Rede von
Louise
Schroeder
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Ich danke dem Herrn Arbeitsminister St o r c h für seine ausführliche Beantwortung unserer Anfrage. Ich will gern zugeben, daß manches, was er uns gesagt hat, auch uns beruhigen kann, wenn es wirklich so durchgeführt wird. Wir wären aber sehr viel befriedigter, wenn der Herr Wirtschaftsminister hier erschienen wäre — denn eigentlich ist die Anfrage auf Grund des Ausspruches, den er getan hat, an ihn gerichtet — und wenn er uns gesagt hätte, daß unsere Befürchtungen nicht zutreffen. Der Herr Arbeitsminister hatte bereits in seinem Interview vom 16. Dezember 1954 eine Berichtigung gegeben; aber nichts Gleiches haben wir vom Herrn Wirtschaftsminister gehört.
Nun möchte ich aber trotz der Ausführungen des Herrn Arbeitsministers doch noch einiges gerade über die Notstandsgebiete sagen, die wir in Deutschland haben und die gar nicht in der Lage sind, die große Zahl der Arbeitslosen zu verkraften, die aber vorläufig noch sehr wenig Hilfe von dem übrigen Teil der Bundesrepublik erhalten. Dabei denke ich — das werden Sie mir nicht übelnehmen — in erster Linie an Berlin. Ich denke aber auch an die Zonenrandgebiete.
Herr Arbeitsminister, es ist und bleibt mir unverständlich, warum in der Statistik über die Arbeitslosen, die Kurzarbeiter, die Angelernten, die jugendlichen Arbeitslosen Berlin immer noch nicht mit einbezogen wird.
Es wird immer von der Vollbeschäftigung in der Bundesrepublik gesprochen; ich lasse das bei einer Zahl von rund 1 Million Arbeitslosen sowieso dahingestellt. Aber wenn Sie sich einmal die Mühe machen, die Zahlen der Berliner Arbeitslosen hinzuzunehmen, dann ist überhaupt von einer knappen Million gar nicht mehr die Rede. Nicht nur hatten wir am 31. Januar 1955 — also, wie ich, gern zugeben will, nach Einbeziehung der saisonbedingten Arbeitslosen — 185 443 Arbeitslose in Berlin, wir hatten am 31. Dezember 1954 176 851 Arbeitslose, aber auch bereits am 30. November 1954 169 797 Arbeitslose. Berechnen Sie das in dieser geteilten Stadt auf eine Einwohnerschaft von 2,1 Millionen, dann ergibt sich eine Arbeitslosigkeit von 8,5 % der Bevölkerung, also ein außerordentlich hoher Prozentsatz.
Wenn Sie sich die Statistik ansehen, dann finden Sie, daß es dort, wo sich die Notlage der Zonenrandgebiete bemerkbar macht, ganz ähnlich ist. Ich erinnere an Bayern mit 239 467 Arbeitslosen, an Niedersachsen mit 194 485, an Schleswig-Holstein mit 94 567 Arbeitslosen. Da kann doch wirklich nicht davon die Rede sein, daß wir nicht innerhalb Deutschlands in der Lage wären, diese Arbeitslosen unterzubringen, wenn sie nur richtig gelenkt werden, gelenkt einmal in Berufe, aber auch in Gebiete, wo die Not an Arbeitskräften vorhanden ist, und wenn, wie es in einem Land mit Freizügigkeit sein sollte, für Wohnung, für die entsprechenden Löhne gesorgt und auch die Möglichkeit der Rückkehr in die Heimatgebiete gegeben wird. Ich bin überzeugt, Herr Arbeitsminister, wenn diese Bedingungen erfüllt werden, werden Sie morgen aus Berlin eine Zahl von Arbeitslosen für die anderen Gebiete bekommen können. Ich bin überzeugt, daß dasselbe auch bei den notleidenden Zonenrandgebieten der Fall ist.
Wenn nun — vielleicht ist meine Anklage hier nicht richtig; dann müßte ich Sie bitten, das der Bundesanstalt zu sagen — in der Statistik vom 30. November 1954 immer noch die Rede von 947 526 Arbeitslosen ist — die Zahl ist inzwischen gestiegen —, dann ist festzustellen, daß darin Berlin nicht enthalten ist, sondern es steht ganz schüchtern darunter: „Dazu kommt Berlin." Ich meine: West-Berlin gehört zur Bundesrepublik. West-Berlin hat eine Abteilung der allgemeinen Arbeitsverwaltung, und ich verstehe nicht, warum uns diese Statistik nicht genau wie für alle andern Länder der Bundesrepublik auch für West-Berlin gegeben wird.
Es ist ein schwacher Trost, Herr Minister, wenn Sie sagen: in Berlin ist die Arbeitslosigkeit gemildert. Wir wissen, daß wir mit ungeheuren Anstrengungen und mit Hilfe von ERP-Mitteln die Zahl der Arbeitslosen allerdings heruntergebracht haben, aber nach wie vor haben wir in Berlin die
langfristig Arbeitslosen, die, die seit Jahren in der Hoffnungslosigkeit der Arbeitslosigkeit leben. Ich bin überzeugt, daß man einen Teil dieser Arbeitslosen in der übrigen Bundesrepublik unterbringen könnte.
Ich darf bei dieser Gelegenheit auch mal ein Wort von den langfristig arbeitslosen Angestellten in Berlin sagen. Herr Minister, wenn wir durch Bonn gehen, dann sehen wir diese großen Mammutbauten der Ministerien, die hier aufgebaut werden. Man spricht zwar immer davon, die Regierung solle mal wieder nach Berlin kommen. Aber ich glaube, wer sich diese Bauten ansieht, der hat wenig Zutrauen dazu, daß das wirklich die Absicht der Regierung ist.
Aber davon ganz abgesehen, sehen Sie sich mal die Berufsstatistik an. Da sehen wir, daß in den kaufmännischen Berufen, in den Verwaltungs- und Büroberufen die große Zahl der Arbeitslosen vorhanden ist. Gerade die Zahl der arbeitslosen Verwaltungsangestellten ist nirgends so groß wie in Berlin, wo uns die Ministerien, wo uns die Parlamente, die wir bis 1945 hatten, heute fehlen. Ich möchte mal wissen und wäre für eine entsprechende Statistik dankbar, wieviele der geschulten und erfahrenen Beamten und Angestellten von Berlin hier in Bonn aufgenommen und beschäftigt worden sind. Wenn die Menschen in Berlin nicht vollkommen verzweifeln, dann doch nur deswegen, weil mit großen Opfern Notstandsarbeiten geschaffen worden sind, nicht nur für Arbeiter, sondern auch für Angestellte, daß sie wenigstens mal wieder ein halbes Jahr arbeiten und etwas verdienen können; aber dann kommt wieder die trübe Zeit. Sie wissen: wir müssen wieder ausscheiden, denn wir sind ja nicht Festangestellte, wir sind nicht in den Etat aufgenommene Angestellte. Herr Minister, hier ist noch so unendlich viel zu tun.
Mein Kollege Odenthal hat gesagt, und ich wiederhole es: wir sind bestimmt keine Gegner
ausländischer Arbeiter und Angestellten. Wir haben ja selber im Internationalen Arbeitsamt im Europarat immer wieder zum Ausdruck gebracht, daß Ländern mit großer Arbeitslosigkeit die Möglichkeit gegeben werden muß, Arbeiter in die Länder zu bringen, denen sie fehlen. Uns fehlen sie ja aber nicht.
Ich bin erfreut darüber, daß Sie erklärt haben, daß die Löhne für die italienischen Arbeiter natürlich nicht wieder so sein dürfen, wie es einmal der Fall gewesen ist. Wir haben ja auch hier Gesetze angenommen, die die soziale Sicherheit von Fremdarbeitern oder Maßnahmen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit betreffen. Das entspricht absolut unserer Meinung. Demgegenüber ist es aber ein Unterschied, ob man, wie es der Herr Wirtschaftsminister offenbar beabsichtigt, Arbeitslose hereinholen will, ich möchte sagen und bitte, mir das Wort zu entschuldigen: aus Bequemlichkeit, um sich nicht die Mühe mit den deutschen Arbeitslosen zu machen, um nicht die Mühe der Umschulung, der ausreichenden Schulung von jungen Schulentlassenen zu haben, die ganze Mühe, die es bedeutet, die Arbeitslosen von einem Teil Deutschlands nach dem anderen zu bringen.
Ich sage noch einmal: das ist nirgends so notwendig wie in den Zonenrandgebieten und in Berlin. Wir sind noch weit von einer Vollbeschäftigung entfernt. Der Herr Minister selbst hat in seinem Interview auf die Heimatvertriebenen hingewiesen, die aus den Lagern herausgebracht werden müssen. Ich weise aber auch auf die Sowjetzonenflüchtlinge hin, und zwar auf die anerkannten und die nicht anerkannten. Die nicht anerkannten sind diejenigen, die in unsern Lägern in Berlin dahinvegetieren, die keine Hoffnung haben, in ihren Beruf zu kommen, die durch Schwarzarbeit — sie können ja gar nicht anders — irgendwie etwas verdienen müssen und damit auf den Kreis der asozialen Schichten herabsinken. Das können wir nicht verantworten. Ich weise auch auf die Jugendlichen hin. Ich möchte den Herrn Minister bitten, anschließend an das, was Herr Odenthal schon gesagt hat, alles zu tun, um innerhalb Deutschlands diesen Ausgleich zu schaffen. Dann werden wir, fürchte ich, wahrscheinlich noch lange keine ausländischen Arbeitslosen nötig haben.
Da der Herr Wirtschaftsminister heute hier nicht anwesend ist und diese Anfrage nicht beantwortet, wäre ich auch dankbar, wenn der Herr Arbeitsminister dem Herrn Wirtschaftsminister im Kabinett sagte, daß wir es sehr bedauern, daß er nicht hier war, und daß wir seine Antwort unbedingt noch benötigen.