Rede von
Dr.
Ernst
Schellenberg
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir heute in erster Lesung den Entwurf des Kindergeldergänzungsgesetzes, also des dritten Kindergeldgesetzes, beraten, dann müssen dabei auch die Erfahrungen mit den ersten beiden Kindergeldgesetzen angesprochen werden. In den letzten Wochen haben Damen und Herren der CDU mit besonderem Nachdruck in der Öffentlichkeit erklärt, die beiden bisherigen Kindergeldgesetze hätten sich außerordentlich bewährt.
— Ich werde darauf eingehen; wir werden das am Schluß der Aussprache feststellen. — So hat beispielsweise Frau Kollegin Rehling — ich sehe sie im Augenblick nicht im Saal —
bei der Beratung des Haushalts des Herrn Bundesfamilienministers wörtlich gesagt:
Wir in der CDU sind mit dem Anlaufen des
Kindergeldgesetzes außerordentlich zufrieden,
und Frau Kollegin Praetorius schrieb kürzlich in einem Aufsatz sogar von einem „avantgardistischen Versuch" der Kindergeldgesetzgebung.
Nun, meine Damen und Herren, wie sind die Tatsachen? Leider sind der Herr Bundesarbeitsminister und auch Herr Kollege Horn in der Begründung der Vorlagen nicht auf die Erfahrungen mit den beiden bisher vorliegenden Gesetzen eingegangen.
Wir bedauern das deshalb, weil durch dieses dritte Gesetz die beiden anderen Gesetze geändert werden sollen. Dabei ist es nach unserer Auffassung die Pflicht des Gesetzgebers, Komplikationen, die sich ergeben haben, bei diesem dritten Gesetz nach Möglichkeit zu beseitigen. Deshalb bedaure ich, daß dazu hier bei der Begründung kein Wort gesagt wurde.
Die einzige Kenntnis, die die Öffentlichkeit bisher von den praktischen Erfahrungen mit den beiden ersten Kindergeldgesetzen hat, stammt aus einem Bericht, den die Geschäftsführung der Familienausgleichskassen in einer Pressekonferenz gegeben hat. Der wesentlichste Inhalt dieser Ausführungen der Familienausgleichskassen ist dann im „Bulletin" wiederholt worden. Dabei ist allerdings dem „Bulletin" ein Irrtum in bezug auf die von den Familienausgleichskassen genannten Zahlen unterlaufen; das „Bulletin" hat die Zahl der Kinder, die erfaßt sind, um 100 000 erhöht. Nach dem Bericht der Geschäftsführung der Familienausgleichskassen sind 1 170 000 dritte und weitere Kinder erfaßt. Das Bulletin spricht in Fettschrift von 1 272 000 erfaßten Kindern. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Druckfehler. Aber man hätte dann doch erwarten können, daß das Presse- und Informationsamt diesen Druckfehler berichtigt.
Im übrigen sind unberechtigte Zahlenangaben auch bei anderen Mitteilungen über den Personenkreis dieses Gesetzes vorgekommen. Ich muß in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß vor Verabschiedung der Kindergeldgesetze der Herr Bundesfinanzminister am 29. April 1954 im Rahmen der Bundespressekonferenz erklärt hatte, durch diese Gesetze, die in bezug auf den Personenkreis nicht verändert wurden, würden 2 100 000 dritte und weitere Kinder erfaßt. Diese Zahl ist fast doppelt so hoch wie die Zahl der Kinder, für die nach den Mitteilungen der Familienausgleichs-kassen gegenwärtig Kindergeld gezahlt wird, nämlich 1 100 000. Der Bundesfinanzminister hat zwar — das darf ich im Interesse der Klarheit hier mitteilen — in einem an mich persönlich gerichteten Schreiben diese Zahlen korrigiert; er hat es aber unterlassen, die Öffentlichkeit davon zu unterrichten, daß die ursprünglichen Zahlen überschätzt waren. Gerade deshalb, weil hier im sozialpolitischen Bezirk mit Überschätzungen in den Voranschlägen des Herrn Bundesfinanzministers gerechnet wurde, sind wir kritisch gegenüber Zahlen, die für den sozialen Bereich genannt werden. Wir kommen bei einem anderen Punkt der Tagesordnung, bei den Witwenrenten, noch darauf zu sprechen.
Wenn jetzt nach den Mitteilungen der Familienausgleichskassen für 1 100 000 dritte und weitere Kinder Kindergeld gezahlt wird, so ist das natürlich ein Tatbestand, über den auch wir Sozialdemokraten uns bei aller Kritik der Gesetzgebung freuen, wenn es sich auch leider nur um etwas über 8 % aller Kinder handelt. Wenn jetzt für 1,1 Millionen von 1,6 Millionen dritten und weiteren Kindern, die das Statistische Bundesamt festgestellt hat, Kindergeld gezahlt wird, fehlen zur Zeit noch Angaben über die Zahlung von Kindergeld für fast 500 000 Kinder,
also etwa die Hälfte der Kinder, die im Augenblick nach dem Bericht der Familienausgleichskassen Kindergeld erhalten. Selbst wenn berücksichtigt wird, daß sich nach diesem Bericht noch 136 000 Anträge in der Bearbeitung befinden, so steht doch immerhin die Berichterstattung für 300 000 dritte und weitere Kinder aus.
Sicherlich werden für einen Teil dieser Kinder Leistungen nach dem Kindergeldanpassungsgesetz in Frage kommen. Aber bisher hat weder die Bundesregierung noch irgendeine andere Stelle die geringste Mitteilung darüber gemacht, wie es praktisch mit der Gewährung von Kinderzuschüssen nach dem Kindergeldanpassungsgesetz steht. Wir hätten eigentlich von der Bundesregierung erwartet — und ich darf in diesem Zusammenhang an die Bundesregierung die Bitte richten, uns darüber Auskunft zu erteilen —, daß sie mitteilt, wieviel Kinderzuschläge auf Grund des Kindergeldanpassungsgesetzes die Träger der Unfallversicherung, der Rentenversicherung, der Arbeitslosenversicherung und der Kriegsopferversorgung gewähren und wie hoch — das ist nämlich sozialpolitisch der interessante Punkt — die tatsächlichen Mehrleistungen auf Grund des Kindergeldanpassungsgesetzes sind, die nicht 25 DM, sondern erheblich weniger betragen. Das möchten wir im einzelnen wissen. Ohne diese Angaben über die Gewährung von Kindergeld auch nach dem Kindergeldanpassungsgesetz kann man überhaupt nicht übersehen, wieviel Kinder unter dieses dritte Gesetz, das Er-
gänzungsgesetz, fallen; denn das Ergänzungsgesetz soll alle übrigen Kinder erfassen. Bei jeder gesetzgeberischen Beratung war es bisher üblich, jedenfalls ungefähr den Umfang des in Frage kommenden Personenkreises zu umreißen. Wir bedauern deshalb sehr, daß uns, bisher jedenfalls, die Unterlagen noch nicht vorgelegt worden sind. Vielleicht ist das im Laufe der Aussprache noch möglich.
Aber noch etwas anderes fällt auf, wenn man das bisher veröffentlichte Zahlenmaterial untersucht. Nach den Unterlagen des Statistischen Bundesamtes kommen für die gewerbliche Wirtschaft ohne die Kinder von Arbeitslosen insgesamt 848 000 Dritt- und weitere Kinder in Betracht. Die gewerblichen Familienausgleichskassen behaupten aber, daß sie am 30. April bereits für 956 000 Kinder tatsächlich Kindergeld gezahlt haben, wobei noch nicht einmal die in Bearbeitung befindlichen 59 000 Anträge berücksichtigt sind. Nach ihren Angaben zahlen also die gewerblichen Familienausgleichskassen Kindergeld bereits an über 100 000 Kinder mehr, als es sich aus den statistischen Unterlagen des Statistischen Bundesamts ergibt.
Meine Damen und Herren, Idas sind Widersprüche, die geklärt werden müssen. Vermutlich liegen in den Zahlenangaben Doppelzahlungen und Doppelzahlungen. Es ist auch möglich, daß infolge dieses, wie ich nicht anders sagen kann, unglücklichen Gesetzes Scheinarbeitsverhältnisse begründet wurden, nur um Kindergeld zu erlangen. Die Dinge sind jedenfalls nach 'dem bisher bekanntgewordenen Zahlenmaterial nicht in Ordnung. Deshalb werden wir Sozialdemokraten darauf bestehen, daß die Sachverständigen, die die Gesetze durchführen, an den Ausschußberatungen hierüber teilnehmen, damit die Widersprüche in persönlicher Aussprache geklärt werden und der Öffentlichkeit Zahlen vorgelegt werden können, die einer Nachprüfung standhalten. Darauf kommt es an.
Um jedes Mißverständnis auszuschalten: wegen der Widersprüche in den bisher veröffentlichten Zahlern erheben wir keine Vorwürfe gegen ,die Mitarbeiter der Familienausgleichskassen, die — das geben wir ohne weiteres zu — in der Durchführung der außerordentlich komplizierten Gesetze eine erfreuliche Beweglichkeit und Tatkraft unter Beweis gestellt haben.
Dies soll trotz aller Kritik, die wir an den gesetzgeberischen Grundlagen üben, durchaus anerkannt werden. Aber wir erheben Vorwürfe gegen die, die mit den Zahlen in der Öffentlichkeit operieren und sie als Beweis dafür ,anführen wollen, daß die bisherige Gesetzgebung sinnvoll ist.
Wenn wir jetzt das Kindergeldergänzungsgesetz, das dritte Gesetz, beraten, so kann ich nicht umhin, der Regierung den Vorwurf zu machen, daß sie bisher noch nicht einmal die Verpflichtungen aus dem ersten Kindergeldgesetz erfüllt hat.
In § 34 des Kindergeldgesetzes ist nämlich die Regierung ermächtigt worden, durch Rechtsverordnung die Gewährung von Kindergeld an deutsche Staatsangehörige zu regeln, die außerhalb des Geltungsbereichs des Gesetzes tätig sind. In den Ausschußberatungen ist seinerzeit insbesondere uns Berliner Abgeordneten erklärt worden, daß mit Wirkung 'vom 1. Januar jedenfalls für Berlin die Durchführungsverordnung kommen werde, damit
für die Berliner Grenzgänger sogleich idas Kindergeld gewährt wird. Bis zur Stunde liegt diese Durchführungsverordnung weder für die Berliner Grenzgänger noch für die Grenzgänger im Bundesgebiet vor. Man sage nicht, meine Damen und Herren, daß der Erlaß dieser Rechtsverordnung umfangreiche zwischenstaatliche Verhandlungen notwendig macht. Dann hätte wenigstens für die Hauptgruppe, die Berliner Grenzgänger, für die solche Verhandlungen nicht erforderlich sind, entsprechend den Zusagen im Ausschuß die Durchführungsverordnung erlassen werden müssen.
Ungeachtet der grundlegenden Meinungsverschiedenheiten über die Kindergeldgesetzgebung waren wir uns in diesem Hause darüber einig, daß die Lücken der Gesetze baldigst geschlossen werden sollen, damit wenigstens alle Dritt- und weiteren Kinder Kindergeld erhalten. Darauf hat die sozialdemokratische Bundestagsfraktion stets mit besonderem Nachdruck hingewiesen. Wir haben bereits am 11. November vergangenen Jahres den Entwurf eines solchen Kindergeldgesetzes eingebracht. Der Gesetzentwurf ist dem Sozialpolitischen Ausschuß überwiesen worden. Aber die Beratung dieses sozialdemokratischen Gesetzentwurfs, der diese Lücken schließen sollte, ist viele Monate unter dem Hinweis vertagt worden, es käme in den nächsten Tagen oder Wochen die umfassende Regierungsvorlage eines Kindergeldergänzungsgesetzes.
Die Bundesregierung wurde beauftragt, den Entwurf am 1. April vorzulegen; er liegt heute vor. Ich will nicht darauf eingehen, ob das Verfahren, daß die Christlich-Demokratische Union im Interesse der Beschleunigung 'dem Gesetzentwurf der Regierung vorgegriffen hat, eine sehr planmäßige Arbeitsgestaltung zeigt und ob es nicht gerade eine gewisse Doppelgleisigkeit erkennen läßt. Aber der Umstand — und das scheint mir bedeutungsvoll zu sein —, daß die Bundesregierung praktisch fast ein Dreivierteljahr gebraucht hat, um dieses Kindergeldergänzungsgesetz vorzulegen, zeigt die Komplizierung der Materie, gegen die wir uns zusammen mit anderen Fraktionen bei der Beratung der Kindergeldgesetze gewandt haben. Ich zweifle nicht daran, daß die Regierung alle Anstrengungen gemacht hat, um wenigstens dieses Ergänzungsgesetz beschleunigt vorzulegen. Daß das aber ein Dreivierteljahr gedauert hat, ist offenbar eine Folge jener Konzeption, die wir alle im House mit Ausnahme der CDU für unglücklich gehalten haben.
Infolgedessen stehen wir heute der Tatsache gegenüber — und insofern stimme ich dem Kollegen Horn völlig zu —, daß wir jetzt ein Gesetz beraten müssen und wahrscheinlich erst nach den Ferien verabschieden können, das rückwirkend mit dem 1. Januar dieses Jahres in Kraft treten soll. Das ist für die gesetzgeberische Arbeit ein nicht gerade erfreulicher Tatbestand, so sozialpolitisch notwendig das natürlich ist.
Durch diesen Gesetzentwurf soll nun — ,der Herr Bundesarbeitsminister hat das dargelegt — für den Rest der dritten und weiteren Kinder Kindergeld gewährt werden. Ob dies tatsächlich der Fall ist, kann ich im Augenblick noch nicht sagen. Jedenfalls scheint mir nach Durchsicht des Gesetzentwurfs — ich bitte, mich gegebenenfalls zu berichtigen — .nicht gewährleistet zu sein, daß beispielsweise die deutschen Beschäftigten bei auslän-
dischen Missionen Kindergeld erhalten. Dazu gehören z. B. für Berlin die Beschäftigten beim Sender RIAS. Soweit ich den Gesetzestext verstehe, sind auch diese Kinder noch nicht erfaßt; aber das wird im Ausschuß beraten werden müssen.
Im Zusammenhang mit der Gestaltung der bisherigen Gesetze wird darauf hingewiesen, daß die Verwaltungskosten der Familienausgleichskassen mit 3 bis 4 % niedriger sind, als zuerst angenommen wurde. Eine solche Mitteilung scheint mir etwas voreilig zu sein, denn bisher haben die Familienausgleichskassen den zweiten Teil ihrer Aufgabe, nämlich die Aufbringung der Mittel, kaum in Angriff genommen. Sie sind in dieser Hinsicht erst bei den ersten Schritten. Es läßt sich noch nicht übersehen, welche Schwierigkeiten im einzelnen daraus entstehen werden. Hinzu kommt, daß mit der Durchführung der Kindergeldgesetzgebung außer den Familienausgleichskassen die Träger der Rentenversicherung, der Arbeitslosenversicherung usw. betraut sind. Es ist unmöglich, die Komplizierung und den Verwaltungsaufwand bei diesen Stellen außer acht zu lassen.
Herr Kollege Horn hat mit Recht darauf hingewiesen, daß sich insbesondere bei den Arbeitsämtern durch die bisherige Kindergeldgesetzgebung außerordentliche Komplikationen ergeben haben. Zwei Drittel der Anträge mußten mangels Zuständigkeit abgelehnt werden. Die sozialpolitische Folge war, daß für die betreffenden Arbeitslosen die Zahlung des Familienzuschlags eingestellt wurde und sie an die Familienausgleichskassen verwiesen wurden. Wenn die Arbeitslosen dann endlich zum Kindergeld kamen, mußten sie feststellen, daß das Kindergeld für sie nicht 25 DM zusätzlich betrug, sondern daß nur die Differenz zwischen Familienzuschlag und Kindergeld gezahlt wurde. Es ist sehr unerfreulich, daß die arbeitslosen Familienväter in das Mahlwerk einer unzureichenden Kindergeldgesetzgebung geraten sind.
Aber die verhängnisvollste Folge der Kindergeldgesetzgebung war und ist — darauf weist der Bundesrat in seiner Begründung mit Recht hin —, daß die Komplizierung des Systems dazu führte, daß Arbeitslose wegen der Umständlichkeit und der Mehrkosten bei der Vergebung geringfügiger Beschäftigungen zurückgesetzt wurden. Wie man auf Grund dieser Unterlagen, die von den Ländern stammen, mit Frau Kollegin Rehling behaupten kann, man sei mit der Durchführung des Kindergeldgesetzes außerordentlich zufrieden, ist mir unverständlich. Auf Grund der Vorschläge der Regierung und des Bundesrates soll eine Regelung getroffen werden. Ob der vorgeschlagene Weg richtig ist, werden wir in den Ausschußberatungen feststellen müssen.
Im übrigen werden durch dieses Gesetz — und das scheint uns auch eine bedenkliche Folge der bisherigen Konzeption zu sein — außer den Familienausgleichskassen auch andere Träger der gesetzlichen Unfallversicherung mit den Aufgaben der Kindergeldgewährung betraut. Bisher halben die geistigen Väter und insbesondere Herr Kollege Winkelheide immer betont, daß eine strenge arbeitsmäßige Trennung zwischen Berufsgenossenschaften und Familienausgleichskassen durchgeführt würde und daß die Kindergeldzahlung verwaltungstechnisch nichts mit dem Apparat der Träger der Unfallversicherung zu tun habe. In dem vorliegenden Gesetzentwurf soll aber von dieser
Auffassung abgegangen werden; denn jetzt sollen die Aufgaben der Kindergeldzahlung unmittelbar den sonstigen Trägern der Unfallversicherung übertragen werden. Das bedeutet, daß außer den Gemeindeunfallversicherungsverbänden, den Eigenunfallversicherungsträgern und Ausführungsbehörden des Bundes und der Länder nach meiner Kenntnis sogar die Feuerwehrunfallversicherungskassen Kindergeld zu zahlen haben. Ich glaube, das ist eine sehr unglückliche und unerfreuliche Konstruktion.
Aber das Entscheidende der bisherigen Gesetze — leider hat der Herr Bundesarbeitsminister gesagt, daß er sich mit den Komplikationen der bisherigen Gesetze nicht beschäftigen würde — ist, daß prinzipiell an der Berufstätigkeit der Eltern als Voraussetzung der Kindergeldzahlung festgehalten wird. Zwar sollen jetzt nach § 2 des Kindergeldergänzungsgesetzes auch Nichterwerbstätige in die Kindergeldregelung einbezogen werden; sozialpolitisch sind aber die Ausnahmevorschriften des nächsten Paragraphen, des § 3 entscheidend. Dadurch werden nämlich die Kinder von Kriegsbeschädigten, die Waisen der Kriegsopferversorgung, die Unterhaltsberechtigten, die Waisen der Rentenversicherung und der Unfallversicherung ausdrücklich wieder aus der Regelung, die man großzügigerweise in § 2 einführt, ausgeschlossen.
Damit wird das Prinzip beibehalten, das bereits beim Kindergeldgesetz und beim Kindergeldanpassungsgesetz zu den größten Mißständen geführt hat. Denn gerade bei den sozial schwächsten Personenkreisen mit mehr als drei Kindern ergab sich nicht — ich habe das schon bei den Arbeitslosen angedeutet, und das gilt für alle Sozialleistungsempfänger — wie bei den Beschäftigten ein zusätzliches Kindergeld von 25 DM, sondern nur eine Aufstockung, oft nur von 5 DM, für Kriegerwaisen zum Teil überhaupt nichts. In Einzelfällen führte die Anrechnung des Kindergeldes auf die Ausgleichsrenten sogar zu einer Verringerung des Familieneinkommens, was wohl sozialpolitisch wenig sinnvoll ist. Die im Gesetzentwurf vorgesehene Regelung für Nichterwerbstätige wird praktisch für über 90 % der Nichterwerbstätigen, nämlich für alle Sozialleistungsempfänger, illusorisch und ist deshalb ohne sozialpolitische Bedeutung.
Zu welchen, ich kann nicht anders sagen: absurden Folgerungen die Konstruktion führt, daß die Kindergeldregelung grundsätzlich an die Erwerbstätigkeit der Eltern gebunden wird, zeigt sich bei den Waisen. Kindergeld wird, das geht aus der Begründung insbesondere zu § 3 ausdrücklich hervor, neben der Waisenrente allein der erwerbstätigen Witwe, aber nicht der Witwe, die keine Erwerbstätigkeit ausübt, gewährt. Hierzu gibt der Regierungsentwurf folgende „klassische", muß ich leider sagen, Begründung; ich darf sie vorlesen: Die Besserstellung der erwerbstätigen Witwe gegenüber der nicht erwerbstätigen Witwe erscheint im Hinblick auf das Streben, neben der Erfüllung der Mutteraufgabe durch eigene Erwerbstätigkeit die wirtschaftliche Lage der Familie zu verbessern, gerechtfertigt.
Das ist unter sozialpolitischen Gesichtspunkten
höchst bedenklich, wenn nämlich hiermit gewisser-
maßen Kindergeld als Belohnung für die Erwerbstätigkeit von Witwen mit drei unid mehr Waisenkindern gewährt wird.
Hierzu werden die Sozialdemokraten niemals ihre Zustimmung gelben. Ich darf in ,diesem Zusammenhang darauf verweisen, daß auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Ergänzungsgesetz diese Konstruktion als außerordentlich bedenklich bezeichnet hat.
Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme zu den Änderungsvorschlägen des Bundesrates erklärt, sie könne bezüglich der erwerbstätigen Witwe keine anderen Maßnahmen treffen, weil die vorgesehene Regelung eine notwendige Folgerung der grundsätzlichen Entscheidungen der Kindergeldgesetzgebung sei. Meine Damen und Herren, insbesondere die Vertreter der Regierung: Anstatt den Erlaß dieses Ergänzungsgesetzes nun zum Anlaß einer Überprüfung der bisherigen Maßnahmen zu nehmen, hält die Bundesregierung — ich kann nicht anders sagen — stur an der bisherigen Konstruktion fest, daß die Erwerbstätigkeit der Witwe die Voraussetzung einer Kindergeldzahlung sein muß.
Ich muß in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam machen, daß die Bundesregierung bei dieser ihrer Stellungnahme offenbar das vom Herrn Bundeskanzler angeregte Gutachten zur Neuordnung der sozialen Leistungen nicht berücksichtigt hat, in dem es heißt: Das Ziel solcher Versorgung muß sein, der Witwe die Erziehung ihrer Kinder zu ermöglichen, ohne daß sie außerhalb des Hauses zur Arbeit gezwungen ist. — Was die Bundesregierung hier durch diesen Gesetzentwurf tut und was sie in der Begründung gewissermaßen zum Prinzip erhebt, ist das Gegenteil davon.
Trotz der Kritik, der scharfen Kritik, die wir an dem Kindergeldergänzungsgesetz zu üben haben, wollen wir nicht verkennen, daß durch dieses Gesetz eine Reihe von Mißständen der bisherigen Kindergeldgesetze beseitigt wird, z. B. dadurch, daß beim Wechsel von Zuständigkeiten die letzte Stelle grundsätzlich die Leistungen vorläufig weiter zu gewähren hat. Aber gerade bei den Bemühungen zur Beseitigung der Komplikationen und Schließung der Lücken wird besonders deutlich, wie wenig glücklich die Grundkonzeption der bisherigen Kindergeldgesetzgebung war. Jeder Schritt zur Beseitigung von Fehlern der bisherigen Gesetzgebung führt nämlich zwangsläufig zu einer weiteren Komplizierung der Gesetzgebung, so daß dieses Kindergeldgesetz — und das bitte ich mir dadurch zu bestätigen, meine Damen und Herren, daß Sie das Gesetz wirklich mal durcharbeiten! — kaum für Sachverständige verständlich ist. Infolgedessen wird es beispielsweise erforderlich, wegen dieses Kindergeldgesetzes sieben verschiedene Gesetze zu ändern:
das Kindergeldgesetz, das Kindergeldanpassungsgesetz, das Gesetz über Arbeitsvermittlung und
Arbeitslosenversicherung, die Reichsversicherungsordnung, das Bundesversorgungsgesetz, das Lastenausgleichsgesetz und schließlich die Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge. Damit beweist der vorliegende Gesetzentwurf, daß die bisherige Konzeption auch gesetzessystematisch zu unmöglichen Konsequenzen führt.
Das Kindergeldergänzungsgesetz läßt aber nicht nur die Problematik in bezug auf die Leistungsgewährung, sondern auch in bezug auf die Aufbringung der Mittel deutlich werden. In den ersten Monaten wurden die finanziellen Probleme in eleganter Weise dadurch gelöst, daß der Herr Bundesfinanzminister den Familienausgleichskassen ein zinsloses Darlehn in Höhe von 113 Millionen DM gewährt hat. Eine derartige Großzügigkeit des Herrn Bundesfinanzministers im sozialpolitischen Bereich ist bemerkenswert.
Ich vermag allerdings nicht klar zu übersehen — und ich bitte, mich durch die Sachverständigen des Haushaltsrechts gegebenenfalls zu berichtigen —, ob dieses Verfahren des Herrn Bundesfinanzministers mit Art. 115 des Grundgesetzes im Einklang steht, in dem festgelegt ist, daß derartige Darlehen nur für ein Haushaltsjahr gewährt werden können, während sich nach meiner Kenntnis der Dinge diese Mittelgewährung sowohl im Haushaltsjahr 1954/55 wie im Haushaltsjahr 1955/56 abspielte. Ich möchte das im einzelnen nicht untersuchen. Wir stellen jedenfalls fest, daß der Herr Bundesfinanzminister hier eine Weitherzigkeit gezeigt hat, die wir auch in anderen sozialpolitischen Fragen, die wir heute noch zu beraten haben, von ihm erwarten.
Meine Damen und Herren, nachdem die Darlehensgewährung jetzt zu Ende geht, ergeben sich für die Aufbringung der Mittel erhebliche Schwierigkeiten. Die Familienausgleichskassen mußten in ihrem Bericht selbst erklären, daß die Beitragsvorschüsse, die erhoben werden, zwischen 0,1 % und 1,6 % des Lohnaufkommens — Herr Kollege Atzenroth, Sie haben in einem Bericht erklärt, sogar 1,8 % des Lohnaufkommens — schwanken. Die Tatsache, daß einzelne Betriebe zu Vorschüssen herangezogen werden, die bei gleicher Lohnsumme das 16fache des Vorschusses anderer Betriebe betragen, hat zu einer starken Beunruhigung der betreffenden Wirtschaftskreise geführt.
Auch dort, wo Vorschüsse nach der Kopfzahl der Beschäftigten erhoben werden, sind die Unterschiede außerordentlich groß. Die Familienausgleichskassen haben in ihrem Bericht erwähnt, daß die Pro-Kopf-Beträge im Durchschnitt 19,30 DM betragen. Tatsache ist aber, daß die Beitragssätze insbesondere für die wirtschaftlich schwächeren Wirtschaftszweige erheblich höher sind. So betragen sie beispielsweise für kleine Handwerker wie Friseure 30 DM pro Kopf der Beschäftigten.
— Immerhin gegenüber 19,30 DM, von denen berichtet wurde, eine erhebliche Steigerung.
Von diesen Unzulänglichkeiten werden vor allem
die kleinen Betriebe, insbesondere auch die des
Einzelhandels und des Handwerks betroffen. Die Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels hat in ihrem Pressedienst vom 3. Juni in diesem Zusammenhang wörtlich erklärt, daß die Befürchtungen, die bei Beratung des Kindergeldgesetzes geäußert wurden, sich jetzt in vollem Umfange bewahrheiten.
Sollte diese Mitteilung des Einzelhandels nicht auch zur Kenntnis der Damen und Herren gelangt sein, die von einer Bewährung der bisherigen Kindergeldgesetzgebung sprechen?
Meine Damen und Herren, aus diesen Erfahrungen müssen die Folgerungen gezogen werden. Es ist dringend erforderlich, in Anwendung von § 14 des Kindergeldgesetzes die unzumutbaren und unterschiedlichen Belastungen auch bei den Vorschußzahlungen zu beseitigen. § 14 bevollmächtigt die Bundesregierung, hierfür Richtlinien aufzustellen. Meine Fraktion wünscht, daß damit nicht bis Ende 1956, bis zur Schlußabrechnung, gewartet wird, sondern daß diese Richtlinien schon im Zusammenhang mit der Vorschußzahlung, die die Betriebe beunruhigt, erlassen werden.
Denn, meine Damen und Herren — ich glaube, das kann man offen aussprechen —, die Finanzierung der Kindergeldregelung wird zum Teil in der Wirtschaft zu einem Kampf aller gegen alle. Die gewerbliche Wirtschaft steht auf dem Standpunkt, daß sie einen viel zu hohen Teil der Mittel zugunsten der Landwirtschaft aufzubringen hat. Die Landwirtschaft dagegen vertritt die Auffassung, daß in der Praxis eine Verlagerung auf die Landwirtschaft vorgenommen wird, beispielsweise dadurch, daß Arbeitslose der gewerblichen Wirtschaft, wenn sie sich auch nur für einige Stunden in der Landwirtschaft betätigen, den landwirtschaftlichen Familienausgleichskassen zugewiesen werden. Besonders bedenklich ist, daß die Besitzer kleinster landwirtschaftlicher Nebenbetriebe von einigen Ar selbst dann, wenn sie ihren Lebensbedarf aus einer bescheidenen Rente der Sozialversicherung decken, zur Beitragszahlung für die Familienausgleichskassen herangezogen werden.
Die Anregung des Bundesrats, hier Abhilfe zu schaffen oder wenigstens die Besitzer von landwirtschaftlichen Nebenbetrieben, die noch nicht einmal das Existenzminimum haben, von einer Beitragszahlung zu befreien, hat, wie auch der Herr Bundesarbeitsminister vorgetragen hat, nicht die Zustimmung der Bundesregierung finden können, weil das die Grundlagen der Gesetzgebung berühre.
Gerade das scheint uns aber auch bezüglich der Finanzierung ein Beweis dafür zu sein, daß die Konstruktion der Kindergeldgesetze fehlerhaft ist.
Ich komme zum Schluß. Der Deutschland-UnionDienst hat im Hinblick auf dieses Kindergeldergänzungsgesetz erklärt — auch der Herr Bundesarbeitsminister hat dies anklingen lassen —: Mit diesem Kindergeldergänzungsgesetz wird dann dieses Gesetzgebungswerk seinen Abschluß finden und die gesamte Materie auf eine neue und glückliche Art geregelt sein.
Ich glaube, auch bei optimistischer Betrachtung — zu der Sie,.. Herr Kollege Winkelheide, selbstverständlich verpflichtet sind — kann doch wirklich davon nicht die Rede sein.
Nach Auffassung der sozialdemokratischen Fraktion müssen durch das Kindergeldergänzungsgesetz nicht nur die Lücken in der Kindergeldzahlung für die noch nicht erfaßten dritten und weiteren Kinder geschlossen werden, sondern es ist unbedingt notwendig, die Schwierigkeiten — „Komplikationen" hat der Herr Bundesarbeitsminister gesagt; ich muß sogar sagen: die Mißstände —, die sich aus den beiden ersten Kindergeldgesetzen ergeben haben, sowohl auf der Leistungsseite wie bei der Frage der Mittelaufbringung zu bereinigen. Denn es würde verhängnisvoll sein und dem Ansehen dieses Hauses sicher nicht dienen, wenn wir in Kürze vielleicht noch ein viertes Kindergeldgesetz zur Regelung der Komplikationen, von denen ich gesprochen habe, beraten müßten. Das muß in diesem dritten Gesetz geregelt werden.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat schon durch den Entwurf ihres Kindergeldergänzungsgesetzes vom November klargelegt, wie wir uns die Beseitigung der Schwierigkeiten vorstellen. Wir haben beantragt, für alle nicht erfaßten dritten und weiteren Kinder die Finanzämter — unter Berücksichtigung gewisser Erstattungsansprüche — mit der Kindergeldzahlung für diesen Restbestand zu beauftragen. Damit sollte die unglückliche Konstruktion wenigstens teilweise aufgelockert werden, und es sollte vermieden werden, daß, wie es jetzt der Entwurf der Regierung vorsieht, mit der Kindergeldzahlung nun auch noch die Eigenunfallversicherung, die Ausführungsbehörden und die Feuerwehrversicherungskassen betraut werden. Auf Grund der bisherigen Beratungen müssen wir leider befürchten, daß die größte Fraktion dieses Hauses eine solche einfachere Regelung lediglich deshalb ablehnen wird, weil sie nicht mit ihrer Konzeption vereinbar ist. Wir Sozialdemokraten werden aber im Interesse der Familien mit Kindern, aber auch im Interesse der Kreise, die die Mittel für die Kindergeldgewährung — insbesondere die kleinen Betriebe — aufbringen müssen, alles tun, um die vorliegenden Gesetzentwürfe der Bundesregierung und der CDU/CSU zu verbessern. Unsere endgültige Einstellung zu den Gesetzentwürfen wird ausschließlich davon abhängen, ob es in den Ausschußberatungen gelingt, wenigstens die gröbsten Mißstände der bisherigen Kindergeldgesetzgebung zu beseitigen.