Nein. Ich habe nämlich das System der kollektiven Sicherheit längst verlassen, und — entschuldigen Sie, Kollege Euler! — auf Spätzünder kann ich mich nicht in unbeschränktem Umfange einlassen.
Ich sprach bereits von den Gefahren der militärischen Einschmelzung der Bundesrepublik für unsere künftige Entwicklung; das ist schon ein völlig neues Kapitel. Es entsteht doch ein gewisser Automatismus, wie er sich aus den Vertragswerken zwangsläufig ergibt. Es entstehen gemeinsame Kommandobehörden, das Ineinanderweben verschiedener Truppeneinheiten und das Abhängigmachen von einheitlichen Versorgungseinrichtungen. Es entsteht, ich möchte einmal sagen, eine Gemeinschaft der militärischen Geheimnisse. Das alles führt doch in seiner Wirkung dazu, daß wir mit einer solchen Politik dem amerikanischen „New Leader" schmerzlich recht geben würden, der ganz nackt und bloß festgestellt hat: Aus strategischen Gründen kommt die Wiedervereinigung Deutschlands nicht in Frage.
Wenn wir nämlich erst einmal in eine solche Organisation ganz fest eingegliedert worden sind, dann entwickelt sich doch ein solches Schwergewicht, ein solches Interesse dieser Organisation an dem Verbleiben der Mitwirkung der Deutschen darin, daß Sie dann die Bemühungen um die Wiedervereinigung Deutschlands nur noch mit außerordentlich großen Schwierigkeiten weitertreiben könnten.
Es ist hier, und auch dazu muß noch ein Wort gesagt werden, von der Stimmung in der sowjetischen Besatzungszone gesprochen worden, die so sei, daß man in unserer Sicherheit die Hoffnung auch für die sowjetische Besatzungszone erblicke. Ich will Ihnen ganz offen sagen: Jawohl, es gab, auch wenn das im Abklingen ist, auch wenn sich inzwischen manches in der Sowjetzone verändert hat, es gab und gibt noch heute eine durchaus begreifliche Stimmung der Irredenta einer gequälten Bevölkerung, die sagt: Wann holen die uns endlich aus diesem Los hier raus?
Man sagt: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende!
Das ist eine Haltung und eine Stimmung, die vollkommen begreiflich sind, denen ich meine menschliche Hochachtung nicht versage.
Aber, meine Damen und Herren, wenn wir, die wir in Nüchternheit und Freiheit unsere politischen Entschlüsse fällen können, unsere Entschlüsse auf noch so begreifliche Stimmungen gründeten, ohne der Bevölkerung zu sagen, daß ein Nachgeben gegenüber dieser Stimmung nicht zu ihrer Befreiung, sondern zu ihrem und zu unserem Untergang führen würde, dann wären wir keine verantwortlichen Politiker.
Es ist gar kein Geheimnis, daß ein großer Teil unserer Landsleute in der sowjetischen Besatzungs-
zone einmal auf die Befreiung auch mit militärischen Mitteln gehofft hat. Diese Hoffnung ist zerronnen. Sie ist zerronnen, und ich sage sogar —auch wenn es manchen unserer Landsleute in der Zone dabei weh ums Herze wird —: es ist gut so, um ihres eigenen nackten Lebens willen! Die Vereinigten Staaten von Amerika denken nicht daran, einen einzigen Soldaten zur militärischen Befreiung der Sowjetzone aufs Spiel zu setzen!
Das ist eine Realität. Die Befreiung mit militärischen Mitteln scheidet aus. Es bleibt nur übrig die Erlösung durch die Politik. Da mache ich Sie in allem Ernst darauf aufmerksam, daß man in der Zone drüben sehnsüchtig darauf wartet, daß unsere Politik in der für die Zone entscheidenden Frage, nämlich in der Wiedervereinigungsfrage, etwas mehr an Energie gewinnt als bisher.
Wir haben jahrelang alle Energien der bundesrepublikanischen Politik in der Jagd nach der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft verzehrt, und Sie haben sie dann doch nicht erreicht.
Meine Damen und Herren, soll man weitere Jahre tatenlos verstreichen lassen auf dem Gebiet der Wiedervereinigung, bis jener Abnutzungsprozeß, den die EVG erlebt hat, vielleicht auch in Frankreich erneut diesen Vertragsprojekten ein ungewisses Schicksal bereitet? Jedes Jahr, das Sie —entschuldigen Sie, wenn ich das sage — damit vertun, daß Sie alle Energien hier auf die Einschmelzung der Bundesrepublik in den westlichen Militärverband konzentrieren, sieht doch ein weiteres Abwandern der aktivsten Menschen aus der sowjetischen Besatzungszone, die es nicht mehr aushalten können.
Jedes Jahr sieht ein weiteres Sichabfinden weiter Schichten der Zone mit dem Regime. Jedes Jahr wächst ein neuer Jahrgang junger Menschen heran, den die Kommunisten nach ihrem geistigen Ebenbilde geformt haben.
— Herr Kollege Euler, selbstverständlich hindert die Sowjets nichts daran, aber ich meine — das hat auch Herbert Wehner ausgesprochen —, die Sowjetunion hält es aus in der Zone; wir müssen das Unsere tun, damit der Abzug beschleunigt werden kann!
— Frau Kollegin Weber, mit allem Respekt: ich glaube es vorhin mit ziemlicher Deutlichkeit im
Nachklang zu dem, was die Kollegen Wehner und Brandt gestern dargelegt haben, ausgeführt zu haben.
— Aber natürlich! Der entscheidende Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands ist nicht anders gangbar, als indem Sie den Westmächten zuraten, so bald wie möglich die Russen beim Worte zu nehmen, und nicht ihnen davon abraten. Das ist das Entscheidende!
Meine Damen und Herren, damit bin ich bei einem weiteren Kapitel, nämlich bei jenem Argument, daß die Wiedervereinigung Deutschlands in der Form, wie wir sie vorgeschlagen haben, die gesamte Sicherheitsgemeinschaft der freien Welt, nämlich die nordatlantische Verteidigungsorganisation, sprengen würde. Warum eigentlich? Der Atlantikpakt ist im Jahre 1949 geschaffen worden, zu einer Zeit, als es noch keinen Gedanken an die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik gegeben hat. Die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion waren damals mindestens genau so unfreundlich wie heute. Der Staatsstreich in der Tschechoslowakei, also die damals akuteste Form der sowjetischen Bedrohung in Europa, war schon passiert.
— 1948, Sie haben recht, Frau Kollegin Dr. Weber. 1949, ein Jahr darauf, wurde der Atlantikpakt geschlossen. Eine ganze Reihe von Mächten haben damals erklärt: Wir denken nicht daran, den Deutschen Gewehre in die Hand zu drücken; wir denken nicht daran, die Deutschen je in diese atlantische Verteidigungsorganisation aufzunehmen. Meine Damen und Herren, warum eigentlich sollte die Existenz dieser Verteidigungsgemeinschaft unter amerikanischer Führung, die Existenz dieser Organisation von 14 Ländern, plötzlich zum Tode verurteilt sein, nur weil das fünfzehnte Land, das man früher unter keinen Umständen haben wollte, jetzt nicht eintritt? Das verstehe ich nicht.
— Inzwischen sind doch ein paar Wasserstoffbomben gefallen, das haben S i e noch gar nicht mitgekriegt!
— Das ist auch wieder so eine berühmte Vereinfachung der Tatsachen! Bei der Auseinandersetzung über den EVG-Vertrag haben wir Sie lediglich daran erinnert, daß es nach dem EVG-Vertrag schon deshalb keine Gleichberechtigung der Deutschen gäbe, weil sie von den entscheidenden Schaltstellen der Atlantik-Organisation ferngehalten würden. Das haben wir Ihnen entgegengehalten als Zeichen, daß es keine Gleichberechtigung gäbe. Aber die Sozialdemokratische Partei hat nicht den Eintritt der Bundesrepublik in den Nordatlantikpakt gefordert.
— Doch, bei uns gibt es die Wiedervereinigung Deutschlands, weil ich der Meinung bin, daß es für ein halbes Deutschland ernsthaft überhaupt keine Sicherheit gibt.
Solange Deutschland gespalten bleibt, solange bleibt hier in Europa ein Gefahrenherd,
und solange ist die Verteidigung, wenn wir schon nicht von Sicherheit sprechen können — Sicherheit gibt es für das halbe Deutschland überhaupt nicht —, doch ernsthaft kaum möglich. Vorbereitungen dafür kann man nur im äußersten Notfall dann verantworten, wenn man ernsthaft die Lösung der Sicherheitsfrage für das deutsche Volk durch die Wiedervereinigung versucht hat. Das ist das Entscheidende, was wir zu dem Thema sagen müssen.
Ich bin jetzt bei einer Untersuchung der Tatbestände, die ich eben zusammengefaßt habe unter dem Gesichtspunkt der kaum möglichen Verteidigung der Bundesrepublik, also des halben Deutschlands. Betrachten Sie sich dieses schmale Handtuch, betrachten Sie sich dieses Land, das doch das Vorfeld der Verteidigung anderer zwangsläufig durch seine geographische Lage ist!
Das in diesem Hause früher, auch in den Ausschüssen, in diesem Zusammenhang immer erörterte Kapitel war das der Verteidigungsplanung der Atlantik-Organisation. Sie haben, um hier für die Zukunft gewisse Garantien zu schaffen, in den Berichten des Sicherheitsausschusses und des Auswärtigen Ausschusses verlangt, daß die Bundesrepublik an der für die Ausarbeitung der strategischen Konzeption entscheidenden Planungsstelle, nämlich an der Standing Group in Washington, beteiligt wird. Meine Damen und Herren, unsere Drucksache war noch frisch, da kam aus London schon eine außerordentlich kalte Dusche, und es wurde sehr mit Nachdruck betont, daß diese Forderung doch eigentlich unzeitgemäß wäre.
Damit wird doch klar, in welchem Umfang selbst in dieser Organisation drei Mächte sich im wesentlichen die Vorbereitung der strategischen Entschlüsse selbst vorbehalten haben.
Was geschieht nun in mehr oder minder naher Zukunft, wenn es zu einer Mitwirkung der Bundesrepublik in der Atlantik-Organisation käme? Welche Pläne liegen eigentlich für diesen Fall vor? Wir haben einmal eine Rede des amerikanischen Generals Gruenther in Amerika, und Sie haben zweitens die Zuversicht, die sicher auch auf gewisse Informationen gestützte Zuversicht unseres Kollegen Blank. Ich muß Ihnen ganz offen sagen, wenn man schon Militärbündnisse abschließt, dann ist mir eigentlich jene altmodische Form des Militärbündnisses lieber, in dem man schwarz auf weiß erfahren hat, was man leistet und was man dafür an Sicherheit auch einkauft.
Es gibt keine verbindliche Form, in der Sie wirklich mit gutem Gewissen sagen können: hier ist eindeutig geplant und zugesagt, daß die Bundesrepublik für den Fall eines Konflikts mit dem Ziele der Erhaltung ihrer menschlichen Substanz verteidigt wird.
Es gibt einen sehr interessanten Bericht, den der britische Außenminister Eden erwähnt hat, als er im englischen Unterhaus das NATO-Kommuniqué vom 18. Dezember 1954 zitierte. Darin heißt es:
Der Rat prüfte weiter einen Bericht des Militärausschusses über die wirksamsten Maßnahmen zur Erhöhung der Verteidigungsstärke in den kommenden Jahren, die die Entwicklung moderner Waffen und Technik berücksichtigen.
Er genehmigte diesen Bericht als Basis für die weitere Verteidigungsplanung.
Meine Damen und Herren, es ist doch ein Interesse dieses Hauses, das fast auf Tod und Leben geht, diesen Bericht des Militärausschusses, in dem es sich also gerade auch um die Einplanung künftiger eigener Leistungen handelt, nachdem er im britischen Unterhaus vom Minister zitiert worden ist, in seinen Grundzügen zu kennen. Ich habe Anlaß zu der Vermutung, daß dieser Bericht nicht einmal der Bundesregierung bekannt ist.
Bei diesem Stand der Dinge darf es uns nicht verwundern, daß auf dem Gebiet der Bundesrepublik Manöver so angelegt worden sind, mit dem Einsatz von taktischen Atomwaffen z. B., als gäbe es in dem betreffenden Gebiet überhaupt keine Zivilbevölkerung. Da darf es uns auch nicht wundern, daß die Briten nach wie vor an ihrer Konzeption festhalten, daß sich eben aus strategischen Gründen die Verlegung ihres Hauptquartiers auf das linke Rheinufer aufnötige. Es ist in Ihren Drucksachen eine Erklärung abgedruckt, die der amerikanische Außenminister Dulles zu dem Problem der Stationierung amerikanischer Verbände auf dem europäischen Kontinent abgegeben hat.
Meine Damen und Herren! Ich hatte Gelegenheit, Ihre Propagandafeldzüge so zu beobachten wie Sie die meinen. Ich weiß übrigens nicht, wer von Ihnen Anlaß hatte, sich etwa über meine besonders zu beklagen. Aber davon abgesehen, ich weiß, daß eines Ihrer entscheidenden Argumente immer das gewesen ist: Wenn wir diese Verträge nicht ratifizieren, dann werden die Vereinigten Staaten von Amerika ihre schützende Hand von Europa abziehen, dann werden sie gewissermaßen nicht nur militärisch ihre Präsenz hier verringern, was wahrscheinlich ohnehin bevorsteht — Kollege Furler, ich komme noch darauf —, sondern dann werden sie auch politisch die bösen Europäer zur Strafe für schlechtes Verhalten den Russen ein- fach vorwerfen und sagen: Nimm auch das Ruhrgebiet; die Veränderung des weltpolitischen Gleichgewichts durch die Produktionskapazität Deutschlands auf russischer Seite interessiert uns dann auch nicht weiter. Ich traue den Vereinigten Staaten keinen Selbstmord aus Angst vor dem Tode zu. Ich halte sie politisch für klüger. Ich bin sogar der Meinung, wenn man mit den Amerikanern ernsthaft über die auch für sie verbesserten Chancen einer Verteidigung der Freiheit durch die Wiedervereinigung Deutschlands sprechen würde, daß auch da durchaus ein gutes Wort auf guten Boden fiele.
Aber ich bin jetzt bei der Dulles-Erklärung auf der Londoner Konferenz. Die müssen Sie sehr sorgfältig lesen. Daraus ergibt sich ganz eindeutig — —