Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Große Anfrage, die ich zu beantworten habe, bezieht sich auf ein Problem, das im Vordergrund der Aufmerksamkeit der Bundesregierung seit ihrem Bestehen gestanden hat. Die Bundesregierung und die Vertreter der Bundesrepublik im Ausland haben sich in einer kaum mehr übersehbaren Zahl von Besprechungen und Vorstellungen für die Heimkehr der Gefangenen eingesetzt und werden das mit derselben Unermüdlichkeit auch in Zukunft tun, wobei das Gebot diplomatischer Diskretion aus Gründen, die keiner Erläuterung bedürfen, für diese Gespräche im besonderen Maße gilt.
Die erste Frage, die in der Großen Anfrage gestellt ist, lautet:
Wieviel Kriegsverurteilte befinden sich noch
in fremdem Gewahrsam im In- und Auslande?
Ich antworte: Wenn ich von den Ostblockstaaten absehe, so beträgt die Zahl der deutschen Gefangenen in ausländischer Haft heute noch 315.
Am 1. April 1950 hat die Zahl dieser Gefangenen 3657 betragen. Es sind also in den letzten fünf Jahren mehr als neun Zehntel der Gefangenen freigelassen worden. Zur besonderen Genugtuung der Bundesregierung sind in dieser Zeit aus fünf Ländern alle deutschen Gefangenen heimgekehrt. Von den übrigbleibenden 315 Gefangenen sind 158 in den drei Haftanstalten Landsberg, Werl und Wittlich sowie in Spandau, die übrigen 157 im Auslande.
Zur zweiten Frage darf ich sagen: Wie bekannt ist, konnte im Jahre 1953 die Zustimmung der Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika, des Vereinigten Königreichs und der Französischen Republik dazu erwirkt werden, daß für die Angelegenheiten der in der Bundesrepublik inhaftierten Kriegsverurteilten drei Gemischte Ausschüsse unter deutscher Beteiligung gebildet wurden. Ihre Aufgabe ist es, nach Prüfung der Einzelfälle Empfehlungen für vorzeitige Freilassung dieser Gefangenen abzugeben. Da die Errichtung dieser drei Ausschüsse im Zusammenhang steht mit der Beendigung des Besatzungsstatuts, beschränkt sich ihre Zuständigkeit, wie erwähnt, auf die Kriegsverurteilten in der Bundesrepublik. Bei der Errichtung dieser Ausschüsse befanden sich in den drei Haftanstalten in der Bundesrepublik, die ich genannt habe, noch 443 Gefangene. Ihre Zahl ist bis heute auf 152 zurückgegangen. Somit sind seit Ende 1953 annähernd 300 Gefangene, und zwar fast alle auf Empfehlungen der Ausschüsse, aus der Haft entlassen worden.
Im einzelnen sind in diesem Zeitraum die folgenden Haftentlassungen zu verzeichnen: aus amerikanischem Gewahrsam in Landsberg 206, und zwar mit wenigen Ausnahmen in Anwendung des sogenannten Parole-Verfahrens, aus britischem Gewahrsam in Werl 46, aus französischem Gewahrsam in Wittlich 39. Damit hat sich die Zahl der Gefangenen ermäßigt in Landsberg auf 84, in Werl auf 33, in Wittlich auf 35. Da die Ausschüsse ihre Tätigkeit fortsetzen, erwarten wir weitere Freilassungen.
In Punkt 3 der Großen Anfrage wird Auskunft darüber gewünscht, ob die Bundesregierung Zusicherungen in der Frage der Entlassung der Kriegsverurteilten erhalten hat. Ich habe schon auf
1 die zahllosen Bemühungen der Bundesregierung hingewiesen, die zugunsten der Gefangenen unternommen worden sind oder noch laufen. Diese Bemühungen tragen zum großen Teil generellen Charakter, aber es werden auch zugunsten einzelner Gefangener vielfache Anstrengungen unternommen. Ich darf darauf hinweisen, daß der Herr Bundeskanzler Gelegenheit gehabt hat, über die deutschen Gefangenen in französischem Gewahrsam zuletzt noch bei dem Zusammentreffen in Baden-Baden mit dem damaligen französischen Ministerpräsidenten am 14. Januar zu sprechen.
Diese vielfältigen Vorstellungen der Bundesregierung haben viel Verständnis gefunden. Die Freilassungen, für die ich die Zahlen genannt habe, bestätigen das. Wir dürfen andererseits nicht außer acht lassen, daß die Regierungen, mit denen wir in diesen Fragen in einem ständigen Kontakt stehen, auch mit der öffentlichen Meinung ihrer Länder zu rechnen haben, und diese Tatsache sollte bei der Gesamtwürdigung des Problems nicht übersehen werden. Dennoch ist der Bundesregierung von verschiedenen beteiligten Staaten eine großzügige Anwendung der Möglichkeiten in Aussicht gestellt worden, die nach der Rechtsordnung dieser Staaten für eine baldige Freilassung der Gefangenen gegeben sind.
In Anbetracht der bevorstehenden zehnten Wiederkehr des Jahrestages des Waffenstillstands glaube ich auch diesen Anlaß benutzen zu sollen, um noch einmal an die Gewahrsamsmächte zu appellieren,
nicht ohne gleichzeitig für das bisher gezeigte Verständnis und die Bereitschaft, auf vielfältige Wünsche und Anregungen der Bundesregierung einzugehen, ausdrücklich zu danken. Es ist eine Bitte, die ich ausspreche, eine Bitte, die sich gründet auf Erwägungen des Rechts — es gibt kein Recht ohne Gnade —, auf menschliche Gründe, aber auch auf politische: wenn wir den Frieden der Welt, und das heißt die Einheit der Welt, sichern wollen, müssen die Völker die Kraft aufbringen, zu vergessen
oder wenigstens zu vergeben.
An vierter Stelle wird gefragt, ob die Bundesregierung bereit sei, bei den Gewahrsamsstaaten darauf hinzuwirken, daß die im Ausland immer noch inhaftierten Deutschen der deutschen Hoheitsgewalt und Verantwortlichkeit überstellt werden, unter Gewährleistung eines abschließenden Verfahrens, das Recht und Gerechtigkeit im Sinne der Fortenwicklung eines humanen Kriegsrechts wahrt. Die Bundesregierung hat in jedem Stadium der Entwicklung dieser Frage selbstverständlich alle Möglichkeiten eingehend geprüft, die eine weitere Beschleunigung der Lösung des Problems versprechen.
Dazu gehört auch die Erwägung, ob es möglich ist und ob es erreichbar ist, die noch in westlichem Gewahrsam festgehaltenen deutschen Gefangenen in die deutsche Rechtshoheit zu überführen. Ich will jetzt nicht abschließend zu dieser Frage Stellung nehmen, darf aber darauf aufmerksam machen, daß abgesehen von den Hindernissen, die die Gesetze der Gewahrsamsländer bieten, die Notwendigkeit, eine derartige Zahl von Verfahren unter den jetzt
gegebenen Voraussetzungen durchzuführen, die deutschen Justizbehörden vor vielleicht kaum lösbare Schwierigkeiten stellen würde. Dies würde unter Umständen auch die erneute Aufrollung dieser Tatbestände durch die deutsche Justiz, mitunter jahrelange Erhebungen erfordern. Infolgedessen bitte ich, mich auf die Bemerkung beschränken zu dürfen: Ob und in welchem Umfang sich in der Folge die Möglichkeit bieten wird, der in diesem Punkte der Anfrage enthaltenen Anregung praktisch nachzugehen, wird die weitere Entwicklung zeigen.
In Ziffer 5 der Anfrage wird das Problem einer sogenannten Generalamnestie angesprochen. Ich muß in diesem Zusammenhang doch darauf hinweisen, daß die heutige Situation, soweit sie für das Kriegsverbrecherproblem von Bedeutung ist, nicht mit der Lage im Jahre 1924 verglichen werden kann, in dem nach dem ersten Weltkrieg ein Verzicht auf die weitere Verfolgung derartiger Fälle ausgesprochen wurde. Ich sagte schon, daß wir nicht an der psychologischen Situation in den uns benachbarten Ländern vorbeisehen können, und auch wir selbst haben noch an dem Erbe erschreckender Taten zu tragen, die uns allen bekannt sind. Deshalb ist die Forderung einer Generalamnestie unrealistisch. Ich fürchte, daß das Vorbringen dieser Forderung die weitere Lösung der uns hier beschäftigenden Frage eher erschweren als fördern würde. Vielleicht wäre es auch psychologisch nicht richtig, mehr zu verlangen, als die deutsche Gesetzgebung selbst zu gewähren für richtig befunden hat. Dem Verlangen einer Generalamnestie könnte entgegengehalten werden, daß auch der deutsche Gesetzgeber in § 6 des Straffreiheitsgesetzes vom 17. Juli 1954 eine generelle Amnestie für derartige Fälle nicht beschlossen hat.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte zum Schluß dieser Antwort zwei Bemerkungen anfügen zu dürfen. Einmal: Ebenso, wie wir uns vor den Opfern geschehenen Unrechts neigen, sind wir uns des schweren Leides der Angehörigen der Gefangenen bewußt, die ihr Geschick, wie eine große Anzahl von Beispielen zeigt, mit einer Standhaftigkeit tragen, die Achtung und menschliche Teilnahme verlangen. Nicht zuletzt das Schicksal dieser Angehörigen ist es, das die Bundesregierung immer wieder zu den erwähnten Anstrengungen veranlaßt.
Vor allem aber bewegt es mich, derjenigen in diesem Augenblick zu gedenken, die noch in der Sowjetunion und in den anderen Ostblockstaaten zurückgehalten werden.
Wir wollen nicht vergessen, daß das eigentliche Gefangenenproblem — schon rein zahlenmäßig — in der widerrechtlichen Zurückhaltung dieser Deutschen liegt, die unter nichtigen Vorwänden ihrer Freiheit beraubt werden. Deshalb möchte ich diese Gelegenheit auch benutzen, um erneut den Vereinten Nationen und allen denen zu danken, die unserer tiefen Sorge um das Los dieser Gefangenen seit langem so großes Verständnis entgegenbringen.