Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesamtdeutsche Block wird den Pariser Verträgen mit Ausnahme des Saarstatuts zustimmen, und er tritt auch dafür ein, daß diese Verträge sofort ratifiziert werden. Damit ist die Frage, die so sehr im Vordergrund auch der jetzigen Diskussion gestanden hat, nämlich: Zuerst ratifizieren und dann verhandeln oder umgekehrt, von uns im Sinne der aufgezeigten Alternative positiv entschieden worden.
Ich halte es aber für notwendig, mit Nachdruck darauf hinzuweisen, daß diese Frage eine rein politische Zweckmäßigkeitsfrage ist. Sie ist nicht geeignet, zu einem politischen Dogma oder Glaubensbekenntnis umgewertet zu werden, und sie ist auch nicht geeignet, eine so weitgehende und tiefe Meinungsverschiedenheit zu begründen, wie sie in der letzten Zeit im deutschen Volke in Erscheinung getreten ist. Ihre Beantwortung hängt doch im wesentlichen davon ab, ob man der Sowjetunion Glauben schenkt, wenn sie sagt: wir werden nach der Ratifizierung nicht mehr verhandeln. Das ist eine Frage, die jeder nach seiner Überlegung, nach seinen Erfahrungen und Erkenntnissen entscheiden muß und die wir dahin entschieden haben, daß unserer Meinung nach die Russen auch nach der Ratifikation zu Verhandlungen bereit sein werden, wenn sie sich sachlich etwas davon versprechen.
Meine Damen und Herren! Wenn man die Reaktion der Sowjetunion auf die Bemühungen um die Verträge aufmerksam verfolgt hat, dann muß man nach meiner Überzeugung sogar zu der Ansicht kommen, daß sie hinterher erst recht zu Verhandlungen bereit sein werden, denn wenn ihnen schon die Ansätze so wichtig waren, daß sie mit immer größeren Zugeständnissen kamen, dann wird ihnen erst recht das vollzogene Ergebnis so wichtig sein, vielleicht noch weitergehende Angebote zu machen.
Man braucht sich über diese Angebote keine Illusionen zu machen, und trotzdem muß man sie natürlich sehr ernst nehmen. Aber auch wenn man sie ernst nimmt, so haben wir doch alle Ursache, zuerst die Einheit der freien westlichen Welt herzustellen. Wir sind für die Russen keine Verhandlungspartner, die ihnen irgend etwas bedeuten, und wir haben alle Ursache, diese Einheit der freien Welt herzustellen, damit es Herrn Molotow nicht möglich ist, seine Haupttätigkeit bei den künftigen Verhandlungen darauf abzustellen, Zwietracht in die westliche Welt zu säen. Auch aus diesem Gesichtspunkt heraus müssen wir also diese unsere Haltung einnehmen.
Meine Damen und Herren! Wenn man mit heißem Herzen und ganzer Seele für die Wiedervereinigung eintritt, dann ist es einem noch nicht gestattet, die Schwierigkeiten zu übersehen, die sich der Wiedervereinigung entgegenstellen. In diesem Zusammenhang möchte ich hier das eine herausstellen: Jedes echte Entgegenkommen seitens der Russen in der Frage der Wiedervereinigung setzt eine starke russische Gewalt voraus. Nur eine starke Regierung wird sich zu weitgehenden Zugeständnissen bereit finden können, und nach dem, was wir in den letzten Wochen erlebt haben, erscheint es mir doch fraglich, daß wir im Augenblick und in ganz naher Zukunft eine solche Konsolidierung der staatlichen Machtverhältnisse in Rußland haben oder haben werden, daß wir mit einiger Wahrscheinlichkeit auf ein positives Ergebnis rechnen könnten.
Wir haben doch gar keine Wahl zwischen Ost oder West, und gerade wenn ich einmal etwas vom Standpunkt der Vertriebenen sagen darf: Wir können doch unmöglich daran vorbeisehen, wem wir diesen Tatbestand der Vertreibung verdanken. Wir können uns deshalb doch nicht etwa jemals — meiner Ansicht nach auch in naher Zukunft nicht — dazu entschließen, unser Vertrauen auf die Sowjetunion zu setzen. Das würde ich als politischen Selbstmord und als das Ende unserer Freiheit ansehen.
Wir dürfen keine Schaukelpolitik betreiben. Wir haben allen Anlaß, durch eine konstante und klare Haltung das Vertrauen der westlichen Welt zu uns zu gewinnen oder aufrechtzuerhalten. Das braucht keine Abhängigkeit zu bedeuten. Aber man muß sich entscheiden können; sonst sitzt man nachher zwischen allen Stühlen.
Je fester und klarer unsere Haltung insoweit ist, um so mehr haben wir das Recht, an dem, was man uns vorgelegt hat, Kritik zu üben und darauf zu achten, daß die berechtigten Anliegen des deutschen Volks bei dieser Gelegenheit nicht zu kurz kommen. Wir haben gestern gehört — und wir wußten es auch schon lange —, daß die westlichen Mächte Erklärungen zur Frage der Wiedervereinigung und auch zur Frage der künftigen Grenzregelung abgegeben haben. Herr Bundesminister Strauß hat aber gestern hier eine Auffassung vertreten, die ich nicht teilen kann. Er hat so getan, als ob es nicht erlaubt sei, in diesem Hause den guten Willen unserer Vertragspartner in dieser Frage auch nur irgendwie in Zweifel zu ziehen.
Gerade wenn wir durch unsere Erklärungen und durch unsere Haltung bewiesen haben, daß wir unser Vertrauen endgültig auf die westliche Welt abstellen, dann ist es doch wohl gestattet, in einer Einzelfrage Zweifel, die ich habe, zum Ausdruck zu bringen, und ich muß eine solche Haltung, wie sie uns gestern entgegengetreten ist, zurückweisen. Es soll ja Parlamente geben, die sogar der eigenen Regierung das Vertrauen absprechen, und deshalb können wir uns wohl unmöglich zu dem Prinzip bekennen, es sei hier nicht einmal mehr gestattet, etwa den guten Willen oder auch nur den Grad des guten Willens unserer Vertragspartner in Zweifel zu ziehen.
Ist Herrn Bundesminister Strauß nicht bekannt, was sich in der französischen Kammer abgespielt hat? Die Alliierten haben auch zu der Frage der Grenzregelung Erklärungen abgegeben, und als der Abgeordnete Soustelle in der Kammer die Regierung fragte: ,,Sind wir etwa verpflichtet, den Bestrebungen der Bundesregierung zur Herstellung der Grenzen von 1937 unsere Unterstützung zu leihen?", hat Herr Mendès-France geantwortet: „Ganz gewiß nicht!".
Also wie man da jeden Zweifel unterbinden will, ist mir nicht ganz ersichtlich. Ich bedauere, daß Herr Bundesminister Strauß nicht da ist; sonst hätte ich ihn gefragt, und ich frage es jetzt:
Wird von dem Bestreben zur Wiedervereinigung und von der Verpflichtung der Westmächte, uns in dieser Frage zu unterstützen, nicht auch die Saar umfaßt? Oder will man den guten Willen der Franzosen aus dem ableiten, was sich in Paris zugetragen hat? Die Erklärungen der Westmächte sind erstmalig in London abgegeben worden, und da war von der Saar nicht die Rede. Und Frankreich hat kurz danach in Paris, als das Abkommen unter Druck zustande kam, in eklatanter Weise seiner Verpflichtung, die Wiedervereinigung Deutschlands nach Kräften zu unterstützen, zuwidergehandelt. Das soll einmal herausgestellt werden.
Darüber hinaus kann doch niemand über den Zwiespalt hinwegkommen, der darin liegt, daß wir hier so feierliche Bekenntnisse zur Wiedervereinigung hören und im gleichen Atemzug von uns verlangt wird, daß wir ein Abkommen über einen unbestritten zu Deutschland gehörenden Teil treffen und ihm unsere Zustimmung geben sollen, obwohl es doch eine Minderung unseres Rechts zum Teil herbeiführt, zum Teil für die Zukunft geradezu sicherstellt. Deshalb sollte man sich von allen deklamatorischen Erklärungen zu dieser Frage fernhalten.
Das gilt auch für den innenpolitischen Bereich. Die Bundesregierung hat es an solchen Erklärungen nicht fehlen lassen. Sie waren auch notwendig. Aber davon, daß, wie der Herr Bundesminister Strauß gestern gesagt hat, ein Gift in das deutsche Volk getragen wird, indem der Wille der Bundesregierung zur Wiedervereinigung in Zweifel gezogen wird, habe ich weniger merken können. Das Volk hat nach der Länge der Erklärungen vielmehr auf die Handlungen geachtet, und da muß ich der Bundesregierung sagen, daß die Errichtung gewisser Bauten in Bonn, Bauten, die mit dem Sachverhalt eines Provisoriums schlechterdings nicht in Einklang zu bringen sind, in dieser Frage außerordentliche Skepsis wachgerufen hat.
Meine Damen und Herren, unsere heutige Debatte muß über Deklamationen hinaus wohl zu sehr konkreten Überlegungen führen: Wie können wir die Wiedervereinigung praktisch durchführen? Es ist erfreulich, festzustellen, daß nunmehr die Notwendigkeit, zum mindesten nach Ratifizierung der Verträge so fort zu verhandeln, von allen Seiten dieses Hauses in dieser Debatte anerkannt worden ist. Aber das genügt nicht. Man muß sich ernsthaft auch die Frage vorlegen: Wie komme ich weiter, auf welchem Wege?, wobei ich schon darauf hingewiesen habe, daß das nicht bedeutet, daß man etwa die Schwierigkeiten unterschätzt oder gar außer acht läßt. Die Politik der Stärke ist aufgegeben. In dieser Debatte ist erfreulicherweise mehr als einmal zum Ausdruck gekommen, daß auch in der letzten Überlegung der Gedanke an einen Krieg auszuscheiden hat.
Was ergibt sich daraus? Es ergibt sich daraus, daß wir nur auf dem Verhandlungswege weiterkommen können und daß wir die Wiedervereinigung nur von der Sowjetunion bekommen können. Nun hat, wie gestern schon gesagt wurde, niemand ein fertiges Rezept in der Tasche. Aber eins, glaube ich, sollten wir uns heute schon klarmachen: Niemals kann sich die Wiedervereinigung in der Weise abspielen, daß die Russen uns zur Bundesrepublik die Sowjetzone hinzugeben, daß beide dann wiederbewaffnet werden und Teil eines Militärpaktes sind, der sich, wenn auch nicht mit Worten, so doch praktisch gegen die Sowjetunion richtet. Wer diese Lösung erstrebt, sieht die Realitäten nicht.
Und wer sich damit abfindet und nichts anderes
zulassen will, der schreibt die Wiedervereinigung
praktisch auf lange Zeit ab, wobei es völlig gleichgültig ist, ob er sich über diesen Sachverhalt klar ist oder nicht.
Es wird daher notwendig sein, andere Lösungen und andere Wege ins Auge zu fassen.
Der Gesamtdeutsche Block hat sich auf seinem Parteitag gegen die Bündnislosigkeit für die Bundesrepublik ausgesprochen. Für die Bundesrepublik! Das bedeutet, daß dieselbe Entscheidung für . Gesamtdeutschland nicht getroffen worden ist.
Ich kann auch nicht einsehen, daß es gar keine Lösung geben sollte, die zu einem allgemeinen Sicherheitssystem unter Beteiligung der westlichen Welt u n d der östlichen Welt führt, dem wir nicht als Teil eines der beiden sich gegenüberstehenden Blöcke, sondern dem wir als Einzelmitglied angehören.
Voraussetzung ist aber wohl auch immer, daß wir uns darüber klar sind, daß wir die Neutralisierung Deutschlands 'ablehnen, wobei ich unter Neutralisierung die waffenlose Neutralität der Bundesrepublik oder Deutschlands verstehe. Dazu könnten wir uns niemals bereit finden. Ich halte es aber nicht für unmöglich und ich halte es sogar für 'den einzig möglichen Weg, diese andere Lösung zu suchen, die zu einer echten Neutralität führt.
Meine Damen und Herren, noch eines. Ich sage das hier nicht ad hoc, sondern ich habe es auch auf dem Parteitag gesagt: Voraussetzung für mich ist,
daß ich jede Lösung ablehnen würde, die nicht die Zustimmung der freien westlichen Welt findet. Unter dieser Voraussetzung kann meines Erachtens niemand etwas gegen diesen Vorschlag haben. Lassen wir uns solche Möglichkeiten, die im echten Interesse unseres Volkes liegen, nicht durch Schlagworte verbauen.
Und nun ein Letztes. Man kann oder man sollte von der Frage der Wiedervereinigung nicht sprechen, ohne sich auch darüber klarzuwerden: was ist denn eigentlich Wiedervereinigung? Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, dem wir, glaube ich, auch gestern und heute gehuldigt haben, versteht man unter Wiedervereinigung die Zusammenführung der Bundesrepublik mit der Sowjetzone und Berlin und mehr nicht. Damit können wir aber nicht einverstanden sein.
Wir haben diesem Sprachgebrauch — wenn ich „wir" sage, meine ich Vertriebenenabgeordnete, zu denen ich gehörte — schon im 1. Deutschen Bundestag unsere Aufmerksamkeit zugewendet. Auf unsere Initiative und mit weitgehender Teilnahme an der Formulierung hat der Deutsche Bundestag am 18. März 1953 eine Entschließung angenommen, in der es heißt:
Die Wiedervereinigung Deutschlands darf
nicht ihr Ende an der Oder-Neiße-Linie finden.
Darüber hinaus ist gesagt, daß auch die übrigen Vertriebenen, die nicht aus den Gebieten jenseits der Oder-Neiße kommen, also insbesondere auch die Sudetendeutschen das unbestreitbare Recht haben, ihre angestammte Heimat in Freiheit und in Frieden wieder zu bewohnen.
Meine Damen und Herren, ich muß leider feststellen, daß dieser Beschluß des Deutschen Bundestages auf die Sprachregelung der Öffentlichkeit keinen Einfluß gehabt hat. Es geht sogar so weit, daß der Begriff „Gesamtdeutschland" absolut in dem von mir gekennzeichneten engen Sinn verwendet wird. Wenn man von freien Wahlen in Gesamtdeutschland spricht, denkt man dann etwa an freie Wahlen in Pommern, Schlesien oder im Sudetenland? Nein, man denkt auch immer nur an die drei räumlichen Begriffe, die ich genannt habe. Ich muß es sehr beklagen, daß es trotz aller unserer Bemühungen nicht so gekommen ist, daß man unter Gesamtdeutschland auch uns er e Heimat, auch die deutschen Vertreibungsgebiete mit einschließt.
Ich habe schon im 1. Bundestag wiederholt Gelegenheit gehabt, zu erklären, daß wir Vertriebenen durchaus bereit und damit einverstanden sind, daß die Wiedervereinigung Deutschlands sich in Etappen vollzieht. Wir sind uns immer darüber klar gewesen, daß zuerst die Sowjetzone mit ihren 18 Millionen Menschen kommen muß. Wir haben aber auch nie einen Zweifel daran gelassen, daß wir nicht unsere Zustimmung dazu geben könnten, daß die Wiedervereinigung sich auf Kosten der deutschen Vertreibungsgebiete vollzieht.
Das kann uns nicht hindern, die Schwierigkeit aufzuzeigen, die sich bei jeder Verhandlung über die Wiedervereinigung insoweit ergeben wird. Wir müssen mit voller Sicherheit damit rechnen, daß an
uns, wenn es zu ernsthaften Verhandlungen über die Wiedervereinigung kommt, die Forderung gestellt wird: „Dann müßt ihr aber auch die Oder-Neiße-Linie anerkennen!" Ich möchte schon heute sagen — und ich glaube, daß darin wenigstens alle Vertriebenen einig sind —, daß wir dazu nicht bereit sein werden. Es kann aber, meine Damen und Herren, dieser Tatbestand nicht etwa zum Anlaß genommen werden, nun zu sagen: „Die ganze Sache ist aussichtslos, und wir packen sie erst gar nicht an." Das würde durchaus nicht in unserem Sinne liegen. Es gibt die Möglichkeit der Ausklammerung, und wir können bei den künftigen Verhandlungen diese Frage ausklammern und der Regelung des Friedensvertrages überlassen, genau so, wie das in London und in Paris der Fall gewesen ist. Damit würden nach meiner Meinung die Vertriebenen einverstanden sein.
Der Gesamtdeutsche Block stimmt den Verträgen mit Ausnahme des Saarstatuts zu. Er wird gerade diese Haltung zum Anlaß nehmen, von der Bundesregierung zu fordern, daß sie weit stärker als bisher die Frage der Wiedervereinigung vorantreibt.