Rede von
Josef
Wagner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Ich habe die Ehre, das Hohe Haus im Auftrage der sozialdemokratischen Fraktion zu bitten, dem Antrag Drucksache 973, wonach die Bundesregierung beauftragt werden soll, dem Bundestag baldmöglichst einen Gesetzentwurf über die Gewährung von Steigerungsbeträgen für die Zeiten der Arbeitslosigkeit zu den gesetzlichen Rentenversicherungen vorzulegen, die Zustimmung nicht zu versagen. Wir sind der Auffassung, daß damit zweifellos dem traurigen Schicksal unserer langfristig arbeitslosen Mitmenschen gesteuert werden wird.
Mein Vorredner hat bereits ausgeführt, daß der Sozialpolitische Ausschuß als federführender Ausschuß diesen Antrag mit Mehrheit befürwortet hat. Beim Passieren des Arbeitsausschusses hat sich dann allerdings ergeben, daß dort eine geteilte Auffassung vorhanden war. Die Zurückstellung dieser Frage bis zur Sozialreform ist für uns nicht gut vertretbar, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die kommende große Sozialreform kaum vor dem Jahre 1957 in Erscheinung treten dürfte.
Wenn wir Sie darum bitten, der Bundesregierung diesen Auftrag zu erteilen, ist es uns keineswegs um eine propagandistische oder irgendwie geartete Popularitätshascherei zu tun. Wir wissen genau, daß jede Erfüllung einer sozialrechtlichen Aufgabe auch die Bundesregierung vor mitunter
schwierige Aufgaben stellt. Aber bedenken Sie bitte, daß beim letzten Berliner Wahlkampf die CDU auch diese Forderung als besonderen Wahlschlager herausgestellt hat. Wir würden uns also in diesen Dingen in einer ganz angenehmen Gesellschaft mit der Mehrheit des Hauses befinden, selbst wenn es bloß als Wahlpropaganda in irgendeiner Form gedacht sein sollte. Aber darauf kommt es uns ja in gar keiner Weise an.
Verehrtes Hohes Haus, bei unserem Antrag, daß sich die Bundesregierung dieser Aufgabe widmen möge, haben wir die Vorstellung, daß diese Forderung auch in materieller Hinsicht ohne weiteres gerechtfertigt ist. Vielleicht gestatten Sie mir, zu der Frage, inwieweit der Antrag wirtschaftspolitisch vertretbar ist, auch einige Zahlen anzuführen. Nach dem letzten Bericht der Bank deutscher Länder hat die Zahl der unselbständig Beschäftigten innerhalb der Bundesrepublik im Laufe der letzten fünf Jahre eine Steigerung von 14,9 auf 17,7 Millionen erfahren, - also eine Zunahme der unselbständig Beschäftigten in der Bundesrepublik von 19 %. In der gleichen Zeit aber ist das Bruttosozialprodukt, also die Wertschöpfung aller Wirtschaftsbereiche, von 79,4 Milliarden DM auf 146 Milliarden DM angewachsen, — eine Steigerung von 84%. Dabei hat allein das Industrieprodukt eine Vermehrung um 100% erfahren.
Auf der gleichen Linie liegt die erfreuliche Steigerung unseres Außenhandelsvolumens. Der Export ist in der gleichen Zeit von 4,1 Milliarden auf 21,9 Milliarden gestiegen; also eine Mehrung von 434 %. Das gleiche gilt, wenn auch in abgeänderter Form, für den Import, der von 7,8 auf 19,4 Milliarden gestiegen ist, was eine Mehrung von 150 % bedeutet. Es ist einwandfrei festgestellt, daß wir in den letzten vier Jahren eine zweifellos günstige, aktive Handelsbilanz erreicht haben und daß allein der Export unserer Industriegüter einen Devisenausgleich geschaffen hat, der in aller Welt eine gewisse Anerkennung gefunden hat.
Diese günstige Wirtschaftsentwicklung hat nicht nur auf diesem Gebiet eingesetzt, sondern zeigt sich auch in einer wesentlichen Gesundung des Kapitalmarktes. Sehen Sie sich einmal an den Börsen die durchschnittlichen Kursnotierungen von 462 Aktiengesellschaften an, dann werden Sie die gleichen Verhältnisse feststellen. Das Bild rundet sich so, daß wir sagen können: Die Bundesrepublik hat die wirtschaftlichen Voraussetzungen so weit erfüllt, daß derartige Anträge, materiell gesehen, ohne weiteres verwirklicht werden können.
Auch der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sind eindrucksvolle Erfolge nicht versagt geblieben. Sie weisen sich in einem Zustand aus, der als befriedigend bezeichnet werden kann. Nach dem letzten Bericht unseres verehrten Arbeitsministers Storch hat selbst die Wirtschaftsinsel Berlin, dessen Probleme doch wesensverschieden von denen der übrigen Gebiete des Bundes sind, die Zahl der Arbeitslosen im Verhältnis zu den unselbständig Beschäftigten in den letzten vier Jahren von 28,5 % auf 16,4 % zu senken vermocht.
Allerdings kann ich unserem Arbeitsminister nicht folgen, wenn er von dieser Stelle aus erklärt, ähnliche Entwicklungen hätten sich auch in den Zonenrandgebieten bemerkbar gemacht. Wenn das der Fall wäre, könnte man damit ohne weiteres zufrieden sein. Wir sind aber auch nicht damit einverstanden, daß der Herr Vizekanzler Blücher am
7. Februar erklärt hat: Mit den gleichen Kreisen, die uns immer wieder eine angeblich noch bestehende Arbeitslosigkeit vorwerfen, will ich mich überhaupt nicht auseinandersetzen, weil es einfach Unsinn oder sinnlos wäre. — 0 nein, meine Herren von der Ministerbank, eine solche Auseinandersetzung über das Problem der Arbeitslosigkeit, vor allen Dingen über das Problem der langfristig arbeitslosen Mitmenschen könnte mitunter sehr heilsam sein! Denn es ist noch lange nicht alles Gold, was glänzt, es ist noch lange nicht so, wie es die hochtönenden Passagen nach außen künden! Gerade hinter den Zonenrandgebieten verbirgt sich noch sehr häufig unendliche Armut, großes soziales Elend und sehr viel menschliches Leid. Die täglichen Jammerbriefe, die uns aus den Zonenrandgebieten zugehen, stellen uns Volksvertretern immer wieder die Frage: Ja, warum kann es denn bei uns nicht auch so sein wie drüben, in den riesigen Industrieballungsgebieten im Westen? Warum muß denn unsere wertvolle Arbeitskraft dauernd zum Brachliegen verurteilt sein? Warum findet denn für das Zonenrandgebiet, ganz besonders drunten in meinem Heimatgebiet, im ostbayrischen Lebensraum, keine planmäßige Aktivierung für arbeitsintensive Betriebe statt?
Verehrter Herr Arbeitsminister, hier ist noch sehr, sehr vieles im argen. Ich muß Ihnen leider von dieser Stelle aus erklären, wie ich dies wiederholt schon in einer Reihe von Besprechungen bei den verschiedensten Ministerien zum Ausdruck gebracht habe: seit Bestehen der Bundesrepublik haben wir in unserer Heimat noch keine heilsame Entlastung, noch kein Anzeichen der Entspannung in arbeitsmarktpolitischer Beziehung feststellen können. Einige Zahlen sollen das untermauern.
Das Arbeitsamt in Deggendorf, woher ich komme, hatte im Jahre 1949 bei 46 605 unselbständig Beschäftigten im Jahresdurchschnitt 25,2 % Arbeitslose. Die Beschäftigtenkurve ist aber nicht nach oben gegangen, sie hat sich bis zum Jahre 1954 sogar nach unten bewegt. Im Jahre 1954 hatten wir 26,8 % Arbeitslose, und am 31. Dezember 1954 waren 34,6 % der unselbständig schaffenden Menschen zur Untätigkeit verurteilt. Das Arbeitsamt Cham, ein unmittelbares Grenzgebiet, hat 34,8% Arbeitslosigkeit.
Damit ist festgestellt, daß jeder dritte Mensch arbeitslos ist. Damit ist festgestellt, daß die Arbeitslosigkeit im ostbayrischen Lebensbereich noch unter dem Niveau von Westberlin steht. Bei der letzten Beratung haben wir erfahren, daß in Westberlin 8,5 % der Gesamtbevölkerung arbeitslos sind. Bei uns drunten im niederbayrischen Raum haben wir 12 bis 14 % der gesamten Einwohnerschaft als untätige Menschen zu bedauern. Hinzukommt, daß unser Gebiet immerhin noch zu 30 % mit Flüchtlingen durchsetzt ist.
In der gestrigen Zeitung stand in schweren Lettern: Abwanderung aus dem Bayrischen Wald! — Ja, gewiß, man hat die Zahlen von Arbeitsamtsstatistiken etwas künstlich aufgefrischt und hat erklärt, auch in diesen Arbeitsamtsbezirken sei im September vorigen Jahres die Arbeitslosigkeit zurückgegangen. Aber warum konnten diese Zahlen erreicht werden? Weil man Tausende von Menschen als Saisonarbeiter nach Baden-Württemberg und nach dem Westen exportiert hat! Eine Methode, die glaubt, sich nur durch die Exportierung von Arbeitsreserven in andere Gebiete auf vorübergehende Zeit durchsetzen zu können, ist die
schlechteste Wirtschaftspolitik, die man sich vorstellen kann. Es gibt keine Lösung auf dieser Ebene.
Wir müssen nach wie vor begehren, daß sich mit dieser Frage einmal die verschiedenen Ministerien und ganz besonders der interministerielle Ausschuß beschäftigen. Ich weiß nicht, ob sich unsere Herren Minister in dieser Sache schon einmal ernsthafte Gedanken gemacht haben. Ich weiß nicht, ob sie sich auch die Frage vorlegen, was es heißt, jahrelang der seelischen Marter der Arbeitslosigkeit ausgesetzt zu sein. Ich weiß nicht, ob sie daran denken. Wer die schlaflosen Nächte jener Menschen zählt, die vielleicht 20, 30 oder 40 Jahre als Angestellte brav und ehrlich ihren Dienst erfüllt haben und dann infolge der Krisenerscheinungen, der strukturellen Not — die ja letzten Endes nicht nur den Arbeiter, sondern auch den Mittelstand in diesen Strudel der Drangperiode hereinzieht —, nun vor dem Nichtstun stehen, der erkennt die große Gefahr auf diesem Spannungsfeld, ganz besonders hinsichtlich der allgemeinen Berufsnot der Jugend. Ein altes Sprichwort sagt: „Müßiggang ist aller Laster Anfang." Bitte, bedenken Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, was es heißt, diesem Fluch der Untätigkeit jahrelang ausgesetzt zu sein! Dem sinnvollen alttestamentarischen Wort: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen!" schließt sich der Nationalökonom mit der Losung an: Arbeit ist die Quelle aller Kultur, und nur durch Arbeit kann letzten Endes der Wohlstand des Volkes und der Reichtum einer Nation auch gemehrt werden. Wenn es also nur durch Arbeit, als den treibenden Faktor auf diesem Gebiet, einen Ausweg gibt, muß die Regierung endlich einmal ernsthafte Bemühungen ansetzen, auch da mehr nach dem Rechten sehen. Vergessen wir das eine nicht: durch diese dauernde zermürbende seelische Pein der langjährigen Arbeitslosigkeit müssen ganz zwangsläufig geistige Kurzschlußerscheinungen eintreten. Und wie wirken sich diese Kurzschlußerscheinungen aus? Doch so, daß, wenn die tätige Hand, die an harte Arbeitsmoral gewohnte Hand zur Untätigkeit verurteilt wird, die Gefahr besteht, daß diese Hand sich zur Faust ballt, zum Symbol der asiatischen Welt. Hier droht uns eine Brutstätte staatspolitischer Gefahren, die unter keinen Umständen verkannt werden darf.
Wir haben schon wiederholt die Forderung auf Schaffung von Dauerarbeitsplätzen erhoben. Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Mehrheit, von der rechten Seite dieses Hauses, haben unsere Anträge auf Arbeitsplatzbeschaffung schon in wiederholten Fällen abgelehnt. Sie haben diese Anträge mit der nichtssagenden Floskel „Propaganda" abgetan. Da erhebe ich die Anklage aus einem Notstandsgebiet! Oh nein, es kommt unserer Fraktion nicht auf Propaganda an, sondern hier handelt es sich um echtes Menschengefühl gegenüber notleidenden Mitmenschen.
Von dieser Seite aus haben wir die Bundesregierung schon wiederholt aufgefordert, bei der Gewährung von Lastenausgleichsdarlehen eine gewisse Lenkung in die Notstandsgebiete vorzunehmen. Das Bundesausgleichsamt wäre doch in der Lage, unter Fühlungnahme mit den Arbeitsämtern den Standort für die zu errichtenden Betriebe, denen man Kredite und Darlehen einräumt, arbeitsmarktpolitisch so zu wählen, daß das Kapital dorthin kommt, wo es am nötigsten ist.
Durch Lastenausgleichsmittel konnten zwar in unserem Landesarbeitsamtsgebiet im Laufe der letzten Jahre 5000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Aber sage und schreibe 2,6 % von diesen 5000 Arbeitsplätzen hat das Notstandsgebiet bekommen, die meisten sind in den anderen Gebieten hängengeblieben. Hier fehlt die planende, lenkende Hand.
Nun hatten wir noch eine Hoffnung, und zwar auf den Bundesminister Waldemar Kraft. Er war auch in Deggendorf. Er hat versprochen, zur Behebung der Arbeitslosigkeit eine Denkschrift auszuarbeiten und vor allen Dingen dieses Notstandsmerkmal des Grenzlandes -mehr als bisher zum Gegenstand der Beratung im Kabinett zu machen. Aber das Memorandum ist in der Versenkung verschwunden. Kein Abgeordneter hat jemals davon erfahren, was uns dieser Sonderminister in seiner Mission hier eigentlich vorgetragen hat. Jedenfalls kann man vermuten, daß der Gegensatz zwischen dem Notstandsgebiet und dem saturierten Westen so stark alarmierend hervorgetreten ist, daß man von der Regierungsseite aus vermutlich alle Veranlassung hatte, die ffentlichkeit nicht auf dieses Gebiet aufmerksam zu machen.
Wenn jemand ein Anrecht darauf hat, für die Arbeitslosen hier die Fragen aufzuwerfen, dann ist es ein Vertreter des ostbayerischen Raumes. Man kann es begreifen, daß dies manchem auf die Nerven geht. Aber ich frage mich: Wir haben vier Sonderminister im Bundeskabinett, und zwar sind es mit die gewichtigsten Männer, warum haben sie für die Behebung der Arbeitslosigkeit in diesem Raum bisher überhaupt noch nichts unternommen? Diese Wirtschaftspolitik ist nach unserem Dafürhalten eben nicht gesund.
Deshalb sagen wir: wenn man schon keine intensiven Möglichkeiten der Arbeitsbeschaffung einzuleiten vermag, dann muß es unser aller Aufgabe sein, wenigstens die gröbsten sozialen Härten zu mildern. Das ist in der Vorlage, die wir dem Bundestag zur Annahme empfehlen, in der Form geschehen, daß wenigstens den langfristig Arbeitslosen die Möglichkeit gegeben werden sollte, sich die Steigerungsbeträge für die kommenden Renten zu sichern. In diesem Sinne glaube ich Sie bitten zu dürfen, für den Antrag der sozialdemokratischen Fraktion zu stimmen.