Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die grundsätzliche Autfassung meiner Fraktion über die Wahlrechtsfrage ist mehrfach bei offiziellen Veranstaltungen meiner Partei, und zwar zuletzt auf dem Hamburger Parteitag im Jahre 1953, bekundet worden. Wir bekennen uns zum Prinzip des Mehrheitswahlrechts, und diese Auffassung beruht auf unseren Auffassungen über die Aufgaben des Parlaments. Wir sind der Meinung, daß das Parlament nicht nur Gesetze zu machen und den Haushalt zu genehmigen hat. Eine ebenso wichtige Aufgabe besteht unseres Erachtens in der Bildung und laufenden Kontrolle der Regierung, und eine nicht minder wichtige Aufgabe sehen wir darin, dafür zu sorgen, daß eine wirksame Opposition im Parlament besteht. Wir vertreten den Standpunkt, daß es entscheidend vom Wahlrecht abhängig ist, ob diese Aufgaben erfüllt werden. Das Verhältniswahlrecht halten wir hierfür nicht für geeignet.
Ich bin eigentlich erstaunt, meine Damen und Herren, daß weder der Kollege Rehs von der SPD noch der Kollege Schneider von der FDP mit irgendeinem Wort auf die Frage, um die es hier eigentlich geht, eingegangen ist, nämlich warum sie nun eigentlich das Verhältniswahlrecht dem Mehrheitswahlrecht vorziehen. So möchte ich mich hier mit dem Verhältniswahlrecht auseinandersetzen.
Die theoretische Grundlage des Verhältniswahlrechts besteht in der Auffassung, daß das Parlament eine Repräsentativversammlung ist, daß es ein Spiegelbild der vielfältigen politischen Auffassungen des Volkes zu sein hat, womit gesagt wird, daß es — und mit dieser Formulierung wird zugleich auch der Irrtum klar — die Darstellung einer Desintegration ist. Wir meinen, daß im Gegensatz hierzu die Aufgabe des Parlaments darin besteht, aus einer Vielzahl von politischen Meinungen des Volkes eine gültige Auffassung herauszuarbeiten, d. h. eine Entscheidung zu fällen, also zu integrieren. Das tut aber ein Parlament, in dem eine Vielzahl von Parteien, die selbständig nebeneinander manövrieren, vertreten sind, wie ohne weiteres einzusehen ist, nicht so gut wie ein Parlament, das aus zwei Parteien besteht. Das Verhältniswahlrecht läßt aber regelmäßig eine Reihe von Parteien zu, während das Mehrheitswahlrecht zur Bildung von zwei Parteien führt.
Im Zwei-Parteien-System regiert diejenige Partei, die die Wahl gewinnt, vier Jahre, während der anderen Partei für dieselbe Zeit die Rolle der Opposition zufällt. Hierdurch sind stabile Verhältnisse, klare Zuständigkeiten, klare Verantwortung gegeben, und zwar durch das Votum der Wähler. Nicht die Fraktionen, wie bei einem durch das Verhältniswahlrecht gewählten Mehr-Parteien-Parlament, bestimmen die Zusammensetzung der Regierung — in der Weimarer Zeit und auch neuerdings mußten wir da häufig recht unerfreuliche Erscheinungen beobachten —, sondern das Volk selbst wählt die Regierung. Die Regierungsbildung erfolgt also nicht nach der Wahl und dabei vielfach sehr im Gegensatz zu den Vorstellungen, die manche Wähler bei der Abgabe ihres Stimmzettels hatten, sondern sie erfolgt durch die Wahl.
Statt einer Mehr-Parteien-Regierung, bei der die Verantwortlichkeiten der beteiligten Parteien regelmäßig verwischt werden, gibt es eine Ein-Partei-Regierung. Statt einer häufig aus mehreren Parteien bestehenden Opposition, die aus völlig verschiedenen Gesichtspunkten in Opposition stehen und infolgedessen auch keine gemeinsame Verantwortung haben, befindet sich im Zwei-ParteienSystem nur eine Fraktion in der Opposition und muß bei ihrer Haltung stets beachten, daß sie ja bei der nächsten Wahl die Regierung übernehmen will. Dadurch ist sie gezwungen, eine verantwortungsbewußte Opposition zu betreiben.
Auf den wesentlichen Unterschied aber zwischen einem nach Mehrheitswahlrecht und einem nach Verhältniswahlrecht gewählten Parlament habe ich schon in der Rede hingewiesen, die ich in der ersten Legislaturperiode anläßlich der Beratung des Wahlrechts an dieser Stelle gehalten habe. Der Unterschied besteht in folgendem. Ein Element der politischen Arbeit ist nun einmal das Kompromiß. Man versucht zu einem Weg der Mitte zu gelangen, und dieses Bestreben ist auch richtig. Es führt bei einem nach Verhältniswahlrecht gewählten Parlament, in dem also mehrere Parteien vertreten sind, zu einer Tendenz, wenn möglich, eine Regierung der Mitte zu bilden. Jede Regierung muß damit rechnen, daß sie einer langsam zunehmenden Opposition ausgesetzt ist. Bei einer Regierung der Mitte bestehen zwei oppositionelle Flügel, und zwar auf der rechten und auf der linken Seite. Auf diese oppositionellen Flügel wird von den immer existenten radikalen Elementen rechts und links eine Anziehungskraft ausgeübt. Der Regierung der Mitte stehen somit mehrere mehr oder minder radikale, sich selbst aber erbittert bekämpfende Oppositionsgruppen gegenüber, deren Kräfte von einer von der Regierung ausgehenden Zentrifugalkraft ständig gespeist werden. Diese Oppositionsgruppen sind nur in einem einig: nämlich in der Bekämpfung der Regierung.
Bei einem Zwei-Parteien-Parlament ist das anders. Beide Parteien, sowohl die, welche die Wahl gewonnen hat, wie die, welche sie verloren hat, brauchen sich um die an ihren äußeren Flügeln befindlichen radikalen Wählergruppen gar nicht zu kümmern; denn diese Wählergruppen können sich nicht loslösen und eigene Kandidaten aufstellen, weil das Mehrheitswahlrecht solchen Kandidaten keine Chance geben würde.
Beide Parteien brauchen sich also nur um die Grenzwähler in der Mitte zwischen den beiden Parteien zu kümmern; denn diese Wähler können, wenn sie unzufrieden sind, bei der nächsten Wahl die Partei wechseln und damit das Wahlresultat entscheiden.
Aus diesem vorwiegenden Interesse beider Parteien für die Grenzwähler in der Mitte muß sich konsequent für beide, sowohl für die Regierung, als auch für die Opposition, eine Politik der Mäßigung, der Verständigung und des Kompromisses ergeben. Sie unterliegen gewissermaßen einer Zentripetalkraft. Dies trifft für die Opposition um so mehr zu, als sie jederzeit bereit sein muß, nach Neuwahlen die Regierung zu übernehmen. Sie kann sich der Übernahme der Regierungsgewalt, wenn das Volk zu ihren Gunsten entschieden hat, nicht entziehen, im Gegensatz zu einer Oppositionspartei im Mehr-Parteien-Parlament, in deren Be-
lieben — solange sie nicht die absolute Mehrheit erzielt hat — steht, ob sie die Regierungsverantwortung mit übernehmen will oder nicht. Diese Freiheit befähigt sie natürlich auch zu einer verantwortungslosen Opposition.
Die Entwicklung der Weimarer Republik — und hierauf hat ja der Kollege Stücklen bereits hingewiesen — zeigt in so eindeutiger Weise die hier geschilderten verheerenden Gefahren des Verhältniswahlrechts, daß es mir völlig unverständlich ist, wie man auf Grund dieser Erfahrungen die Gefahren übersehen und nach wie vor das Verhältniswahlrecht als das richtige Wahlrecht anpreisen kann.
Bei der Wichtigkeit dieser Frage möchte ich dem, was Kollege Stücklen hier vorgetragen hat, doch noch einiges hinzufügen:
In der Weimarer Republik hat das Verhältniswahlrecht nur einmal, und zwar in der zuerst gewählten Nationalversammlung, klare Mehrheitsverhältnisse für die sogenannte Weimarer Koalition erbracht. In den acht Reichstagen, die folgten, hat die Weimarer Koalition nie wieder eine Mehrheit bekommen, und es ergaben sich in kurzer Reihenfolge Regierungskrisen, wobei bemerkenswert ist, daß nur für insgesamt ein Drittel der Zeitspanne vom ersten Reichstag im Jahre 1920 bis zum Jahre 1932, d. h. also für viereinhalb Jahre, Mehrheitskabinette gebildet werden konnten, die aber jedesmal durchaus heterogen zusammengesetzt waren. In den anderen acht Jahren, d. h. also für zwei Drittel der Zeitspanne, waren Minderheitskabinette an der Regierung, und zwar 11 an der Zahl.
Daß dies nicht eine besondere deutsche Erscheinung, sondern eine Folge des falschen Verhältniswahlrechts ist, zeigt ein Blick auf andere Länder mit Verhältniswahlrecht, z. B. auf die französische Republik,
auf die Ereignisse dort in den letzten Jahren, die uns allen bekannt sind. Das zeigt uns auch ein Blick auf die 70er Jahre, auf die französische Dritte Republik von 1870 bis 1940. Es gab in dieser Zeit 106 Kabinette mit einer Durchschnittsdauer von etwas weniger als 8 Monaten.
— Das war kein Mehrheitswahlrecht, das war immer ein Verhältniswahlrecht.
— Darüber werden wir nochmals sprechen, Herr Kollege Menzel; es ist nicht richtig.
— Was Mehrheitswahlrecht ist, Herr Kollege Menzel, ist leider nicht klar. Was wir jetzt hier haben, wird vielfach auch als ein Mehrheitswahlrecht oder als eine Mischung zwischen einem Mehrheitswahlrecht und einem Verhältniswahlrecht bezeichnet. Ein richtiges Mehrheitswahlrecht ist nur das, was Herr Kollege Stücklen hier eben entwickelt hat.
Man wird mir nun entgegenhalten, daß unter dem Verhältniswahlrecht, wie wir es seit 1949 leider wieder haben, schon über anderthalb Legislaturperioden stabile Regierungsverhältnisse bestanden haben und daß Verhältnisse, wie sie bei uns in der Weimarer Republik bestanden, nicht wiederkehren können, weil wir das konstruktive Mißtrauensvotum haben.
Das konstruktive Mißtrauensvotum hat sich zweifellos bewährt. Das beruht aber darauf, daß es gelungen ist, eine Koalitionsregierung auf Grund einer klaren Parlamentsmehrheit zu bilden.
Bis zur Wahl des 1. Reichstages im Jahre 1920 war die Regierung in Deutschland bekanntlich auch durchaus stabil, obwohl kein konstruktives Mißtrauensvotum bestand. Sie war stabil, weil sie getragen wurde von der starken parlamentarischen Mehrheit, welche in der Nationalversammlung durch die Weimarer Koalition gebildet wurde. Ob sich jedoch das konstruktive Mißtrauensvotum auch bewähren wird, wenn keine Mehrheitsregierung zustande kommt, bezweifle ich. Man braucht auch diesetwegen wiederum nur einen Blick auf die Entwicklung der Weimarer Republik zu werfen.
Die schon vorhin von mir bemängelten Zentrifugalkräfte bei Regierungen der Mitte in Demokratien, die auf dem Verhältniswahlrecht beruhen, führten in der Weimarer Republik dazu, daß sich in einem aus 577 Abgeordneten bestehenden Reichstag, der im September 1930 gewählt wurde, 77 Kommunisten und 107 Nationalsozialisten befanden; das waren zusammen 32 %. Die Weimarer Koalition verfügte nur über 231 Abgeordnete; das waren 40 % der Sitze. Die Bayerische Volkspartei hatte 19, die Deutsche Volkspartei 30 und die Deutschnationale Partei nur noch 41. Dagegen hatten die Splitterparteien 72 Sitze. Eine Mehrheitsregierung wäre theoretisch nur unter Zusammenfassung aller die Demokratie bejahenden, im übrigen aber völlig heterogenen Elemente denkbar gewesen. Eine solche Koalition kam naturgemäß nicht zustande. Sie hätte ja auch der Wesensart der Demokratie, in der Elemente, welche die Demokratie bejahen, in der Wechselwirkung von Regierung und Opposition stehen sollen, nicht entsprochen.
Praktisch war damit seit 1930 das Parlament zur Machtlosigkeit verurteilt. Daran hätte auch die Existenz eines konstruktiven Mißtrauensvotums nichts geändert, da ja die Machtlosigkeit auf dem Gesetzgebungsnotstand dieses Parlaments beruhte. Dieser Gesetzgebungsnotstand war eine Folge der schlechten Zusammensetzung des Reichstags, und diese wiederum war eine Folge der falschen Idee, daß das Parlament eine Repräsentativversammlung aller im Volke vertretenen politischen Meinungen sei, eine Folge des Verhältniswahlrechts.
Wie konnte es im übrigen schließlich dazu kommen, daß sowohl die Kommunisten als auch die Nationalsozialisten einen so ungeheuren Zuwachs erhielten? Die Antwort, meine Herren, ist meines Erachtens völlig klar.
In dem nach Verhältniswahlrecht gewählten Parlament entwickelte sich eine Reihe von Fraktionen und Gruppen. Man sage nicht, daß solche Entwicklungen durch Sperrklauseln zu verhindern gewesen
wären. Erstens unterliegen Sperrklauseln einer dauernden Gefahr der Abschwächung, wie z. B. der vorliegende Entwurf der SPD zeigt. Zweitens aber bestand das Übel der Weimarer Republik in der Existenz der acht größeren und mittleren Parteien. Ich bestreite, meine Damen und Herren, daß es überhaupt so viele echte politische Konzeptionen gibt, und daher haben sich diese Parteien mehr oder weniger der Vertretung bestimmter Berufsinteressen zugewandt. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen, die in Regierungskrisen, in Kuhhändeln bei der Regierungsbildung, in der Unfähigkeit, Gesetze zu machen, in Erscheinung traten, wurden von der Bevölkerung eindeutig abgelehnt, und so entstand der Ruf nach dem starken Mann, den man in Hitler dann zu haben glaubte.