Wenn ich mir aber diese Debatte von gestern noch einmal in Erinnerung rufe, dann kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, als ob sie im wesentlichen noch aus der Situation des Korea-Krieges des Jahres 1950 heraus geführt worden ist.
Inzwischen ist in der Welt etwas geschehen, und zwar etwas, was bisher in diesem Hause im Zusammenhang mit den Verträgen noch von keinem Sprecher aufgegriffen worden ist, ein Ereignis, das für die Beurteilung aller Sicherheitsfragen eine
völlig neue Grundlage geschaffen hat, nämlich die Explosion zweier Wasserstoffbomben, eine in den Händen der Vereinigten Staaten von Amerika, die andere in den Händen der Sowjet-Union. Das ist jener entscheidende Tatbestand, an dem wir doch nicht vorbeikommen, wenn wir uns um die Fragen der Sicherheit Gedanken machen. Es ist ja häufig so, daß Militärs, wenn sie sich mit Sicherheitsproblemen befassen, den vergangenen Krieg noch einmal vorbereiten, statt sich mit den grauenhaften Perspektiven eines drohenden künftigen auseinanderzusetzen.
Dieser Gefahr muß der Bundestag begegnen, indem er in allem Realismus untersucht, was sich an Konsequenzen aus dem Vorhandensein der neuen Massenvernichtungswaffen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges für dieses unser deutsches Volk ergibt. Wir können keinem besseren Rat folgen als dem des britischen Premierministers Winston Churchill, als er seinerzeit den Abzug der britischen Truppen aus dem Suezkanalgebiet damit begründet hat, daß in der Aera der Wasserstoffbombe alle früheren strategischen Konzeptionen überholt und veraltet geworden seien.
Wir müssen uns darüber klar sein, daß es heute nicht mehr darum geht, Verteidigung in einem Krieg zu organisieren, sondern daß es heute für uns — und ich meine: für die Menschheit — darauf ankommt, Sicherheit vor einem Krieg überhaupt zu schaffen. Das ist das entscheidende Problem.
Es wird an anderer Stelle dieser Debatte noch darauf eingegangen werden, welchen Appell jene Männer, die es wissen, von Professor Einstein über Professor Oppenheimer, den Schöpfer der ersten Atombombe, bis zu dem deutschen Nobelpreisträger Hahn, an die verantwortlichen Politiker in der ganzen Welt gerichtet haben. Ich meine, dieser Appell geht auch uns an. Sonst wären wir keine verantwortlichen Politiker.
Der Deutsche Bundestag kann, gerade weil die Bundesrepublik alles andere als eine Atommacht ist, es mit gutem Gewissen auf sich nehmen, an die Großen in der Welt einen eindringlichen Appell zu richten, dem Atomwettrüsten Einhalt zu gebieten, weil an seinem Ende nur das Ende der Menschheit stehen kann.
Aber wie? Es ist hier — und mit Recht -- nicht immer nur von der Lage dieses deutschen Volkes gesprochen worden. Es ist von der Lage gesprochen worden, in der sich dieses Volk inmitten zweier waffenstarrender Weltblöcke befindet, und da müssen wir uns also auch darüber unterhalten, uns darüber Rechenschaft ablegen, wie denn das drohende Verhängnis aufgehalten werden kann. Da gehört es, glaube ich, auch zu unseren Pflichten, denen, die es angeht — darin weiß ich mich eins, wirklich eins ohne Unterschied der Parteien mit dem ganzen Hause und auch mit der Bundesregierung —, eindringlich zuzurufen: Macht Ernst mit der Abrüstung, ehe es zu spät ist!
Aber bei diesem Appell kann es nicht bleiben. Auch wir Deutschen sind verpflichtet, dann ganz nüchtern dieses Abrüstungsproblem — nach den sehr schmerzlichen Erfahrungen, die man in vergangenen Jahrzehnten mit Abrüstungsdiskussionen gemacht hat — zu betrachten nach seinen realen Möglichkeiten. Auch wir wissen, daß ein Abrüstungsunternehmen zum Scheitern verurteilt wäre, wenn etwa die eine Seite forderte: Laßt uns die Waffen wegwerfen, in denen ihr überlegen seid, damit wir die Waffen behalten, in denen wir überlegen sind! — Es ist auch für uns sonnenklar, daß eine Weltabrüstung nicht zustande kommen kann, ja, auch sogar — ich sage das — den Vereinigten Staaten von Amerika nicht zugemutet werden kann, wenn sie so aussieht, daß mit dem Verzicht auf die Atomwaffen dann eine erdrükkende Überlegenheit des Sowjetblocks mit den Waffen übrigbliebe, die, auch wenn man sie klassisch heißt, schrecklich genug sind, um Völker zu dezimieren, wie wir alle im letzten Krieg erlebt haben.
Die Weltabrüstung ist ein Problem, das man nur im Ganzen angehen kann. Wir werden — das sei in aller Nüchternheit gesagt — zur weltumfassenden Abrüstung auch auf dem Gebiete der Atomwaffen nur gelangen, wenn man dazu kommt, auch die anderen Waffen in ein solches Abkommen einzubeziehen, damit auf beiden Seiten — nicht nur auf einer, auf beiden Seiten — dem verhängnisvollen Wettrüsten ein wirksames Ende gesetzt wird.
Dazu gehört noch eins, und das sei gleichfalls in allem Ernste gesagt. Das Mißtrauen ist heute in der Welt groß, hüben und drüben. Mißtrauen ist leider eine Untugend, die es nicht nur auf einer Seite gibt, und es wird immer genährt von den Untugenden der anderen Seite. Ohne einen Abbau des Mißtrauens und der dieses Mißtrauen verursachenden Haltung hüben und drüben ist ein solches Abkommen auf die Dauer schwerlich erreichbar.
Aber wozu führt dieses Mißtrauen? Es führt dazu, daß sich niemand an eine Abrüstungsabrede mit Ernst verpflichtend binden kann, wenn er nicht die Gewißheit hat, daß auch der andere Partner sie einhält. Das heißt: Abrüstung gerade der Großen dieser Welt ist gebunden an ein wirksames System internationaler Kontrolle, das allen Beteiligten die Sicherheit gibt, daß nicht nur sie, sondern auch die andere Seite ihren Waffenvorrat vermindern und auf die weitere Vergrößerung bestimmter Waffen verzichten.
— Ich habe den Zwischenruf nicht verstanden, ich bedauere also, nicht darauf eingehen zu können. Ich darf aber doch wohl annehmen, daß — bisher wenigstens jedenfalls — wir alle einer Meinung sind. Ich möchte noch hinzufügen, aus welchem aktuellen Anlaß — nicht nur in Zusammenhang mit der Vertragsdebatte — wir das aussprechen müssen. Das ist wahrscheinlich die letzte Gelegenheit, in der das deutsche Parlament sein Wort zu diesen Fragen sagen kann, bevor die Großen dieser Welt sich in den nächsten Wochen erneut an einem Tisch, und zwar an dem Tisch der Abrüstungskommission, die vom Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen geschaffen worden ist, zusammensetzen, um dieses Problem miteinander zu erörtern. Da haben wir alle doch nur eine einzige Aufgabe, nämlich denen, die dort zusammengetreten sind, zuzuraten, daß sie etwas zustande bringen. Da haben wir alle nur die eine Aufgabe, zu einer Verbesserung des Klimas beizutragen
und nicht etwa von uns aus Öl ins Feuer zu gießen und die beteiligten Mächte, von denen unser aller Schicksal abhängt, gewissermaßen noch einmal gegeneinander aufzuhetzen.
Ich richte den eindringlichen Appell an dieses Haus in Erinnerung an den gestrigen Tag, gewisse Töne und ihre Wirkung auf die vierte Besatzungsmacht doch im Hinblick auf diese Abrüstungsverhandlungen ernsthaft im eigenen Gewissen noch einmal zu überprüfen.
Ich weiß: Weltabrüstung — sie scheint eine Utopie zu sein. Es ist ein großes immer wieder die Menschheit verlockendes Ziel, und noch nie ist es bisher erreicht worden. Ich weiß, daß man unter den Umständen der Gegenwart sich diesem Ziel nur Schritt für Schritt wird nähern können, aber ich weiß auch — und jeder von uns spürt das doch —, daß die Menschheit heute über die Mittel verfügt, sich selbst auszulöschen, wenn sie dieses Ziel nicht erreicht.
Mag es bisher ein schöner und sehr guter Traum gewesen sein, hätten manche Schrecken vergangener Kriege vielleicht verhindert werden können — noch zu keiner Stunde ging es so wie jetzt ganz schlechthin um den Fortbestand der Menschheit überhaupt. Das muß auch unser Parlament bedenken, wenn es sich zu den Problemen der Abrüstung äußert. Wir haben daher allen Anlaß, bei diesen Fragen, ich möchte einmal sagen, mindestens durch unseren guten Willen mitzuhelfen. Da kann ich doch nicht ganz umhin, einen kleinen Widerspruch darin zu finden, daß man nach neuester Lehre, wie sie in diesem Hause vertreten worden ist, die Weltabrüstung am besten damit anfängt, daß man zunächst einmal die Bundesrepublik Deutschland aufrüstet.
Meine Damen und Herren! Ich will damit dieses Thema der Weltabrüstung verlassen und mich einem weiteren zuwenden, das unmittelbar mit den Problemen der Sicherheit zusammenhängt und das wir so manches Mal in diesem Haus erörtert haben und das ja auch in einem Zusammenhang mit den Bemühungen anderer, mit uns befreundeter Länder steht, auf ihrem Gebiet das Nötige zu tun. Ich meine, so notwendig, wirklich unbedingt notwendig die Stärke der westlichen Welt gewesen ist und noch ist, um nicht einfach von einer •aggressionslüsternen Macht überrannt zu werden, so notwendig ist es auch, zu begreifen, daß Sicherheit vor dem Bolschewismus mehr ist als ein rein militärisches Problem.
Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika
— er versteht etwas von den Sicherheitsproblemen
— hat in diesem Zusammenhang einmal ein Wort geprägt, das manchem von Ihnen heute gern als ein reiner kommunistischer Propagandaschlager erscheint. Ich halte Eisenhower nicht für einen fellow traveller oder für einen Mitläufer der Kommunisten, bis zur Stunde jedenfalls nicht. Er hat ein Wort geprägt, das mir sehr gefallen hat, das Wort von der competitive coexistence. Damit meint er, daß angesichts des heutigen Zustandes der Waffentechnik keine der beiden Mächtegruppen hoffen kann, die andere auszulöschen, keine!
Bleibt also beiden nichts weiter übrig, als in irgendeiner Form nebeneinander zu bestehen, ohne sich die Schädel einzuschlagen. Dabei hat er das Wort competitive eingeführt, weil er der Meinung ist — und damit gebe ich ihm recht —, daß die freie Welt nicht durch ihre Tatenlosigkeit auf sozialem Gebiet, auf dem Gebiete der Freiheit der Kolonialvölker, auf dem Gebiete der Hebung des Lebensstandards in den unterentwickelten Gebieten der Welt weiterhin Hunderte von Millionen Menschen dem kommunistischen Sog einfach verfallen lassen sollte. Das war es, was Eisenhower mit dem Ausdruck gemeint hat. Damit wird gerade bei ihm sichtbar, daß die Gegenposition zum Bolschewismus doch nicht einfach der Antibolschewismus, sondern die Freiheit ist — und das ist etwas ganz anderes —, die Freiheit in ihrer Mannigfaltigkeit.
Es wird neuerdings Mode in unserem Lande, die Richtigkeit aller politischen Entschlüsse nur danach zu überprüfen, ob sie den Sowjets mißfallen oder gefallen, und einfach zu sagen: Richtig ist immer, was die Sowjetunion ärgert, und falsch ist alles, was unter Umständen noch die Zustimmung der Sowjetunion findet. Das sei hier besonders gesagt im Zusammenhang etwa mit einer rückschauenden Betrachtung der Rede des Kollegen Euler. Ich warne vor dieser vereinfachenden Betrachtung der gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen. Wer es sich angewöhnt, seine politischen Maßstäbe in dieser Weise nur nach den Verhaltensweisen der Sowjetunion auszurichten, dessen Gehirnwindungen werden allmählich denen der Sowjets verdammt ähnlich,
der läßt sich vom Gegner das Gesetz des Denkens und Handelns vorschreiben, der bezieht keine eigene Position mehr, sondern nur noch jeweils die Antiposition, d. h. er wird ein Abziehbild der kommunistischen Welt. Und dann lohnt der Kampf um die Freiheit nicht mehr, wenn wir nur eine andere Ausgabe derselben eintönigen Uniformität werden.
Ich habe vorhin davon gesprochen, daß Weltabrüstung nur möglich ist, wenn ein Klima dafür geschaffen wird, wenn das Mißtrauen der Großen zueinander etwas zum Abklingen gebracht wird, das heißt mit anderen Worten: wenn es gelingt, auf Sicht die Beziehungen der beiden Mächteblöcke zueinander etwas zu entspannen. Damit sind wir bei einer Frage, die uns den ganzen gestrigen Tag beschäftigt hat und die auch nicht gelöst werden kann ohne eine Entspannung der Beziehungen der Großen zueinander, nämlich bei der Wiedervereinigung Deutschlands. Hier gibt es einen untrennbaren Zusammenhang dieses gesamten Komplexes. Das, Herr Bundeskanzler, ist auch Ihre Meinung, ich weiß es. Aber gerade weil es diesen inneren Zusammenhang von internationaler Entspannung und Wiedervereini-
gung Deutschlands und der schicksalhaften Hoffnung der Menschheit auf die Abrüstung gibt, ist es besonders das Interesse der Deutschen, stärker fast noch als das Interesse jedes anderen Volkes, den Weltmächten zu einer solchen Politik der Entspannung zuzuraten, nicht etwa beiseite zu stehen oder gar etwa ihnen abzuraten.
Die Wiedervereinigung Deutschlands erhöht die Sicherheit für alle Beteiligten. Sie erhöht sie einmal dadurch, daß sie ein sichtbares Zeichen der Entspannung der weltpolitischen Gegensätze ist, und sie erhöht sie zum anderen, rein militärisch gesprochen, auch für die freie Welt dadurch, daß die sowjetische Ausgangsposition einige hundert Kilometer weiter östlich zu liegen käme als heute. Darüber sollte doch ein Mann wie General Gruenther einmal nachdenken. Das ist meine feste Überzeugung.
Erreichbar allerdings ist eine solche Lösung nur, wenn sie annehmbar, auch vom Sicherheitsstandpunkt annehmbar, für alle Beteiligten ist.
Hier ist — das sei dem Kollegen von Merkatz mit Dank vermerkt — noch einmal die einmütige Überzeugung des ganzen Hauses ausgesprochen worden: Wiedervereinigung Deutschlands heißt nur Wiedervereinigung in Freiheit. Auch für uns Sozialdemokraten steht fest, daß wir mit der Wiedervereinigung Deutschlands nicht etwa die 50 Millionen Bewohner Westdeutschlands und Berlins in das Zuchthaus der Sowjetzone einsperren wollen, sondern daß umgekehrt die Wiedervereinigung Deutschlands bedeuten muß, daß sich für die 18 Millionen Landsleute in der Zone die Tore zur politischen Freiheit öffnen.
Dabei scheiden zwei Wege — nicht nur einer, zwei — eindeutig aus: Der Weg des Krieges ist von allen ausgeschieden worden; er wäre Selbstmord. Bleibt noch ein Weg, den wir ausscheiden müssen, obwohl er, so fürchte ich, jedenfalls in manchen Gehirnen heute doch noch vorhanden ist: Das ist der Weg des Druckes. Was heißt das eigentlich: der Weg des Druckes? Das bedeutet also, daß man entweder mit dem Kriege droht und dann das Risiko des Unterganges über das eigene Volk und nicht die Wiedervereinigung heraufbeschwört, oder aber, daß jedermann weiß: Die Drohung wird nie in die Tat umgesetzt, und dann ist sie nichts als ein leerer Bluff, und man verliert das Gesicht, so wie es doch leider schon einmal die Vereinigten Staaten bei ihren ergebnislosen Drohungen im Indochinafall vor der südostasiatischen Welt verloren hatten. Der Weg des Druckes ist für uns genau so ungangbar wie der Weg des Krieges.
Was bleibt dann noch übrig? Dann bleibt nur übrig der einzige Weg, auf den wir uns bisher hier alle miteinander verständigt haben: der Weg der Verhandlungen, und zwar offensichtlich also der Verhandlungen ohne die Pression, ohne den Druck. Wie können solche Verhandlungen unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit zu einem für uns akzeptablen Ergebnis gebracht werden? Es scheidet aus jener Weg, den die Sowjets in zahlreichen früheren Erklärungen verfochten haben und der von den westdeutschen Kommunisten nachgebetet worden ist, jener Weg, der dazu da sein sollte, Gesamtdeutschland schon vor der Abhaltung von Wahlen den Kommunisten in die Hände zu spielen, indem man sie an gesamtdeutsche Schalthebel der Machtpolitik gebracht hätte. Dieser Weg scheidet aus zwei Gründen aus, einmal weil wir alle miteinander
ihn nicht wollen, und zum zweiten — darauf hat ein Kollege schon aufmerksam gemacht — weil die Westmächte nicht im Traume daran denken, ihre strategischen, ihre militärischen Positionen in der Bundesrepublik zu räumen, damit sie in die Hände der Sowjets fallen. Das ist ein ganz harter, nackter Tatbestand. Aber dieser Tatbestand, meine Damen und Herren, gilt auch umgekehrt. Darüber muß man sich einmal Rechenschaft ablegen.
Die Sowjetunion denkt gleichfalls nicht daran, der Schaffung eines Gesamtdeutschlands zuzustimmen, das so beschaffen wäre, daß ihre bisherigen politischen und militärischen Positionen in der sowjetischen Besatzungszone in von den Amerikanern befehligte strategische Positionen verwandelt würden. Das ist friedlich auch nicht zu erlangen. Die Wiedervereinigung Deutschlands nicht als ein Fernziel der nächsten Generationen, sondern als eine Gegenwartsaufgabe einer Politik der Entspannung und auch einer Politik der Weltabrüstung ist nur zu erlangen, wenn das wiedervereinigte Deutschland weder sowjetischer Satellit noch amerikanischer Truppenübungsplatz wird.
Meine Damen und Herren, das Kräftegleichgewicht in der Welt bleibt unverändert, ob Sie nun deutsches Militärpotential je zur Hälfte den beiden Blöcken einverleiben oder ob deutsches Militärpotential keinem der beiden Militärblöcke angehört.
Das bedeutet für das weltpolitische Machtgleichgewicht keinen Unterschied.
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Der Abgeordnete Wehner hat schon mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß zwei gegeneinander aufgerüstete deutsche Armeen die gefährlichste Form der Neutralisierung wären. Dieser Meinung möchte ich mich vollinhaltlich anschließen. Wir haben gestern davon gesprochen, daß es selbstverständlich bei allen Überlegungen nicht nur auf die Sicherheit der anderen, sondern gerade — und das ist in einem deutschen Parlament unsere Pflicht — auf die Sicherheit des eigenen Volkes ankommt. Die Abgeordneten Wehner und Brandt haben davon gesprochen, daß die Sicherheit des wiedervereinigten Deutschlands auf einem Vertragssystem beruhen müsse, das jedem, der die Grenzen des wiedervereinigten Deutschlands verletze, klarmache, daß er damit den dritten Weltkrieg auslöse. Dann findet dieser Weltkrieg nicht statt!
Meine Damen und Herren, es ist Sache der praktischen Politik, in einem solchen Vertragssystem auch zu bestimmen, welche nach meiner Überzeugung unvermeidbaren eigenen Leistungen das deutsche Volk in einem solchen Fall, auch in einem solchen Vertragssystem, als Hilfe für seine eigene Sicherheit mit zu erbringen hat. Aber ich frage Sie alle, nachdem wir wenigstens den Versuch unternommen haben, eine den vier Besatzungsmächten annehmbare Konzeption für Gesamtdeutschland vorzutragen: Welchen Weg außer dem, daß Sie die Bundesrepublik aufrüsten, zeigen Sie denn, um zur Wiedervereinigung Deutschlands in einer Form zu kommen, die auch die Zustimmung der Sowjetunion finden kann? Das ist doch bisher noch gar nicht gesagt worden!
Wer es — das ist doch der tiefe Kern unserer Gegensätze — zum erklärten Ziel seiner Politik macht, daß auch das wiedervereinigte Deutschland einer amerikanisch geführten Militärallianz angehören müsse, der mag ein vielleicht erstrebenswertes Ziel verfolgen; aber die Einheit Deutschlands wird er damit angesichts der realen Machtverhältnisse in der Welt bestimmt nicht erreichen.
Wenn also, gesetzt den Fall, Sie stimmen den Vertragswerken zu — Sie scheinen ja in Ihrer überwiegenden Mehrheit fest dazu entschlossen zu sein —, wenn also auch Sie die Wiedervereinigung Deutschlands anstreben, was anderes bleibt Ihnen dann übrig, als auch Ihrerseits die weltpolitischen Realitäten in Ihre Betrachtungen einzubeziehen?! Das wiedervereinte Deutschland als Teil eines amerikanisch beherrschten Militärsystems ist offensichtlich nicht möglich. Da ich nicht annehmen kann, daß Sie das wiedervereinte Deutschland mit einem Militärbündnis mit der Sowjetunion ausstatten wollen, bleibt doch eigentlich dann nur übrig, daß das wiedervereinte Deutschland eben kein militärisch Verbündeter eines einseitigen Systems von Militärallianzen sein wird, auch wenn Sie einmal an diese Frage herangehen müßten.
Ebenso ist es unbestritten, daß nach dem freien Willen des deutschen Volkes, nach dem unbezweifelbaren Ergebnis gesamtdeutscher freier Wahlen das wiedervereinigte Deutschland wirtschaftlich, sozial, kulturell und politisch ein Teil der Gemeinschaft der freien Völker sein würde und kein kommunistischer Satellit. Das wissen die Sowjets genau so wie die Westmächte. Und da meine ich: In diesem Bewußtsein könnten wir ruhig mit etwas mehr Mut an die kommenden Viermächtekonferenzen herangehen und brauchten nicht so zaghaft zu sein.
Welche Chancen dafür bestehen, das ist am gestrigen Tage in der politischen Diskussion um die Wiedervereinigung abgehandelt worden. Ich möchte hier, da wir uns heute über die Sicherheitsfragen, auch über die militärischen Fragen auseinandersetzen, doch darauf aufmerksam machen, daß die Zugehörigkeit zur freien Welt keineswegs zwingend verbunden ist mit der Zugehörigkeit zur Atlantischen Militärallianz.