Ist die Frage erledigt?
Ich danke, Herr Staatssekretär.
Damit sind die Fragen erledigt, die von der letzten Fragestunde übriggeblieben sind. Wir können nunmehr beginnen, die für heute vorgesehene Tagesordnung zu erledigen.
Ich rufe auf Punkt 1:
Große Anfrage der Fraktionen der DP, GB/BHE betreffend Deutsche Kriegsverurteilte in fremdem Gewahrsam .
Der Ältestenrat schlägt Ihnen für die Begründung eine Zeit von 20 Minuten vor. Das Wort zur Begründung der Großen Anfrage hat Frau Abgeordnete Gräfin von Finckenstein.
Frau Gräfin Finckenstein , Anfragende: Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Die Zahl der Deutschen, mit denen sich unsere Große Anfrage Drucksache 979 beschäftigt, ist klein. Sie liegt bei 300. Aber die Tatsache, daß 10 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg noch immer deutsche Kriegsverurteilte im Gewahrsam der westlichen Alliierten sind, wiegt schwer. Sie wiegt so schwer und sie wird in so weiten Teilen des deutschen Volkes als eine unerträgliche Belastung empfunden, daß wir glauben, sie hier im Bundestag zur Sprache bringen zu sollen. Denn wie ist es möglich, junge Menschen zu der notwendigen Verteidigung unseres Kontinents gemeinsam mit unseren westlichen Nachbarvölkern aufzurufen, solange deutsche Soldaten noch als Verurteilte oder als Angeklagte in den Gefängnissen eben dieser Nachbarvölker sitzen?
Das Problem der Kriegsverurteilten — das Wort „Kriegsverbrecher" ist aus dem deutschen Sprachgebrauch der letzten Jahre gottlob fast ganz verschwunden - muß behutsam angefaßt werden. Wir wissen, daß die Reaktion im Ausland auf diese Frage zwiespältig, wenn nicht sogar immer noch negativ ist. Wir müssen befürchten, daß deutsche Forderungen im Ausland mißverstanden werden können und die Freilassung und Begnadigung der Kriegsverurteilten dadurch eher verzögert als beschleunigt werden könnte. Wir wissen, daß jeder neue Prozeß wie jede neue Freilassung immer wieder akuten Anlaß zu Pressekampagnen mit Deutschland abträglichem Charakter gegeben haben, wobei wir nicht zu entscheiden vermögen, ob es sich um eine echte Gefühlsaufwallung des betreffenden Volkes handelt oder um eine gesteuerte Bewegung. Aber gerade weil wir dies alles wissen und berücksichtigen, wünschen wir die Beendigung dieses unseligen Kapitels, das als eine schwere Hypothek auf unserem Verhältnis zu unseren westlichen Nachbarn lastet, so sehnlich herbei!
Wenn ein leidiges Kapitel liquidiert werden soll, tut es nicht gut, die Frage von Schuld oder Unschuld, Recht oder Unrecht, Verstrickung, Verhängnis, Zwang oder Schicksal aufzuwerfen oder in der unsäglichen Bitternis der Prozesse vor den Gerichten der Siegermächte herumzuwühlen. Nach deutscher Ansicht ist der weitaus größte Teil der Kriegsverurteilten nicht schuldig und wäre in einem ordentlichen Verfahren vor deutschen Gerichten nicht verurteilt worden. Es sei zum Vergleich an die Zeit nach dem ersten Weltkrieg erinnert, als z. B. von Frankreich die Auslieferung von 1800 auch damals als Kriegsverbrecher bezeichneten Deutschen verlangt wurde, aber verweigert werden konnte. In den daraufhin von deutscher Seite durchgeführten Prozessen sind in nur sechs von diesen 1800 Fällen Verurteilungen ausgesprochen worden.
Die wenigen unter den Kriegsverurteilten, die auch nach unserer Ansicht schuldig wären, haben immerhin alle schon 10 Jahre, manche 12 und 14 Jahre Gefängnisstrafe verbüßt, zum Teil in 52 verschiedenen Strafanstalten oder Unterkünften eines fremden Landes. Sollten wir nicht auch sie in die Beendigung dieses ganzen Komplexes einbeziehen dürfen, des Komplexes, der einer freundschaftlichen Annäherung an unsere Nachbarn im Westen immer wieder entgegenwirken muß?
Die fünf Punkte unserer gemeinsam mit der DP eingebrachten Großen Anfrage dienen alle dem gleichen Streben: Schluß, endlich Schluß mit diesen unglückseligen Verfahren, mit diesem giftigen Erbe des letzten Krieges, das beiden, Richtern und Gerichteten, keinen Segen bringt! Schickt sie doch endlich nach Hause! Unsere Anfrage gipfelt in der Bitte, durch eine Generalamnestie für alle Kriegsverurteilten oder der Kriegsverbrechen noch Angeklagten endlich tabula rasa, endlich reinen Tisch zu machen, damit die früheren Kriegsgegner sich zusammenfinden und sich ohne bitterste Vorbehalte in den Ring der gemeinsamen Verteidigung einordnen können.
Zehn Jahre sind eine lange Zeit und haben in allen Ländern ein geändertes Klima geschaffen. In den jüngsten Kriegen von Korea und Indochina haben viele alliierte Soldaten Handlungen vollziehen müssen, die denjenigen Taten vergleichbar sind, um derentwillen deutsche Soldaten noch heute als Verurteilte oder noch als Angeklagte in alliierten Gefängnissen sitzen. Die moderne Kriegführung hat eben mörderische Eigengesetze entwickelt, denen der einzelne Soldat nicht gewachsen ist, der alliierte Soldat nicht und der deutsche Soldat nicht.
Die meisten deutschen Kriegsverurteilten, für die wir heute sprechen und an die wir heute denken, leben in französischen Gefängnissen, der größte Teil in Loos les Lille, in Paris, in Metz und Lyon. Die Kriegsverurteilten in Holland, Belgien, Luxemburg und der eine in Italien und auch die Insassen der alliierten Strafanstalten auf deut-
schem Boden, in Werl, Wittlich und Landsberg, sind geringer an Zahl. Deshalb liegt der Schlüssel zu einer Bereinigung des ganzen Problems gewissermaßen auf der gleichen Linie, die auch für das Werden Europas immer die entscheidende Wirkung haben wird, auf der Linie der deutsch-französischen Annäherung und Verständigung. Wir wissen aus der Geschichte, daß Frankreich nach dem Friedensschluß 1872 die ausnahmslose Rückkehr aller Gefangenen, sogar der kriminellen, durch seinen ersten Botschafter fordern ließ, als dieser zehn Monate nach Beendigung des Krieges seinen Antrittsbesuch machte, und daß sie sämtlich entlassen worden sind.
Wir würdigen die enormen Schwierigkeiten, die den Bemühungen der deutschen Regierung um die Kriegsverurteilten nach dem zweiten Weltkrieg entgegengestanden haben, als es galt, wieder um Vertrauen für Deutschland in der Welt zu werben. Wir haben mit dankbarer Freude festgestellt, daß als Erfolg der Baden-Badener deutschfranzösischen Gespräche in diesem Januar 1955 21 Kriegsverurteilte aus französischen Anstalten entlassen worden sind. Wir möchten der Bundesregierung nahelegen, auf dem beschrittenen Wege fortzufahren und auf allen sich bietenden Wegen und bei allen amtlichen und halbamtlichen Gelegenheiten, bei jedem erdenklichen Anlaß und durch öffentliche sowie durch private persönliche Einwirkung dafür einzutreten, daß das Thema „Kriegsverurteilte" aus dem Bewußtsein unserer beiden Völker verschwinden kann. Wenn erst einmal alle in französischen Gefängnissen inhaftierten Deutschen entlassen sein werden, dann wird die Begnadigung bzw. Entlassung auch in den anderen alliierten Ländern auf geringere Schwierigkeiten stoßen.
Wir erlauben uns zu der französischen Situation deshalb die praktische Anregung: Ein sehr großer Teil der Verurteilten ist zu 20 Jahren Kerker verurteilt gewesen und hat die Hälfte, zehn Jahre, bereits verbüßt. Nach geltendem französischem Recht kann der Häftling in diesem Fall den Antrag auf bedingte Freilassung stellen. Die gestellten Anträge wurden bisher in der Regel nach neun Monaten abschlägig beschieden. Danach mußten weitere sechs Monate vergehen, bis ein erneuter Antrag gestellt werden konnte, dem meistens stattgegeben worden ist. Wenn hier die Bitte ausgesprochen werden kann, das Tempo der turnusmäßigen Erledigung der Anträge zu beschleunigen bzw. bereits dem ersten Antrag stattzugeben, so würden wir damit gar nicht in Berührung mit dem eigentlichen Rechtsverfahren geraten, das von solcher Bitte nicht angetastet würde. Es würde aber damit erreicht werden, daß über 50 Kriegsverurteilte bald nach Hause kämen, endlich, nach mehr als zehn Jahren zu ihren Familien, die auf sie warten, und es wäre der verheißungsvolle Auftakt gegeben, die Last der Vergangenheit fortzuräumen, die auf den Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich ruht. Um diese deutsch-französische Annäherung aber ringen wir in diesem Hause doch alle gemeinsam in gemeinsamer Inbrunst, weil sie für das Werden Europas der unersetzliche Baustein bleibt.