Rede von
Dr.
Carlo
Schmid
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr von Merkatz, ich glaube, der Unterschied ist entscheidend. Wenn in den Verträgen eine Kündigungsklausel stünde, könnte die Bundesrepublik durch eine einseitige Willenserklärung ihrerseits den Vertrag beenden und damit auch die Bindungen, die sie in diesem Vertrag eingegangen hat, auflösen. Diese Revisionsklausel gibt der Bundesrepublik lediglich das Recht, von ihren Vertragspartnern zu verlangen, sich mit ihr an einen Tisch zu setzen und mit ihr zu verhandeln, ob man im Wege gegenseitigen Einverständnisses diesen Vertrag aufheben könnte.
Das ist doch ein ganz entscheidender Unterschied, und Sie wissen das doch ganz genau, Herr von Merkatz.
Verpflichtungen, die ein Provisorium eingeht, können nur für die Dauer der eigenen Existenz dieses Provisoriums Bestand haben; sie sind so provisorisch wie das Provisorium selbst. Darum würden für Gesamtdeutschland übernommene Verpflichtungen das wiedervereinigte Deutschland nicht binden.
Art. 7 Abs. 2 schafft eine Bindung zwar nicht für Gesamtdeutschland, aber die Bindung für die Bundesrepublik, eine spezifische Wiedervereinigungspolitik zu betreiben, d. h. eine Wiedervereinigungspolitik, die vorsieht, daß ein wiedervereinigtes Deutschland in eine europäische Gemeinschaft integriert werden soll. Das hat nun zum mindesten leider die Wirkung — auch wenn wir davon absehen, was in turbulenten Zeiten die Kraft und die Grenzen solcher Bindungen sein mögen —, daß einer unserer Vertragspartner sich auf Art. 7 Abs. 2 berufen könnte, um zu verlangen, daß eine Bundesregierung auf eine Politik verzichte, die vielleicht die Schaffung von Voraussetzungen zum Gegenstand haben könnte, aus denen sich die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands unter Verzicht auf die in Art. 7 Abs. 2 vorgesehene Integration Gesamtdeutschlands in die europäische Gemeinschaft ergeben könnte.
Da stellt sich nun eine einfache Frage, die, wenn ich mich nicht täusche, in dieser Debatte schon einmal an den Herrn Bundeskanzler gestellt worden ist, eine Frage, die mit der Berliner Konferenz und mit dem Gespräch des Herrn Bidault mit Herrn Molotow in Zusammenhang steht — die Frage, Herr Bundeskanzler: Wenn Sie vor der Entscheidung stünden: Wiederherstellung der Einheit Deutschlands unter Verzicht auf Militärbündnisse, aber mit Eingliederung Deutschlands in ein System kollektiver Sicherheit — wären Sie dann bereit, auf diese
Verträge zu verzichten? Werden Sie. diese Frage beantworten?
— Nein, das ist keine Konstruktion. Vor dieser Frage können wir jeden Tag stehen!
Vor der Frage: „Ihr könnt gesamtdeutsche Wahlen haben, müßt aber auf die Mitgliedschaft in NATO und der Westeuropäischen Union verzichten; dagegen sind wir damit einverstanden, daß ihr in ein System kollektiver Sicherheit aufgenommen werdet"; da muß man doch heute schon wissen, was man darauf antworten will!
Meine Damen und Herren, es wäre zu den Verträgen unter den Kapitelüberschriften, unter denen ich sie behandle, noch sehr viel auszuführen. Es könnte auch einiges gesagt werden über das, was im Gegensatz zu unseren Vorstellungen von europäischer Politik auf der anderen Seite die Impulse und Motive für das sind, was man dort europäische Politik nennt. Aber das würde zu weit führen.
Eines scheint mir sicher zu sein: diese Verträge verraten kein sehr europäisches Denken unserer Partner.
Die Bestimmungen der Verträge, über die ich gesprochen habe, manifestieren wenig vom Geiste des Vertrauens und echter Partnerschaft.
Die Gegenleistung für das, was Deutschland in diesen Verträgen bietet, hätte doch sein müssen, Deutschland vorbehaltlos und im gleichen Stande wie die anderen in die Partnerschaft aufzunehmen!
Gewiß, der Form nach ist das Besatzungsregime aufgehoben, dem Buchstaben nach sind wir gleichberechtigt — so, wie Männer, die in einem Boote sitzen, gleichberechtigt sind, aber der eine ist Kapitän und bestimmt den Kurs, und der andere rudert!
Gleichermaßen sind wir „souverän"; aber was an Besatzungsrechten und Besatzungszwecken heute, nach zehn Jahren, noch nicht konsumiert ist und für die Westmächte noch interessant ist, das haben wir nunmehr, zum großen Teil wenigstens, in vertraglich übernommene Verpflichtungen verwandelt.
Vielleicht wird es der Bundesrepublik dabei materiell nicht schlecht gehen; ich will das offenlassen. Vielleicht! Aber in solchen Zwitterzuständen lauern Gefahren. Wir werden den Alliierten vorwerfen, sie täten Dinge, die sie nicht dürften, da wir doch souverän seien; und sie werden uns vorwerfen, wir wollten handeln, als gäbe es die Verträge nicht. So wird es dauernd Streit geben, und niemand weiß, wohin das führen wird; Hoffnungen werden enttäuscht werden, Ressentiments werden geweckt werden; und alles das scheint mir schlechte Perspektiven für die Zukunft zu eröffnen.
Und, Herr Bundeskanzler, es ist nicht so, wie Sie es haben im „Hamburger Anzeiger" vom 24. Februar drucken lassen: daß die Sozialdemokratie — ich bitte zitieren zu dürfen —
unserm Volk zumutet, das Joch der Besetzung und das Joch der Sieger noch auf unbestimmte Zeit weiter zu tragen.
Was Sie auf Grund der Verträge effektiv werden tun können, können Sie auch heute schon tun.
Das Feld Ihrer Möglichkeiten ist durch diese Verträge nicht wesentlich erweitert worden. Das Joch der Sieger aber tragen wir im Saarstatut!
Das Joch der 'Sieger und der Besetzung aber tragen wir im Weiterbestehen der Spaltung Deutschlands, deren Aufhebung die Verträge so sehr erschweren und verzögern!
Das „Joch der Besetzung" ist durch die Verträge nicht viel anders geworden, als es war. Was davon in den Verträgen weggetan wurde, ist genau das — ich habe es schon gesagt —, was Zeitablauf konsumiert oder gegenstandslos gemacht haben. Die neuen Namen haben nicht viel neue Wirklichkeit geschaffen, und es ist die Frage, ob die vertraglich übernommenen Lasten und Auflagen nicht eines Tages auf unsere politischen Möglichkeiten schwerer drücken könnten als die einseitig auferlegten, und ob wir nicht, als wir dafür und damit die Integrationsverträge geschlossen haben, das Erstgeburtsrecht der Einheit unseres Volkes für ein Linsengericht gefahndet haben.