Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte zunächst um Entschuldigung, da ich den Ablauf dieser Debatte dadurch gestört habe, daß ich bei Aufruf meines Namens nicht im Saale war. Aber ich vermochte mich in der letzten Viertelstunde nicht zu dem Optimismus durchzuringen, daß der Abschnitt, den wir soeben debattierten, so früh zu Ende diskutiert sein würde. Deshalb habe ich mir die Freiheit, vielleicht die Dreistigkeit genommen, für eine Weile aus dem Saal zu gehen.
In dem Bericht des Auswärtigen Ausschusses und in den Erklärungen der Bundesregierung wird mit besonderem Nachdruck darauf hingewiesen, durch die Verträge erhalte die Bundesrepublik neben
1 Sicherheit, neben größeren Chancen, eine Politik der Wiedervereinigung Deutschlands betreiben zu können, Gleichberechtigung und Souveränität; außerdem brächten diese Verträge das Ende des Besatzungsregimes. In der Debatte ist außerordentlich viel davon gesprochen worden, was alles die Souveränität, die uns die Verträge geben, uns ermögliche, was uns die Gleichberechtigung bringe und wie anders wir nunmehr würden leben können, nachdem das Besatzungsregime, wie die Verträge es vorsehen, zu Ende gehe.
Es erscheint mir in Anbetracht der Bedeutung der Konsequenzen, die die Bundesregierung aus diesen Verträgen zieht, wichtig und notwendig, auf diese drei Dinge: Gleichberechtigung, Souveränität, Ende des Besatzungsregimes besonders einzugehen. Gerade in den Bereichen der abstrakten Begriffe, in die sich so viel hineingeheimnissen läßt, auch Wünsche, muß Klarheit geschaffen werden; einmal um zu verhindern, daß falsche Hoffnungen erweckt werden, die Enttäuschungen nach sich ziehen könnten — wir wissen aus den bösen Erfahrungen nach dem ersten Weltkrieg, zu was alles enttäuschte Hoffnungen eines Volkes führen können! Deswegen, meine ich, ist es wichtig, genau zu wissen, was denn diese Begriffe an Wirklichkeit beinhalten.
Und dann scheint es mir notwendig zu sein, sich zu bemühen, so klar als möglich zu erkennen, was ist und was nicht ist, um zu verhindern, daß Irrtümer über den Status sowohl der Bundesrepublik als auch Gesamtdeutschlands uns falsche Wege führen — und sei es nur deswegen, weil gewisse Worte in den Verträgen den einen oder anderen vielleicht dazu führen könnten, anzunehmen, die Bundesrepublik und Gesamtdeutschland seien identisch.
Sowohl in den Londoner Deklarationen als auch in den Verträgen heißt es, daß die Bundesrepublik mit ihren Vertragspartnern gleichberechtigt sein werde. Wenn dieses Wort wirklich einen Sinn haben soll, dann muß es doch wohl bedeuten, daß die Bundesrepublik und ihre Vertragspartner in vergleichbaren Situationen in gleicher Weise handeln dürfen und müssen, weiter, daß keiner dem andern gegenüber mehr darf als dieser ihm gegenüber und daß, was einem gegenüber getan werden darf, dieser eine auch jenem gegenüber tun darf. Nun, was wir können und was wir dürfen, was unsere Partner dürfen und was wir ihnen gegenüber nicht dürfen, das steht in den Zusatzverträgen, das steht in den Anhängen, das steht in den Protokollen, das steht in einer Reihe von Briefen, die dem Vertragswerk beigegeben worden sind. Viele hundert Seiten sind so den Hauptverträgen angehängt worden, und nur ganz wenige der Realitäten des Vertragswerkes stehen in den Hauptverträgen.
Wenn man diese Menge Zusatzverträge, Protokolle, Briefe, Anhänge liest, findet man, daß wir zur Ordnung des gegenseitigen Verhältnisses der Vertragspartner Verpflichtungen auf uns genommen haben, die diese unsere Vertragspartner nicht oder nicht in gleichem Ausmaße tragen sollen.
Diese werden bei uns eine Reihe von Dingen tun können, die wir im Verhältnis zu ihnen nicht tun können und die sie sogar in ihrem Verhältnis untereinander sich gegenseitig nicht konzediert haben.
Ich meine damit gewisse Bestimmungen: über die Stationierung von Truppen, Eingriffsrechte, finanzielle Lasten und vieles andere noch. Für unsere Partner ist ihr Recht etwas, das in ihrem bloßen Dasein inbegriffen ist, und das ergibt bei der Ausführung der Verträge eine Vermutung für Freiheit ihres Handelns. Für uns aber sind die Rechte gegenüber unseren Partnern etwas, das uns stückweise konzediert oder nachgelassen ist: wir werden im einzelnen nachweisen müssen, ob wir dürfen, was wir wollen!
Vielleicht - ich möchte dies betonen — kann das in der heutigen Lage Deutschlands, der Bundesrepublik nicht anders sein. Aber Gleichberechtigung ist es nicht.
Ich werfe der Bundesregierung nicht vor, daß sie auf diesem Gebiet nicht mehr erreicht hat; ich werfe ihr vor, daß sie dem Volk gegenüber sagt, was sie erreicht hat, sei Gleichberechtigung.
Denn das wird Hoffnungen erwecken, die notwendig zu bösen Enttäuschungen führen müssen; und diese Enttäuschungen werden in unserem Volk Verdrossenheiten schaffen, deren sich vielleicht wieder einmal böse Rattenfänger bedienen könnten, wie sie schon einmal auf der Grundwelle enttäuschter Hoffnungen nach oben geschwemmt worden sind.
Nach diesen Verträgen sind die anderen frei. Wir aber sind nach diesen Verträgen bestenfalls Freigelassene. Das ist ein Unterschied, und zwar nicht nur ein Unterschied in der Bezeichnung, sondern ein Unterschied in der Substanz des Rechts. Politik fängt damit an, daß man die Dinge bei ihrem Namen nennt.
Mich stören die Bestimmungen über militärische Kontrollen, Waffenerzeugungsverbote usw. nicht. Vielleicht mögen diese Dinge da und dort zu bestimmten Nachteilen führen, ich kann es nicht übersehen; aber im Entscheidenden stören mich diese Dinge nicht. Das Mißtrauen unserer Nachbarn ist verständlich, wenngleich ich mit aller Deutlichkeit sagen möchte, daß diese Maßnahmen, die sie zu ihrer Sicherung glaubten vorsehen zu müssen, auf einer völligen Verkennung der Realitäten beruhen. Die deutschen Möglichkeiten des Jahres 1955 und der folgenden Jahre sind völlig andere als die des Jahres 1924 und der Jahre, die folgten.
Damals gab es eine politische Konstellation, die die Möglichkeit gab, eine Schaukelpolitik zu betreiben. Heute gibt es diese Möglichkeit doch nicht mehr.
Ich möchte in aller Deutlichkeit sagen: Manche glauben, von den Deutschen ein neues Tauroggen befürchten zu müssen. Leider gibt es noch einige Stabstrompeter von Preußens Gloria, die manchem einen solchen Verdacht nahelegen könnten,
aber in der Wirklichkeit dieser Zeit ist dieser Fall aus folgendem Grunde unmöglich: wenn vor 30, 40 Jahren ein Staat seine Bündnisse wechselte, so bedeutete das für den einzelnen Staatsbürger keinen großen Unterschied. Sein Leben ging weiter,
wie es vordem war. Wenn sich heute eine Nation einfallen ließe, sich, sagen wir, mit Sowjetrußland zu verbünden, so würde das für jeden einzelnen Menschen dieser Nation bedeuten, daß sich seine Lebensbedingungen fundamental zum Schlechten, ja zum Abscheulichen verändern müßten,
und darum ist diese Möglichkeit ausgeschlossen!
Aber wenn ich auch, wie gesagt, diese Bestimmungen über militärische Kontrollen usw. usw. für verständlich halte und wenn sie mich nicht weiter stören, — Gleichberechtigung verraten sie nicht. Vor allen Dingen ist eines zu sagen: Die Truppen der Vertragspartner haben auf deutschem Boden und den deutschen Menschen gegenüber Rechte, die sie sich gegenseitig nicht konzediert haben und nicht konzedieren wollen. Die amerikanischen Truppen z. B. werden auch auf Grund dieser Verträge auf deutschem Boden mehr tun dürfen als etwa auf französischem Boden oder in Großbritannien, und wir müssen für sie mehr leisten als etwa die Franzosen oder die Briten das auf Grund der Vereinbarungen zwischen ihnen und den Amerikanern müssen.
Und — es soll nicht unerwähnt bleiben, wenngleich es sich nach den Bestimmungen des Vertrags nur um ein Zwischenstadium handeln soll — wo bezahlt denn ein Staat, der fremden Truppen Stationierungsrechte einräumt, noch ihre Unterhaltungskosten? Ich glaube, es ist ein einmaliger Fall, daß ein Staat, der sein Gebiet fremden Truppen zur Verfügung stellt — und das ist doch der Sinn dieser Verträge, wenn ich recht verstanden haben sollte —, noch, wenigstens in den ersten Jahren, für diese Truppen Unterhaltungskosten bezahlt. Man hat hierfür ein Argument, das sogenannte Quantitätsargument. Man sagt, die Verhältnisse hier und die Verhältnisse in Frankreich und Großbritannien könnten nicht verglichen werden; denn in Frankreich und Großbritannien seien nur verhältnismäßig kleine Einheiten fremder Truppen stationiert, während auf deutschem Boden ganze Armeen garnisonierten. Gewiß ist das richtig, nur würde ich daraus genau den umgekehrten Schluß ziehen. Gerade weil wir in Deutschland mit mehr fremden Truppen belastet sind als die andern, müßten unsere vertraglichen Lasten geringer sein als die der Staaten, die durch weniger Truppen belastet werden als wir. Gerade deswegen muß der Schutz des Landes gegen Belastungen durch die Truppe größer sein als in Ländern, in denen nur wenige Truppen garnisonieren, wo also das Gewicht dieser Truppe auf dem Leben der Nation soviel weniger lastet.
Demgegenüber bedeutet es doch im Praktischen nicht viel, daß nunmehr in den Texten der Verträge die Nennung der vertragschließenden Teile in der alphabetischen Reihenfolge erfolgt, worauf in dem Ausschußbericht besonders hingewiesen worden ist. Nun, das ist nett und freundlich von den anderen Mächten, aber es kostet nicht viel und bedeutet doch praktisch gar nichts. Was in diesen Verträgen etwas bedeutet, das ist nicht so sehr das Vokabular als das „Du sollst" in bezifferter Form. Demgegenüber sind abstrakte Verpflichtungen und Berechtigungen nicht sonderlich bedeutsam und nicht sonderlich real.
In diesen Verträgen steht weiter, daß nunmehr das Besatzungsregime aufhören soll. Aber mit der Auflösung der Hohen Kommission ist es nach meinem Dafürhalten nicht getan. Das für sich allein wäre noch kein schlüssiger Beweis dafür, daß die Befugnisse der Besatzungsmächte, der Mächte, deren Truppen bei uns sind und bleiben sollen, nun aufhören, Besatzungsrechte zu sein. Besatzungsregimes können unsichtbar in einer Art von Ruhezustand weiter bestehen, und können, wenn auch unter anderem Namen, vielleicht wieder aufstehen. Entscheidend sind auch hier nicht die Vokabeln, deren man sich bedient hat, sondern die konkreten und speziellen Berechtigungen und Verpflichtungen, die in den Verträgen verzeichnet stehen. Man braucht nur auf den Art. 2 des Protokolls über die Beendigung des Besatzungsregimés zu verweisen. Die Rechte der Besatzungsmächte auf dem Gebiet der Abrüstung und der Demilitarisierung sollen weiterbestehen. Freilich wird der Apparat geändert, freilich werden die Zuständigkeiten geändert. Aber im Grunde bleibt es doch zumindest bei einem Rest des Besatzungsregimes und der Verwirklichung von Besatzungszwecken unter der Kontrolle unserer Vertragspartner.
Oder man betrachte die Bestimmungen des Art. 2 des Deutschlandvertrags, worin sich die Besatzungsmächte ihre Rechte in bezug auf Deutschland als Ganzes und Berlin vorbehalten. Ich möchte hier auch betonen, was mein Freund Herbert Wehner betont hat. Ich halte diese Bestimmung für notwendig. Nur wäre es mir sehr viel lieber gewesen, wenn man diesem Komplex in den Verträgen mehr, als es geschehen ist, den Charakter von Verpflichtungen gegeben hätte, während es jetzt so aussieht, als habe man ein Monopol der Westmächte auf eine Politik begründen wollen, deren Ziel die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands sein soll, ja, ein Monopol über alles, was Deutschland als Ganzes in der einen oder in der anderen Weise betrifft. Es ist zu fürchten, daß man vielleicht aus dieser Art der Fassung der Bestimmungen auf der anderen Seite das Recht ableiten wird, einer eigenen deutschen Wiedervereinigungspolitik Bremsen anzulegen.
Mag das so sein, mag es anders sein: die Bestimmung hat doch nur dann einen Sinn, wenn man das Weiterbestehen des Besatzungsrechtes wenigstens der Substanz nach annimmt. Da möchte ich nun vom Praktischen her fragen: Ist man sich ganz sicher, wo die Grenzen der Ausübung dieses Rechtes liegen? Sind wir uns genügend deutlich bewußt, was alles nicht vielleicht unter Berufung auf diesen Art. 2 neu erweckt werden könnte? Freilich, es gibt da den bekannten Brief der Hohen Kommission vom 26. Mai 1952, in dem es heißt, daß dieser Vorbehalt nur dazu diene, die Rechtsposition gegenüber der Sowjetunion zu wahren. Dieses Vorbehaltsrecht könnte das Besatzungsregime nicht wiederherstellen; es könnte der deutschen Souveränität nicht widersprechen. Aber ich frage mich, wie man diesen Brief vielleicht in schwierigen Zeiten wird auslegen wollen. Man hat sich doch in dieser Zeit eine recht wirksame Technik zurechtgelegt, neue Worte zu erfinden, durch die man ein Ding als etwas ganz anderes erscheinen lassen kann, als es in Wirklichkeit ist.
Ich möchte nur ein Beispiel nennen. Früher hätte man zu den Operationen um das Saargebiet — ich meine zu den Absichten Frankreichs — gesagt: „Die wollen das Saargebiet von Deutschland abtrennen". Heute sagt man dafür: „Die wollen das Saargebiet europäisieren."
Und dann dürfen wir bei der Betrachtung dieses Art. 2 nicht vergessen, daß fremde Truppen in unserem Lande doch auch ihr eigenes politisches Schwergewicht haben. Wie leicht könnte einer Macht in Anknüpfung an den Art. 2 die alte Pfändertheorie einfallen, mit der man schon so oft Verträge in der Anwendung recht wirksam „interpretiert" hat. Es läßt sich doch schon aus dem Sprachgebrauch heraus nicht bestreiten — es heißt: die Westmächte b eh alt en ihre Rechte —, daß sie zumindest dieses Recht nach Art. 2 als ein originäres Recht ansehen und nicht als ein ihnen von uns vertraglich übertragenes. Und da gibt es eine praktische Frage, auf die eine Antwort gegeben werden sollte: Gelten auch für unter Berufung auf Art. 2 in Anspruch genommene Befugnisse unserer Vertragspartner die Beschränkungen, die für die klar auf Vertrag beruhende Stationierung der fremden Truppen gelten sollen?
Es ist sicher ein Fortschritt, daß die ursprünglich vorgesehenen Notstandsbestimmungen gefallen sind, aber zunächst besteht ja das Notstandsrecht der Vertragspartner weiter. Es soll erst fallen, wenn die Bundesrepublik wirksame gesetzliche Bestimmungen für den Schutz der Besatzungstruppen erlassen hat. Nun frage ich: wer entscheidet, ob ein Notstandsgesetz der Bundesrepublik den Besatzungsmächten als genügend wirksam gelten muß? Ist es die Bundesrepublik, die die Entscheidung trifft? Sind es die Besatzungsmächte? Und was geschieht, wenn diese der Meinung sein sollten, ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz garantiere den Schutz ihrer Truppen nicht in ausreichender Weise?
In einem Brief, den der Herr Bundeskanzler an die Vertragspartner gerichtet hat, wird diesen mitgeteilt, daß die Bundesregierung der Auffassung sei, daß das gemeine Völkerrecht den Truppen unserer Vertragspartner das Recht gebe, Notwehr zu üben, unter Umständen unter Waffengebrauch. Ich frage mich, ob hier das geltende gemeine Völkerrecht wirklich richtig gesehen worden ist. Wenn ich nicht falsch berichtet bin, ist es doch so, daß Truppen, die in einem fremden Land garnisonieren, das Recht ihrer Heimat mitbringen. Das bedeutet natürlich, daß jeder einzelne Soldat und jede Gruppe von Soldaten, die angegriffen werden sollten, sich wehren dürfen. Aber eine organisierte kollektive „Notwehr" kann überall in der Welt nur nach Verhängung des Notstands oder des Belagerungszustands geübt werden. Mit anderen Worten: die Verteidigung einer Kaserne, die angegriffen werden sollte, kann natürlich von der Truppe ohne weiteres durchgeführt werden; aber z. B. das Ausrücken von Truppen, um die Straßen frei zu machen oder um Elektrizitätswerke zu besetzen, wäre doch nur möglich, wenn vorher das Notstandsrecht proklamiert worden ist. Die Frage ist, ob man mit der Anerkennung eines besonderen Notwehrrechts der fremden Truppen diesen damit nicht gleichzeitig — denn nur dann hat dies für sie einen praktischen Sinn — das Recht einräumt, auch, in gewissen Fällen wenigstens, den Notstand oder den Belagerungszustand zu erklären. Ich fürchte, daß über diesen Brief des Herrn Bundeskanzlers — sicher völlig unbeabsichtigt - das Notstandsrecht der Militärbefehlshaber, das der alte Vertrag vorgesehen hat, über eine Hintertreppe wieder eingeführt werden könnte.
Es könnte in diesem Zusammenhang noch auf sehr vieles andere verwiesen werden; es gibt da sehr viel, was es verständlich macht, daß der Berichterstatter des Auswärtigen Ausschusses der französischen Nationalversammlung geglaubt hat, feststellen zu können, die Westmächte hätten ihr Besatzungsrecht der Substanz nach beibehalten und sich in den Verträgen lediglich verpflichtet, es ruhen zu lassen. Besteht nicht die Gefahr, und zwar eine Gefahr jenseits aller juristischen Definitionen und Argumentationen, daß, wer so denkt, einmal auf den Gedanken kommen könnte, dieses ruhende Recht wieder praktisch aufleben zu lassen?!
Nun die Souveränität! Art. 1 des Vertrags bestimmt, daß die Bundesrepublik — ich zitiere —„die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten haben" soll. Das ist ein großes Wort, ohne jede Frage. Aber mir scheint es auch hier notwendig und nützlich zu sein, zu prüfen, was hinter diesen Worten denn für eine Wirklichkeit steckt. Was heißt denn „Souveränität"? Der Begriff bedeutet, daß ein Staat, ohne einen Dritten fragen zu müssen, die Politik treiben darf, die er glaubt treiben zu müssen. Er bedeutet das Recht eines Staates, Verpflichtungen eingehen zu können, Rechte erwerben zu können, und er bedeutet weiter — und das ist der eigentliche substantielle Gehalt des Begriffs — das Recht einer Nation, ohne Genehmigung, ohne Zustimmung eines Dritten die Formen und die Inhalte ihrer politischen Existenz zu bestimmen und demgemäß nach innen und außen zu handeln. Freilich — um gleich hier Einwänden zu begegnen — wird diese rechtliche Freiheit des Handelns politisch immer an das Ausmaß der Macht, über die ein Staat verfügt, gebunden sein, und eventuell an das Ausmaß der Macht von Staaten, die ihm entgegengesetzte Interessen gegenüberstellen. Aber entscheidend ist doch, daß sich in dieser Begegnung gegenläufiger Interessen das Mögliche in freier Auseinandersetzung und nicht auf Grund des rechtlich zu beachtenden Willens eines Dritten ergibt.
Ohne Frage ist es ein Fortschritt im formalen Sinn, was sich aus Art. 1 als Konsequenz ergeben muß, daß die Westmächte kein Recht mehr in Anspruch nehmen, einseitig über Bestand und Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik zu verfügen, soweit in den Verträgen nicht solche Möglichkeiten in Einzelfällen besonders eingeräumt sein sollten. Ich möchte hier ausdrücklich feststellen, daß damit im Formalen zumindest die Fremdherrschaft über die Bundesrepublik aufgehört hat. Aber etwas, was ich gleich anfügen möchte: nehmen wir an, diese Bestimmung der Verträge existierte nicht; glaubt denn einer, die Besatzungsmächte wären heute imstande, solche Verfügungen zu treffen gegen den Willen eines deutschen Volkes, das doch heute etwas ganz anderes ist und einen ganz anderen Rang im politischen Bezugssystem der Welt einnimmt als 1946?!
-- Ich kann mir die Zwischenfrage vorstellen, die Sie vorhaben, nicht in erster Linie und nur wegen der Dinge, die in den letzten paar Jahren passiert sind, sondern aus einer ganzen Reihe von Gründen, aus dem Verdienst einer ganzen Reihe von Männern, einer ganzen Reihe politischer und nichtpolitischer Gruppen; dazu gehört ohne jede Frage auch die Bundesregierung. Aber es ist nicht allein ihr Verdienst,
und es ist, glaube ich — und hier werden Sie mir
keinen Beifall mehr spenden —, nicht in erster
Linie das Verdienst der Politik, die sie in letzter Zeit getrieben hat.
Nach den Verträgen soll Deutschland, die Bundesrepublik, in ihren Angelegenheiten, auch in ihren äußeren Angelegenheiten, souverän sein. Soll das bedeuten, daß sie damit die Außenpolitik treiben kann, die sie treiben will? Kann sie das? Kann sie das in Anbetracht der Umstände, in denen wir leben?
Das Gebiet der Bundesrepublik ist heute Garnison für die Armeen dreier großer Staaten, die gestern noch in Anspruch nahmen, in Deutschland die oberste Gewalt auszuüben, und die es auf einem bestimmten Feld — Art. 2 — heute noch beanspruchen. Und da frage ich: Kann unter solchen Umständen die Bundesrepublik — Verträge hin, Verträge her — das letzte Wort haben, mit anderen Worten: kann sie da souverän sein? Auch hier möchte ich in aller Sachlichkeit fragen. Meine Damen und Herren, ich will hier keinen Prozeß führen, ich will feststellen: Was ist die Wirklichkeit dieser Verträge und was ist die Wirklichkeit, die hinter diesen Verträgen steht?
Kann unter solchen Umständen die Bundesrepublik das letzte Wort haben? Nur wenn sie es hätte, könnte man aber sagen: sie ist souverän, und weil sie dieses letzte Wort nicht hat, sollte man nicht sagen, wir seien souverän, und man sollte es auch dann nicht sagen, wenn dieses Wort in den Verträgen steht.
Wäre es z. B. der Bundesrepublik möglich, eine Politik zu betreiben, die von einer dieser Mächte, deren Armeen auf ihrem Gebiet stehen, als gegen ihr Fundamentalinteresse gerichtet betrachtet würde? Ich erhebe gegen niemand einen Vorwurf, daß diese Situation so ist und nicht verhindert wurde. Ich glaube nicht, daß dies hätte erreicht werden können. Aber ich wiederhole: ich mache der Regierung und den Parteien, die sie stützen, einen Vorwurf daraus, daß sie in Anbetracht dieser Realität dem deutschen Volk sagen, wir seien nunmehr souverän. Denn die Leute verstehen darunter draußen, daß wir nunmehr wirklich tun könnten, was wir tun wollen und tun sollten.
Um ein Beispiel zu nehmen: Der Herr Bundeskanzler hat sich sehr ausführlich darüber geäußert, daß wir nunmehr die Möglichkeit hätten, mit der Sowjetunion in diplomatische Beziehungen zu treten.