Rede von
Dr.
Eugen
Gerstenmaier
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren! Im Mai dieses Jahres hat der Deutsche Bundestag beschlossen, eine Arbeitswoche in Berlin abzuhalten. Der Bundestag will damit kundtun, daß er sich für das Schicksal dieser Stadt mitverantwortlich fühlt. Die Freiheit Berlins und die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes sind ein selbstverständlicher Inhalt und ein entscheidendes Ziel der deutschen Politik. Darin ist sich dieses Haus einig, auch wenn die Meinungen über den besten Weg zu diesem Ziel auseinandergehen.
Der Bundestag ist nicht nach Berlin gekommen, um hier eine Feierstunde abzuhalten, sondern um zu arbeiten. Es ist wichtig, daß wir von Zeit zu Zeit in unserer Arbeit innehalten, um unser Tun und Lassen vor der geschichtlichen Vergangenheit und der Zukunft der Nation zu prüfen. Wichtiger aber ist, daß wir uns im parlamentarisch-politischen Alltag redlich um die uns gestellten Aufgaben bemühen.
Wenn die Wiedervereinigung Deutschlands und — ich darf wohl auch hinzufügen — die Wiederherstellung Berlins als Reichshauptstadt in den freien Entschluß dieses Hauses gestellt wären, dann wäre beides längst gelöst und vollendet.
Aber weil es nicht an dem ist, weil wir täglich neu erfahren, wie sehr wir dabei abhängig sind von dem gegenseitigen Verhältnis der Mächte, die in dieser Stadt ebenso wie in der Welt noch immer gegeneinanderstehen, deshalb machen wir uns keine Illusionen über die großen Widerstände, denen unser Wille zur Einheit unseres ganzen Volkes noch begegnen wird. Aber was bleibt uns, als entweder resigniert die Hände sinken zu lassen, vor dem Status quo zu kapitulieren, am Brandenburger Tor müde wieder umzukehren, oder aber mit letzter Entschiedenheit weiter um die Einheit und Freiheit unseres Vaterlandes zu ringen?!
Es ist möglich, ja wahrscheinlich, daß darüber noch manches Herz bricht. Das deutsche Volk als Ganzes aber kann und darf dennoch keinen Augenblick davon ablassen, wenn es sich nicht selber verlieren will. Muß dieses Haus, muß sein Sprecher, muß die Bundesregierung oder das Oberhaupt dieser Stadt der Welt versichern, daß dieser Anruf zur Einheit und Freiheit Deutschlands kein Auftakt zur
Wiederholung alter Versuche gescheiterter deutscher Großmachtpolitik ist? Daß das auch kein Anruf, keine Wiedererweckung eines ungeläuterten deutschen Nationalismus ist? Wir appellieren nicht an den deutschen Nationalismus, wir appellieren an die Solidarität unseres Volkes, und wir appellieren an die Charta der Vereinten Nationen. Wir appellieren an die menschlichen, an die sittlichen Grundrechte der Völker. Wir werden nicht müde werden, das zu tun. Es darf nicht geschehen, daß wir Deutsche uns jemals beruhigen und einschlafen über der Spaltung unseres Landes und über der Unfreiheit von 18 Millionen Angehöriger unseres Volkes.
Weil wir das nicht wollen, weil wir wach und arbeitsam der Einheit und Freiheit unseres Volkes dienen wollen, deshalb, meine Damen und Herren, sind wir heute hier in der Hauptstadt des Reiches, an der Stätte großer Taten und auch schuldhaft bitterer Geschehnisse.
Der Deutsche Bundestag beginnt seine Arbeit in Berlin in dem Bewußtsein, daß seit dem Jahre 1933 in dieser Stunde zum ersten Male wieder eine freigewählte, legitime oberste gesetzgebende Körperschaft des deutschen Volkes ihre Arbeit hier aufnimmt.
Wir sind nicht hierher gekommen, um zu klagen oder anzuklagen; aber ich betrachte es als eine hohe Ehre, daß ich in dieser Stunde über alle Parteiunterschiede hinweg dem festen Willen dieses Hauses Ausdruck geben darf, daß die oberste gesetzgebende Körperschaft des deutschen Volkes sich niemals mehr beugen wird unter das Joch der Tyrannei und Rechtsbrechung, gleichgültig mit welchen Farben es sich drapiert.
Wir wissen und wir halten fest, daß der Deutsche Bundestag mit der Bundesrepublik Deutschland nur ein Provisorium ist bis zu dem Tag, an dem auch die frei gewählten Vertreter der heute noch in Unfreiheit gehaltenen 18 Millionen ein gesamtdeutsches Parlament bilden.
Aber dieses Bewußtsein des Provisoriums hält uns keinen Augenblick davon ab, die Grundsätze der freiheitlichen Rechtsordnung des deutschen Volkes als allezeit verpflichtend für uns und unser Volk anzusehen. Auch wenn kein Ton davon in der hier sogleich beginnenden Tagesarbeit des Deutschen Bundestages laut würde, so darf Berlin, so dürfen die 18 Millionen in der sowjetisch besetzten Zone, so darf das ganze deutsche Volk gewiß sein, daß hier keiner ist, der nicht in solcher Gesinnung, dieser Stadt und Zone, der Freiheit unseres Volkes und dem Frieden der Welt zu dienen, willens wäre.
Dem Regierenden Bürgermeister, dem Senat von Berlin und dem Rektor der Technischen Universität danke ich, daß sie der legitimen Vertretung des deutschen Volkes die Möglichkeit gegeben haben, nach 22 Jahren zum erstenmal wieder zu einer Arbeitstagung zusammenzutreten in Deutschlands Hauptstadt Berlin.
Meine Damen und Herren! An Stelle des ausgeschiedenen Abgeordneten Dr. Pfleiderer ist die Frau Abgeordnete Margarethe Hütter in den Bundestag eingetreten. Ich heiße Frau Hütter in unserer Mitte wieder willkommen.
Die übrigen amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Herr Bundesminister für Verkehr hat unter dem 15. Oktober 1955 die Kleine Anfrage 193 der Abgeordneten MüllerHermann, Schmidt , Rademacher und Genossen betreffend tarifpolitische Pläne des Bundesverkehrsministeriums — Druchsache 1726 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 1800 vervielfältigt.
Wir kommen dann zu Punkt 1 der Tagesordnung: Fragestunde .
Zur Frage 1 hat das Wort der Abgeordnete Kahn-Ackermann.