Preise und Löhne gegenseitig hochschrauben, ist in diesen letzten Wochen der breiten deutschen Öffentlichkeit wenn schon noch nicht sichtbar, so doch in ihrer möglichen Gefahr bewußt geworden. Diese Sorge war es denn auch, die zu einer sichtbaren Verschlechterung des Preisklimas beigetragen hat.
In dieser Lage war die Bundesregierung zum Eingreifen entschlossen, und ich als verantwortlicher Minister habe es mir im besonderen angelegen sein lassen, alle Gruppen der Bevölkerung zunächst unmittelbar anzusprechen, um ihnen die Zusammenhänge und Konsequenzen eines leichtfertigen und bedenkenlosen Verhaltens deutlich vor Augen zu führen. So sind mit den Gewerkschaften Gespräche darüber geführt worden, in welchen Grenzen, gesamtwirtschaftlich gesehen, Lohnerhöhungen gerechtfertigt und tragbar erscheinen. Der Industrie, dem Handel und dem Handwerk ist zu ernster Überlegung anheimgegeben worden, ob nicht trotz mancher Kostenerhöhungen durch Vollbeschäftigung und Mengenkonjunktur doch auch Kostensenkungen bewirkt wor-
den sind, die in individueller, unternehmerischer Verantwortung mancherorts auch Möglichkeiten der Preissenkung zulassen würden.
Nicht zuletzt habe ich mich auch an die Verbraucher, insbesondere die Hausfrauen gewandt, daß sie wach sein und sich ihrer Macht als Käufer bewußt werden möchten, weil gerade ihr Verhalten im Markte ein preisstabilisierender Faktor erster Ordnung ist.
Die Bundesregierung hat diesen undogmatischen Weg, der den Vorstellungen einer klassischen Konjunkturpolitik vielleicht nicht entspricht, dennoch bewußt beschritten, weil sie der Auffassung ist, daß der Ablauf des wirtschaftlichen Geschehens weitgehend von dem Willen lebendiger Menschen gestaltet wird und daß der Appell an die wirtschaftliche Vernunft sehr wohl Gefahren zu beseitigen geeignet ist, denen jede Wirtschaft ausgesetzt sein muß, in der Maß und Besinnung verloren zu gehen drohen. Wenn jene psychologischen Mittel ein verändertes wirtschaftliches Verhalten der Bevölkerung bewirken, werden sie zu einer ökonomischen Realität und erfüllen den gleichen Zweck wie andere Maßnahmen der hergebrachten Konjunkturpolitik. Das Ziel der psychologischen Einflußnahme ist in jedem Fall, die Konjunktur, die Stabilität der Währung und ein gesundes Wachstum unserer Wirtschaft zu erhalten, schädliche Auswüchse aber zu beseitigen.
Diese teilweise belächelten Mittel der Konjunkturbeeinflussung haben bereits gewisse Wirkungen gezeitigt. Eine Anzahl von Unternehmungen hat bereits Preissenkungen auch für solche Güter durchgeführt, die der breiten Masse der Bevölkerung zugute kommen, andere haben ihre Bereitschaft bekundet, so daß für die nächste Zukunft
mit weiteren positiven Ergebnissen gerechnet werden kann.
Auch die Arbeitnehmerschaft hat anerkannt, daß ihr persönliches Schicksal, die Erhaltung ihrer Arbeitsplätze, von dem Erfolg jener Bemühungen abhängig ist, die die Sicherung der Stabilität unseres Preisniveaus auch für die Zukunft zum Ziele haben.
Die Bundesregierung darf unter keinen Umständen zulassen — das hier zu erklären, ist meine Pflicht —, daß durch die Verfolgung von Gruppeninteressen, von welcher Seite auch immer sie vertreten werden mögen, die Stabilität unserer Währung gefährdet wird.
Millionen von Menschen haben trotz zweimaliger Geldentwertung im Vertrauen auf die Politik der Bundesregierung wieder die Tugend des Sparens geübt und nahezu 20 Milliarden DM zurückgelegt.
Millionen von Rentnern insbesondere werden von jeder Preissteigerung in ihrem sozialen Sein aufs härteste betroffen.
Diese Menschen dürfen nicht verraten und betrogen werden.
Die Bundesregierung fühlt sich hier als Sachwalterin der wirtschaftlichen Interessen aller Bürger
und möchte darum mit allem Nachdruck versichern, daß sie die Stabilität der Währung unter allen Umständen aufrechterhalten wird und aufrechterhalten kann.
Sie verfügt in der Einheit von Wirtschafts- und Finanzpolitik über ein Instrumentarium von volkswirtschaftlichen Einwirkungsmöglichkeiten, die die notwendige Stabilität von Wirtschaft und Währung auch für die Zukunft gewährleisten.
Die Bundesregierung wird aber auch auf dem internationalen Felde alle Anstrengungen unternehmen, um jener gefährlichen These zu begegnen, daß eine leichte, fortdauernde Verdünnung der Kaufkraft sogar als ein wertvoller Konjunkturimpuls gelten könne.
Solange diese Verwirrung nicht völlig überwunden ist, wird auch der Schrei nach dem Wohlfahrts- und Versorgungsstaat nicht verstummen können; wenn diesem gefährlichen Denken nicht Einhalt geboten wird, droht die Gefahr des allmählichen Erliegens eines freien Kapitalmarktes und eine Gefährdung der ausreichenden Versorgung der Volkswirtschaft mit Kapital. Unstabiles Geld zerstört die gesellschaftlichen und sozialen Grundlagen jeder freien staatlichen Ordnung.
Die Bundesregierung vertritt ferner die Auffassung, daß das gemeinsame Interesse Wege der Konjunkturpolitik vorschreibt, die der unterschiedlichen Lage der einzelnen Zweige unserer Wirtschaft und der verschiedenen sozialen Bevölkerungsschichten gerecht werden. Sie hat ein Programm aufgestellt, das diesen Erfordernissen Rechnung zu tragen versucht. Dieses Programm geht davon aus, daß besondere Anspannungen und deshalb auch Störungen vor allem auf dem, Arbeitsmarkt, auf dem Baumarkt und teilweise auch im Investitionsgüterbereich zu verzeichnen sind. Es gilt zu vermeiden, daß diese bisher auf Teilgebiete beschränkten Spannungen auf die gesamte Wirtschaft übergreifen. Die Gefahr eines solchen Überflutens ist gegeben, da die inländischen Arbeitskraftreserven durch die stark angestiegene Bau- und Investitionstätigkeit weitgehend erschöpft und die Kapazitäten in wichtigen Teilen der Wirtschaft voll ausgenutzt sind, während die Nachfrage noch auf eine Steigerung der Produktion drängt.
Das konjunkturpolitische Programm geht weiter davon aus, daß besondere Anstrengungen unternommen werden müssen, auch den Rentnern, Sozialversicherungsempfängern und allen Bevölkerungskreisen, die dem Produktionsprozeß ferner stehen und die deshalb mit ihrem Einkommen nicht automatisch an dem wirtschaftlichen Fortschritt und steigenden Wohlstand teilhaben können, dennoch das Gefühl und die Gewißheit einer immer besseren Existenzsicherung zu vermitteln.
— Ich weiß gar nicht, welche Einwände Sie dagegen haben können.
Die Bundesregierung ist sich der besonderen Lage und Schwierigkeiten einzelner Wirtschafts-
Bereiche wie z. B. der Landwirtschaft oder ähnlicher Zweige des Mittelstandes sehr wohl bewußt. Zwar hat die Landwirtschaft aus der konjunkturellen Entwicklung insoweit Nutzen gezogen, als mit dem wachsenden Volkseinkommen und der wachsenden Kaufkraft auch ihre Erlöse gestiegen sind; aber sie hat dafür auch Belastungen auf sich nehmen müssen, da die Produktionskosten und Löhne ebenfalls gestiegen sind. Diese Anliegen gehen indessen über die umfassende Fragestellung der Konjunkturpolitik hinaus; sie bedürfen einer speziellen Behandlung, für die die Bundesregierung innerhalb ihrer Ressorts eingehende Vorbereitungen getroffen hat.
Die Bundesregierung läßt sich von dem Gedanken leiten, daß der hohe Grad unseres wirtschaftlichen Fortschritts, den die gemeinsame Arbeit aller ermöglicht hat, auch der gesamten Bevölkerung zugute kommen muß. Im Jahre 1945 war Deutschland politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich ein Trümmerfeld. Wenn der Wiederaufbau bis zu diesem sichtbaren Erfolg gelungen ist, sollten die Grundsätze dieser unserer Wirtschaftspolitik auch für die Zukunft Anwendung finden
und nicht hinsichtlich ihrer Brauchbarkeit gelegentlich in Zweifel gezogen werden.
Das Erreichte könnte nur durch den Sieg der Gruppeninteressen gefährdet werden.
I Die Bundesregierung handelt in ihrer Politik für das gesamte deutsche Volk und fühlt sich auch für dessen wirtschaftliche und soziale Zukunft voll verantwortlich.
Sie wendet sich daher eindringlich gegen alle jene Bestrebungen, die Gruppenziele als konjunkturpolitische Erfordernisse deklarieren und Maßnahmen vorschlagen, deren Anwendung in der Tat gerade zu einer Übersteigerung der Konjunktur und damit auch zu Preissteigerungen unerwünschten, ja vielleicht sogar gefährlichen Ausmaßes führen müßten. Niemand wird verkennen wollen, daß angesichts unserer Arbeitsmarktlage weitere Fortschritte der Rationalisierung im Interesse aller liegen und jede Verbesserung der Lebensführung wesentlich nur aus Erfolgen dieser Art fließen kann. Aber dazu bedarf es in unserer derzeitigen Konjunkturlage keiner zusätzlichen Investitionsanreize, noch scheint es tunlich zu sein, die Nachfrage nach solchen Gütern durch besondere steuerliche Maßnahmen noch zu steigern, ja unter Umständen sogar übersteigern zu wollen. Wenn wir das Volumen der Investitionen — die Investitionsquote beträgt 27 % des Brutto-Sozialprodukts, die Zunahme der einschlägigen Produktion gegenüber dem Vorjahre ebenfalls 27 % —auf dem derzeitigen hohen Stand behaupten können, dann bewegen wir uns auch im internationalen Vergleich auf Rekordhöhe und haben das Menschenmögliche getan. Das Maßhalten bedeutet also beileibe keine Resignation und keinen Fatalismus, sondern zeugt nur von der notwendigen. Einsicht in die realen Gegebenheiten und Möglichkeiten.
Da in dieser Beziehung fast eine Sprachverwirrung Platz gegriffen hat, erklärt die Bundesregierung, daß sie hinsichtlich der Investitionen also keineswegs an eine radikale Drosselung denkt, daß sie aber auch keiner Ausdehnung zustimmen kann, die die Lage auf dem Arbeitsmarkt und die allgemeinen Störungstendenzen nur verschärfen müßte. Die Bundesregierung weiß also sehr wohl, daß die Rationalisierung das wichtigste Mittel darstellt, um konjunkturelle Spannungen zu beseitigen. Aber sie weiß auch, daß eine weitere Aufblähung des Investitionsanteils am Sozialprodukt zu Lasten des Verbrauchs den konjunkturellen, ökonomischen, sozialen und politischen Rahmen sprengen und daneben jene schon erwähnten gefährlichen Preisauftriebstendenzen auslösen muß.
Das mit statistischem Material sehr wohl beweisbare Zurückhinken der Verbrauchsgütererzeugung und des Verbrauchs gegenüber der Investitionstätigkeit ist, wie ich wohl kaum zu versichern brauche, nicht etwa Ausfluß einer bewußt auf Begünstigung oder Benachteiligung abzielenden Politik, sondern vollzog sich in Konsequenz der wirtschaftlichen Notwendigkeiten, die uns vor die sozial drängende Aufgabe stellten, für 10 Millionen Flüchtlinge Vorsorge zu treffen, für über 4 Millionen Menschen Arbeitsplätze zu schaffen und die Produktivität unserer Wirtschaft auf den hohen Stand zu bringen, der uns in der Welt wettbewerbsfähig werden ließ. Hier sind Schicksalsfragen des deutschen Volkes angesprochen, über die sich keine Regierung hinwegsetzen konnte.
Die Bundesregierung kann und darf heute keine Konjunkturpolitik vertreten, die den Willen nach einer bewußten Verkürzung des Verbrauchs erkennen ließe; denn eine solche Zielsetzung wäre konjunkturpolitisch insofern sogar widerspruchsvoll, als die Spannungen und Preisauftriebstendenzen nicht in der Verbrauchs-, sondern fast ausschließlich in der Investitionsgütersphäre in Erscheinung treten. Eine solche Politik wäre auch unrealistisch, weil nach Maßgabe eines sich ständig ausweitenden Sozialprodukts eine Steigerung der Massenkaufkraft zur Erhaltung des Gleichgewichts sogar notwendig ist und eine moderne aufstrebende Volkswirtschaft des Fundaments einer breitgeschichteten Massenkaufkraft gar nicht entraten kann. Ich selbst kann wohl am wenigsten in den Verdacht geraten, verbrauchsfeindlich eingestellt zu sein.
Aber das wiederum kann nicht besagen, daß eine übermäßige Verbrauchssteigerung nicht ebenfalls konjunkturpolitische Gefahren zeitigen könnte. In jedem Fall aber würde eine nach dieser Richtung übersteigerte Politik im Hinblick auf die Sicherung des Fortschritts und die Mehrung des Wohlstandes auch für die Zukunft dem Interesse des ganzen deutschen Volkes wenig dienlich sein. Es ist darum nicht eine billige Redensart, sondern bedeutet oberstes volkswirtschaftliches Gebot, wenn die Bundesregierung von allen Schichten unseres Volkes Verständnis für das rechte Maßhalten und innere Disziplin fordert.
Wenn die Bundesregierung zur Sicherung ihrer auf die Stabilität von Wirtschaft und Währung abgestellten Politik willens ist, auch Mittel der Handels- und besonders der Zollpolitik einzusetzen, ist sie sich bewußt, daß sie sich 'damit in keiner Weise
der Zweckentfremdung dieser Instrumente schuldig macht. Wenn die Bundesregierung auch nicht daran denkt, sich des Trumpfes der Zollpolitik zur Aushandlung zollpolitischer Zugeständnisse seitens des Auslandes ohne Gegenleistung zu begeben, so würde doch ein Verzicht auf Anwendung von zollpolitischen Maßnahmen auch für rein innerwirtschaftliche Zwecke nicht verantwortet werden können. Eine recht angesetzte Zollpolitik vermag gerade in dier gegenwärtigen Konjunkturlage zu einem preisstabilisierenden Faktor von besonderem Gewicht zu werden; sie stellt sicher, daß beide Partner, d. h. in diesem Falle Arbeitgeber und Arbeitnehmer, nicht aus der volkswirtschaftlichen Front gemeinsamer Verantwortung ausbrechen können.
Nicht die Marktwirtschaft ist es, die in dieser Konjunkturphase versagt haben soll; diese Ordnung droht vielmehr dort gestört zu werden, wo ihr innerstes Element, der Wettbewerb, erlahmt. Darum ist es nur folgerichtig, diesen nach Kräften zu beleben und auch von außen in unsere Volkswirtschaft hereinzutragen. Der Preis wird nicht dort als überhöht empfunden, wo echter, vielgestaltiger Wettbewerb herrscht, sondern dort, wo der Wettbewerb eingeschränkt ist. Es erübrigt sich fast, dem hinzuzufügen, daß die Bundesregierung in der internationalen Zusammenarbeit stets in der Front derer stehen wird, die für eine Weitung und Befreiung der Märkte eintreten. Sind auf diesem Felde erst noch größere Erfolge erreicht, dann wird dieser Fortschritt nicht ohne Einfluß auf die innerwirtschaftlichen Konjunkturverhältnisse bleiben.
Die vorstehenden Überlegungen sind neben den rein finanzpolitischen Notwendigkeiten auch der Grund dafür, weshalb die Bundesregierung in dier gegenwärtigen Konjunktursituation nicht zu größeren Zugeständnissen in der Richtung einer allgemeinen Steuersenkung bereit sein kann. Wenn sie sich trotzdem unter bestimmten Voraussetzungen zur Senkung von Verbrauchsteuern bereit erklärt, tut sie das, um auch ihrerseits einen Beitrag zur Preissenkung im Verbrauchsgütersektor zu leisten.
Die Bundesregierung hat — entgegen den über Jahrzehnte reichenden Erfahrungen — die feste Absicht, die derzeitige Konjunktur nicht wieder in den wirtschaftlichen Abschwung, die Depression und die Krise einmünden zu lassen. Der gesunde Menschenverstand wehrt sich mit Recht dagegen, daß man in der für alle segensreichen guten Konjunktur eine Gefahr erblicken will. Aber der gleiche gesunde Menschenverstand müßte auch allen Schichten unseres Volkes deutlich machen, daß niemand aus einer illusionären Einschätzung der konjunkturpolitischen Möglichkeiten so viel verdienen kann, wie er mit Sicherheit verlieren muß, wenn es um der Sicherung der Währung willen notwendig werden sollte, einer sich verstärkenden und ausbreitenden Konjunkturüberhitzung mit den allgemein wirkenden Maßnahmen der Geld- und Kreditpolitik zu begegnen.
Die Bundesregierung hegt vielmehr die feste Überzeugung, daß es ihr mit der Unterstützung aller Bevölkerungsschichten und aller wirtschaftlichen Gruppen möglich ist, die Hochkonjunktur zu erhalten und einen weiteren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu gewährleisten. Das Kernstück unserer neuen ökonomischen Ordnung beruht gerade darauf, die hektischen Konjunkturschwankungen aus dem Entfaltungsprozeß der
Wirtschaft zu eliminieren und den Zustand einer vollen Beschäftigung bei gleichzeitiger Ausschöpfung aller Möglichkeiten des Fortschritts und des Wachstums als für die Volkswirtschaft normal zu konstituieren.
Aus dieser Verantwortung heraus legt die Bundesregierung dem Hohen Hause das folgende konjunkturpolitische Programm vor.
1. Die Bundesregierung wird im Zusammenwirken mit der Bank deutscher Länder die Stabilität von Wirtschaft und Währung mit allen zu Gebote stehenden Mitteln gewährleisten
2. Sie unternimmt selbst und unterstützt alle Bemühungen, Preissenkungen dort, wo sie betrieblich möglich sind, zu verwirklichen. Sie ist überzeugt, daß eine maßvolle Haltung der Unternehmen in ihrer Preispolitik dem eigenen Interesse und dem Nutzen aller mehr dient als eine bedenkenlose Ausschöpfung aller konjunkturellen Möglichkeiten.
3. Gleichzeitig erwartet die Bundesregierung von den Arbeitnehmern und Arbeitgebern und deren Organisationen, daß sie Lohnbewegungen in einem vernünftigen, gesamtwirtschaftlich vertretbaren Maße halten, das nicht zu Preissteigerung und Gefährdung des Lebensstandards der sozial schwächsten Schichten führt.
4. Die Bundesregierung wird ihrerseits darum bemüht sein, die staatlich gebundenen Preise und Tarife nicht zu erhöhen. Sie wird auf die Länderregierungen, die Städte, Kreise und Gemeinden einwirken, sich dem Beschluß der Bundesregierung für ihre Bereiche anzuschließen. Unbeschadet dieses Grundsatzes wird die Bundesregierung ihre Verpflichtungen aus dem Landwirtschaftsgesetz und dem Bundestagsbeschluß vom 8. Juli 1955 erfüllen.
5. Auch die Bundesregierung wird einen Beitrag zur Preissenkung leisten, indem sie dem Bundestag Senkungen von Verbrauchsteuern da vorschlägt, wo die Sicherheit besteht, daß die Senkung dieser Steuern dem Verbraucher voll und dauernd zugute kommt.
6. Die Fortführung der bisherigen erfolgreichen Außenhandelspolitik, die durch eine fortschreitende Liberalisierung und eine freizügige Zollpolitik gekennzeichnet ist, wird der Bundesregierung auch in der gegenwärtigen konjunkturellen Lage ein besonderes Anliegen bleiben.
Die Bundesregierung hat ein Programm für Zollsenkungen vorbereitet, das eine 50%ige Senkung aller Zölle bei den sächlichen Betriebsmitteln der Landwirtschaft, den Baumaterialien und Baubedarfsgütern zum Ziele hat. Vorschläge zu weiteren Zollsenkungen bei Betriebsmitteln des Handwerks und des Handels wird die Bundesregierung ehestens dem Bundestag zuleiten.
7. Wenn die finanzielle Vorsorge, die der Bundeshaushalt für die Zwecke der in den nächsten Jahren auf uns zukommenden Ausgaben zu treffen hat, nicht gefährdet werden soll, müssen weitere steuerliche Maßnahmen im Einklang mit den finanzwirtschaftlichen Erfordernissen gehalten werden. Aus diesen und zugleich auch aus konjunkturpolitischen Gründen kann die Bundesregierung zur Zeit keine allgemeinen Steuersenkungsmaßnahmen erwägen.
Sie erachtet indessen die Förderung geeigneter Rationalisierungsmaßnahmen auf volkswirtschaftlich wichtigen Einzelgebieten für geboten.
Sie will des weiteren dem Parlament Verbesserungen der Ehegattenbesteuerung und der Werbungskostenpauschale vorschlagen.
8. Zur Entlastung des Baumarktes wird die Bundesregierung ihre eigenen Bauvorhaben erneut auf ihre Dringlichkeit prüfen und sie mit der Gesamtlage des Baumarktes in Einklang halten. Die Bundesregierung wird sich bei den Ländern, Kreisen, Städten und Gemeinden und den sonstigen öffentlichen Körperschaften dafür einsetzen, daß auch sie ihre Investitionsvorhaben daraufhin untersuchen, wieweit durch eine Zurückstellung eine Entlastung des Baumarktes erreicht werden kann. Die Bundesregierung hat die gleiche Aufforderung an die Bundesunternehmen und jene Firmen gerichtet, an denen der Bund maßgebend beteiligt ist.
Zur Leistungssteigerung in der Bauwirtschaft fördert die Bundesregierung auch weiterhin mit allen Mitteln die kontinuierliche Beschäftigung durch Ausdehnung der Bausaison von neun auf elf Monate.
9. Im Hinblick auf die besonderen Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt wird die Bundesregierung unverzüglich Vorbereitungen treffen, um in bestimmten kritischen Arbeitsbereichen ausländische Arbeitskräfte und deutsche Arbeitskräfte im Auslande, die sich zu einer Rückkehr in die Bundesrepublik entschließen, heranzuziehen.
10. Die Bundesregierung ersucht den Bundestag und den Bundesrat, den von der Bundesregierung am 24. März 1955 erneut zugeleiteten Entwurf eines Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen beschleunigt zu verabschieden.
11. Die Bundesregierung hat die Frage der Einführung einer Vorschrift gegen Preisüberhöhungen in das Wirtschaftsstrafgesetz geprüft. Die von der Bundesregierung in Aussicht genommene Fassung der Vorschrift unterscheidet sich wesentlich von den früheren Preistreibereivorschriften. Sie erfaßt nicht die wettbewerbliche Preisbildung. Der Bundeswirtschaftsminister wird jedoch in die Lage versetzt, auf anderen Märkten im Bedarfsfalle gegen Preisüberhöhungen vorzugehen.
Die Bundesregierung hat sich bei der Aufstellung dieses Programms davon leiten lassen, daß die vor uns liegenden großen Aufgaben der Wiedervereinigung und der Sicherung von Frieden und Freiheit die Stetigkeit der Konjunktur erfordern und nicht von einer schrumpfenden, sondern nur von einer wachsenden und noch produktiver werdenden Volkswirtschaft erfüllt werden können.
Das gleiche gilt auch für die Aufgaben, die uns heute noch im Wohnungs- und Straßenbau gestellt sind. Die Bundesregierung fühlt sich — ich wiederhole es noch einmal — als Sachwalterin der wirtschaftlichen Interessen aller Bürger; vor allem wird sie das Vertrauen der sozial schwachen Bevölkerungsschichten und der Sparer nicht enttäuschen.
Sie weiß sich in diesem Streben mit dem gesamten Volk einig.
Die Berliner Bevölkerung mag trotz aller wirtschaftlichen Fortschritte, die auch in dieser Stadt sichtbar geworden sind, angesichts einer noch bestehenden größeren Arbeitslosigkeit vielleicht das Empfinden haben, daß hier vorzugsweise Probleme debattiert werden, die sich aus der wirtschaftlichen Entwicklung im Westen unseres Landes ergeben, die aber nicht voll mit ihren eigenen Sorgen übereinstimmen. Einer solchen Betrachtungsweise sei entgegengehalten, daß eine blühende Wirtschaft in der Bundesrepublik immer stärker auch auf Berlin ausstrahlt. Gerade die hohe, an die Kapazitätsgrenzen pressende Produktionsleistung wird immer mehr zu einer Auftragsverlagerung nach Berlin und, wie ich hoffe, auch zur Errichtung neuer Produktionsstätten in Berlin führen.
Die Bundesregierung wird auf die Wirtschaft einwirken, daß die in Berlin noch vorhandenen Kapazitätsreserven dem Aufbau unserer deutschen Volkswirtschaft auf die Dauer nutzbar gemacht werden.
Wenn wir die wirtschaftlichen Sorgen des freien Deutschland hier in Berlin in aller Offenheit besprechen, so erkennt die ganze Welt, daß es jene glücklichen Sorgen sind, die sich aus dem erfolgreichen Wiederaufbau und der vollen Ausnutzung aller Produktivkräfte für Zwecke der menschlichen Wohlfahrt ergeben. Eine blühende deutsche Volkswirtschaft mag unseren deutschen Brüdern im Osten Hoffnung und die Gewißheit geben, daß hier im Materiellen, im Seelischen und im Geistigen die Kraft lebendig ist, die die Lebensmöglichkeiten der Menschen im deutschen Osten mit dem Tage der Wiedervereinigung schnell auf das Niveau des freien Deutschland heben kann.
Diese erste Sitzung des Deutschen Bundestages in Berlin, der Hauptstadt eines wiedervereinigten Deutschland, und die Verkündung einer Regierungserklärung, die die Sicherung des wirtschaftlichen Fortschritts und der sozialen Wohlfahrt zum Ziele hat, sei zugleich Symbol der Arbeit und der Ideale eines freien Volkes und bestärke uns alle in der heiligen Verpflichtung, alles daran zu setzen, das ganze Deutschland in Frieden und Freiheit vereinigt zu sehen.