Rede von
Dr.
Ernst-Christoph
Brühler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DP)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der Deutschen Partei auf Schaffung eines Bundesunterrichtsministeriums hat nicht nur im Bundestag, sondern auch in der deutschen Öffentlichkeit einiges Aufsehen erregt. Man hat erklärt, damit sei etwas Bemerkenswertes geschehen, eines der heißesten innerpolitischen Eisen der Bundesrepublik sei angefaßt worden. Noch auffälliger aber sei, daß dieser Antrag von einer Partei komme, die noch föderalistischer sei als die Unionsparteien. Das aber, meine Damen und Herren, ist kurzschlüssiges Denken. Die DP ist eine echt föderalistische Partei, d. h. sie bejaht das, was in jahrhundertelanger Entwicklung geworden ist, und wünscht, daß es organisch weitergebildet wird.
Was aber, vor allem seit 1945, im deutschen Schulwesen geschehen ist — und zwar in allen Sparten, von der Volksschule bis zur Hochschule —, ist nicht föderalistisch, sondern partikularistisch.
Es legt echtem Föderalismus förmlich die Axt an
die Wurzel. Föderalismus und, Partikularismus verhalten sich zueinander etwa wie echtes Soldatentum und geisttötender Militarismus, oder wie echte Sparsamkeit zu schnödem Geiz. Gerade da wir den echten, den berechtigten Föderalismus wünschen und brauchen, gerade darum haben wir diesen Antrag eingebracht.
Unsere neun Kultusminister sagen uns zwar immer wieder, gegen ein bundeseinheitliches Schulsystem sprächen so viele Argumente, daß mit einer Klärung dieser Frage überhaupt nicht gerechnet werden könne; der föderalistische Aufbau unseres Schulwesens müsse unbedingt gewahrt werden. Sie glauben wohl auch echte Föderalisten zu sein, aber sie tragen — vielleicht ohne es zu wollen oder ohne es zu wissen — lediglich eine föderalistische Kulisse vor sich her, hinter der ,der Partikularismus in zerstörerischer Weise schaltet und waltet. Das zu beweisen, ist nicht schwer und soll im folgenden geschehen.
Und einen zweiten Irrtum habe ich auszumerzen. Wir beantragen nicht einen Bundeskultusminister, wie meist gesagt und geschrieben wird, sondern einen Bundesunterrichtsminister, einen Mann, der von Bonn aus Grundsatzentscheidungen zu treffen hat. Alle nicht Schule und Erziehung betreffenden kulturellen Angelegenheiten sollen den Länderministern verbleiben. Wir wissen sehr wohl, daß die kulturellen Dinge sich in sehr verschiedener Weise und in schönster Mannigfaltigkeit in unserem Vaterlande entwickelt haben, daß hier ein großer Reichtum unseres Lebens liegt und daß darum ein Zentralismus verfehlt wäre. Der Friese ist anders geprägt als der Oberbayer, der Niedersachse anders als der Alemanne. Hier ist Kulturautonomie nicht nur berechtigt, sondern geradezu notwendig.
Aber nun kommt die Kardinalfrage: ist sie es auch in der Schule, sollen hier nicht in erster Linie Deutsche erzogen werden? Arbeiten unsere Schulverwaltungen tatsächlich so eng zusammen, daß wenigstens wie einstens im Bismarckreich bei aller Vielfalt eine geistige Linie vorhanden ist?
Der ehemalige Kultusminister von Rheinland-Pfalz, Professor Süsterhenn, hat am 11. März dieses Jahres hier in Bonn eine Rede gehalten, die er überschrieb: „Hat sich der Föderalismus bei uns überlebt?" Es war eine sehr bemerkenswerte Rede, und Süsterhenn hat zweifellos viel Richtiges zugunsten eines echten Föderalismus gesagt. U. a. hat er auch folgendes ausgeführt:
„Wenn der Föderalismus versagt, dann ergibt sich automatisch die Befugnis der übergeordneten Einheit, dafür zu sorgen, daß das Gesamtwohl gewahrt bleibt."
Eine ausgezeichnete Bemerkung, und absolut anzuwenden auf unsere Schulverhältnisse; denn hier hat der überspitzte und seit Jahren ins Partikularistische entartete Föderalismus auf der ganzen Linie versagt. Sobald klargeworden ist, daß die Länder bestimmte Aufgaben aus eigener Kraft nicht befriedigend lösen können, müssen sie auch nach echt föderalistischer Auffassung diese Dinge dem Bunde zur Erledigung überlassen. Das ist leider bei uns bisher nicht geschehen, obwohl es eine Fülle von Fragen gibt, die die Länder nicht zu meistern verstanden.
Das Versagen auf dem Gebiet der Schule hat Süsterhenn im Kern nicht erkannt, zum mindesten hat er es zu bagatellisieren versucht, ohne zu merken, in welche Widersprüche er sich dabei verfing.
Er hält einen Bundeskultus- und wohl auch einen Bundesunterrichtsminister nicht für nötig und den Ruf nach ihm für falsch. Es ist nun aber höchst bemerkenswert, was er im einzelnen dazu ausführt. Er meint, die Forderungen der Ministerpräsidentenkonferenz vom 5. Februar dieses Jahres hätten
— ich zitiere ihn jetzt wörtlich — „sozusagen den Kultusministern etwas Dampf gemacht ..., endlich gewisse Vereinheitlichungsmaßnahmen auf dem Gebiet des Schulwesens zu treffen". Dann aber fährt er fort, und ich bitte Sie, auf jedes Wort zu achten: Man habe „dieses Schulchaos und diese Schulzersplitterung . . . weitgehend dramatisiert". Und wie begründet er das? Er sagt, man habe in Bonn in wenigen Wochen eine Bundeshauptstadt aus dem Boden gestampft, und „die unglücklichen Bonner Bundeskinder" — ich zitiere wiederum wörtlich und bitte wiederum, die einzelnen Worte zu beachten — seien nun aus den verschiedensten Besatzungszonen und Ländern gekommen und hätten auf einmal die Feststellung von der Zersplitterung des deutschen Schulwesens treffen müssen. Und weil nun einmal — so fährt Süsterhenn wörtlich fort — Abgeordnete, Journalisten, die Vertreter der hohen Ministerialbürokratie alles Persönlichkeiten mit einem weitreichenden Einfluß, mit einer erheblichen publicity seien, seien diese Dinge dann auch in Presse und Rundfunk hineingekommen und dort viel stärker dramatisiert worden, als sie sachlich berechtigt gewesen seien. Und schließlich schloß Dr. Süsterhenn mit den fast beschwörenden Worten:
Aber ... lassen wir doch wegen solcher Einzelheiten und Kleinigkeiten
— vorher sprach er von „Schulchaos" und „ Schulzerplitterung" —
nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und nicht am Föderalismus irre werden.
Nun, alle diese Worte Süsterhenns über die Schule wurden von einem Teil der Versammlung nicht ohne 'deutlichen Widerspruch hingenommen. Leider kam es zu keiner Diskussion; sonst wäre Herrn Süsterhenn schon damals in aller Deutlichkeit gesagt worden, daß es nicht nur „unglückliche Bonner Bundeskinder" gibt, wie er meinte, sondern unglückliche Bundeskinder überhaupt
und daß in Bonn nur etwas in grellstes und konzentriertestes Tageslicht trat, was im ganzen Bundesgebiet den Kindern die Schule seit Jahren vergällt, was in der deutschen Presse seit Jahren immer und immer wieder, und zwar in immer deutlicherer Weise, vor allem in den letzten Monaten. behandelt wird. Um nur einige Schlagzeilen und Überschriften herauszustellen, die diese Einstellung charakterisieren: „Die Eltern haben Schulsorgen" — sere Kinder schweben in einer großen Gefahr" —„Neun Jahre sind vergangen, an den Schulen aber ging das ,Deutsche Wunder' vorbei" — „Unsere Kinder sind die Opfer der jeweiligen Reformsucht" — „Außenseiter experimentieren mit dem kostbarsten Gut des Volks, seiner Jugend" — „Die Situation der Schule im Bundesgebiet droht zu einem öffentlichen Ärgernis zu werden" — „Die Eltern haben das Vertrauen verloren" — ,.Schulraumnot ist Mord an Leib und Seele der Kinder"
— „Jahrelange Mißachtung des Volksprotestes gegen den Schulwirrwarr" — „Rettet unsere Kinder!"
Hier darf wahrhaftig nicht mehr bagatellisiert werden. Auch der hessische Kultusminister Hennig hat sich in einem Interview am 22. Juli dieses Jahres zu unserem Thema geäußert. Nur fütterte er, wie einst der kluge Schäfer in dem Bürgerschen Gedicht „Der Kaiser und der Abt", die Pferde mit Wenn und mit Aber. Er meinte, die Ständige Konferenz der Kultusminister — eigentlich ist es ja nur eine periodische Konferenz — sei ein gangbarer Weg, und wenn die deutschen Länder ihre Verpflichtungen gegenüber der deutschen Kultur — gemeint ist hier vor allem die deutsche Schule — erfüllten -wenn! —, so erübrige sich ein Bundeskultusminister. Man kann immer nur sagen: wenn, ja wenn! Er sagte weiter, es sei dieser Ständigen Konferenz der Kultusminister gelungen, die Gefahr einer Aufsplitterung auf kulturellem Gebiet zu verhindern. Ja, warum sprach dann kurz vorher Herr Süsterhenn von Schulchaos und Schulzersplitterung? Hennig erklärte weiter, natürlich müsse jetzt ein gesunder Mittelweg zwischen Zentralismus und Eigenbrötelei gefunden werden. Er spricht also -und spottet seiner selbst und weiß nicht, wie — von Eigenbrötelei. Das Fremdwort für Eigenbrötelei aber heißt Partikularismus. Und fast, möchte man sagen, wider seinen Willen, macht Minister Hennig uns noch weitere Zugeständnisse. Er sagte: „Inzwischen bahnt sich eine einheitliche Regelung langsam an." Wir hören hier vor allem das Wort „langsam" und betonen demgegenüber: es ist allerhöchste Zeit, es muß schnellstens gehandelt werden.
Es ist noch mehr auf das Hennigsche Interview zu erwidern. Wesentliche Unterschiede bestehen nach Hennig noch hinsichtlich des Schuljahrbeginns und der Grundschuljahre. Hier sind, so sagte der hessische Kultusminister wörtlich, die Kultusminister von einer befriedigenden Lösung noch weit entfernt. Wir fragen: Und wie ist es — was unendlich viel wichtiger ist als Schulbeginn und Grundschuljahre — mit den Lehrplänen,
den Prüfungsordnungen, den Büchern, der Ausbildung der Volksschullehrer, der Schulraumnot und mit vielen anderen wesentlichen Dingen? Warum geht die Konferenz hier nicht ans Werk?
Die Antwort heißt: aus übertriebenem Partikularismus, der leider das Denken fast aller Landesregierungen weithin beherrscht und der ein Erbübel der Deutschen ist.
Nicht gerade tröstlich ist die Aussage Hennigs, bisher hätten die Kultusminister vor ihren Finanzministerkollegen kapituliert. Das erleben wir ja nun schon seit vielen Jahren. Bei der Frage der Schulraumnot und bei den Hochschulfragen werde ich darauf noch zurückkommen. Auch Minister Hennig schließt mit einem gewissen müden Trost, mit einem mahnenden Appell an die Ständige Konferenz der Kultusminister: „Nur eine wirkungsvoll und einsichtig arbeitende Konferenz kann die Eigenständigkeit der Länder auf kulturellem Gebiet auf die Dauer sicherstellen." Er verlangt also wirkungsvolle und einsichtige Arbeit.
Meine Damen und Herren, wir wollen die Ständige Konferenz der Kultusminister wahrhaftig nicht angreifen. Das liegt uns fern. Wir wissen, daß sie sich bemüht hat. Aber sie hat nur beratende Kompetenzen. Wir wissen auch, was die Alliierten
1945 und 1946 wollten, lange ehe es die Ständige Konferenz der Kultusminister gab. Sie wollten uns in re-education oder ré-éducation, wie es im Süden hieß, nehmen — ein ganz unsinniges Beginnen! Wir machen aber Vorwürfe den damals amtierenden Kultusministern, oder doch vielen von ihnen, die oft allzu willfährig auf alliierte Befehle eingegangen sind, obwohl sie es doch besser wissen mußten, und die damit den Grund gelegt haben für das fast ausweglose Chaos, in dem sich heute unser Schulwesen befindet.
Hier muß nun endlich eine reformatio in capite et in membris, eine echte Reform geschehen, eine gesamtdeutsche Reform, die nur von einer Stelle aus geleitet werden kann.
Meine Damen und Herren, hören wir doch einmal wirklich und ernsthaft in die deutschen Elternhäuser hinein! Hören wir doch endlich einmal auf die Presse aller, aber auch aller Schattierungen und seien wir uns endlich und wahrhaft bewußt, daß unser Schulwesen in einer lebensgefährdenden Gefahr schwebt! Und wenn der Düsseldorfer „Fortschritt" vielleicht etwas zu stark ins Zeug geht, im Grunde trifft er doch den Nagel auf den Kopf, wenn er am 8. Juli dieses Jahres schreibt:
Die Erfüllung auch nur der simpelsten Vereinheitlichungswünsche der westdeutschen Eltern löst eine Psychose bei den Kultusministern aus. Sie haben das Gefühl, daß an dem Ast, auf dem sie sitzen, gesägt wird, und die schlimmste Vision, die an ihren Nerven zerrt, zeigt ihnen statt ihrer neun einen einzigen verantwortlichen Schulmann mit dem Sitz in Bonn, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einer der wenigen neuen Minister werden könnte, gegen dessen Berufung überhaupt kein Einspruch erfolgen würde.
Ach, meine Damen und Herren, dieser Minister würde mit Jubel begrüßt werden, und zwar in allen Teilen Deutschlands.
Aber es gehört zum Deutschen, daß stets Sonderdasein und Eigenwille überwiegen, und so ist Verwirrung, Zersplitterung, Chaos das Ergebnis dieses Kulturpartikularismus.
Das offizielle Bulletin vom 10. Juli dieses Jahres ist etwas vorsichtiger als Hennig. Es stellt fest, daß wir „heute keine einheitliche deutsche Schule" haben. Ich zitiere wiederum wörtlich:
Verschiedene Bildungs- und Erziehungsziele, verschiedene Prüfungsbestimmungen, verschiedene Sprachenfolgen, verschiedene Schul-und Klassenbezeichnungen, verschiedene Formen der Lehrerausbildung, verschiedene Besoldungsordnungen, Länder mit und ohne Schulgeldfreiheit usw. vervollständig en das Bild einer großen Vielfalt oder, wie manche es übertrieben nennen, des deutschen „Schulchaos".
Und ganz im Gegensatz zur Feststellung am Anfang heißt es dann plötzlich:
Das Schulwesen der Bundesrepublik ist gekennzeichnet durch Vielfalt und Einheit zugleich.
Wenn wir „keine einheitliche deutsche Schule" haben, wie es vorher hieß, kann sie doch nicht „durch Vielfalt und Einheit zugleich" gekennzeichnet sein!
Meine Damen und Herren, ich habe mir erlaubt, Ihnen das alles in absoluter Objektivität vorzutragen. Sieht man doch daraus, wie sogar offizielle Zeitungen zwar den ganzen Wirrwarr unseres Schulwesens fast wider Willen zugeben müssen, weil er gar nicht mehr geleugnet werden kann, wie sie aber gleichzeitig versuchen, einiges zu retten. Sie verwickeln sich dann in Widersprüche und stellen Dinge fest, die sich nie und nimmermehr vertragen. Im Grunde arbeiten sie darum auch für diejenigen, die dem Wirrwarr ,ein Ende machen wollen, indem sie sich für ein Bundesunterrichtsministerium einsetzen.
Unser Grundgesetz in Ehren; aber sakrosankt ist es nicht. Es soll ja auch „dem staatlichen Leben" nur „für eine Übergangszeit eine neue Ordnung geben", wie es im Grundgesetz selbst heißt. Das Grundgesetz ist in einer Zeit und unter Umständen entstanden, die sich seitdem stark gewandelt haben. Es ist viel zu partikularistisch. Warum sollen wir heute, im Jahre 1954, dem Bunde nicht klare Befugnisse geben, die über das Grundgesetz hinausgehen? Es gilt doch, dem deutschen Volke „seine nationale und staatliche Einheit zu wahren", wie es im Grundgesetz heißt. Das wären vor allem, neben Zuständigkeiten auf dem Gebiet der Finanzen, echte Kompetenzen in Schul- und Erziehungsfragen. Die Notwendigkeit einer solchen Regelung kann niemand bestreiten, der sich wirklich mit diesen Dingen befaßt hat. Es ist Eigensinn und falsche Grundsatztreue, wenn man sich dagegen sperrt.
Ich will nun versuchen, im folgenden das Wesentliche herauszustellen, was uns in das Schulchaos geführt hat, und beschränke mich wiederum auf das Wichtigste.
Man hat in Deutschland in den letzten Jahren viele Wohnungen gebaut, und das war gut so. Aber man hat auch riesige Kaufhäuser, Polizeipräsidien, Verwaltungsgebäude von Körperschaften, Ministerien, Arbeits- und Finanzämter und Vergnügungsstätten im Übermaß errichtet, und das ist weniger gut. Man hat auch Schulen restauriert und neue gebaut. Aber der Aufstieg der Bautätigkeit galt nicht für die deutsche Schule; denn hier ist nur ein Bruchteil von dem geschehen, was hätte geschehen müssen. „Neun Jahre sind vergangen. An den Schulen aber ging das ,Deutsche Wunder' vorbei", schrieb „Christ und Welt" am 8. April dieses Jahres.
So ist eine Schulraumnot entstanden, die zum Himmel schreit.
— Sie leugnen doch hoffenlich nicht die Schulraumnot. Ich werde Ihnen nachher Zahlen nennen, daß Sie Bauklötze staunen werden!
— Meine Damen und Herren, darf ich Sie bitten, Ihre Zurufe vielleicht so zu organisieren, daß ich auf jeden einzelnen eingehen kann; sonst haben wir ja hier auch einen Wirrwarr und ein Chaos.
„An allen Arbeitsstätten sind die Verhältnisse wieder normal, die Schule ist weit entfernt davon", schreibt das „Sonntagsblatt".
Schichtunterricht in oft unzureichenden Räumen ist die Folge davon. Diese sind von morgens bis abends belegt und oft kaum genügend zu lüften. Die Unterrichtsstunden müssen verkürzt werden, und da an den Samstagnachmittagen die Schulhäuser gesäubert werden, dieser Nachmittag also nicht ausgenützt werden kann, geht mehr als ein Jahr an Arbeitszeit an der gesamten Schuldauer verloren. Die selbstverständliche Folge ist eine große Leistungsminderung. In Nordrhein-Westfalen — über dieses größte deutsche Land möchte ich Ihnen hier Zahlen geben, die Sie ja nachprüfen können — haben heute noch 45 % der Schulen Doppelschichten,
20 % der Schulen sind auf mehrere Gebäude verteilt, 45 '% haben Wanderklassen, 60 % benutzen Fachräume als Klassenzimmer, 40 % haben keine Turnhalle.
In den meisten anderen Ländern ist es nicht besser. In Berlin wird man erst in sieben Jahren, in anderen Ländern in acht Jahren so weit sein, daß kein Schichtunterricht mehr zu sein braucht.
Wir brauchen daher, meine Damen und Herren, ein Sofortprogramm zur Schaffung normaler Schulverhältnisse im gesamten Bundesgebiet, denn die Schulraumnot ist, wie richtig gesagt wurde, „eine kulturelle Unerträglichkeit". Es darf dabei keine Kapitulation vor dem Finanzminister geben. Bedenken wir, daß die Ausgaben der öffentlichen Hand für die Schule in anderen Ländern Europas 18 %, in Deutschland aber nur 5 % der Gesamtausgaben betragen. Dies Sofortprogramm muß von Bonn aus zentral gesteuert werden; denn viele Köche verderben den Brei.
Dann darf unsere Schule auch nicht länger der Spielball unausgereifter Experimente und parteipolitischer Wechselfälle sein. Ohne sich um Parlament und öffentliche Meinung zu kümmern, ohne Rücksicht auf die Nachbarländer haben die meisten Kultusverwaltungen ihre Pläne zu verwirklichen gesucht, die häufig weltanschaulich oder parteipolitisch bedingt waren. Wechseln dann die Regierungen, dann wechseln auch die Experimente. Ruhe und Stetigkeit aber, wie sie die Schule braucht, sind dahin, und Gutes und Erprobtes wird verworfen. So entwickelte sich das Schulwesen der einzelnen deutschen Länder, vor allem auf dem Gebiet der höheren Schulen, in wesentlichen Zügen auseinander. „Man hat immer wieder den Eindruck, daß manche unserer Kultusministerialbürokratien es einem Humboldt gleichtun möchten, statt schlicht und einfach zu verwalten", schrieb „Die Zeit" am 4. März 1954. Auch hier kann eine echte und schnelle Reform, die die Schule vor allem auch aus der Parteipolitik herausnimmt, nur von einem Bundesunterrichtsministerium ausgehen, das Grundsatzentscheidungen trifft und das den Ländern bindende Weisungen geben kann, sonst hört das Bildungsbabel in Deutschland nie auf. Wenn es so weitergeht wie bisher, dann reformieren die Reformer die Schule tot.
Heute sind die Unterschiede in unseren neun Schulsystemen so groß, daß man nur den Kopf schütteln kann. Diese Unterschiede sind vorhanden in der Schuldauer, in den Schultypen, im Sprachen-beginn und in der Sprachenfolge, in Lehrplänen
und Bildungszielen, in der Mittelstufe — der differenzierte Mittelbau ist das Steckenpferd eines bestimmten Kultusministeriums —, in der Gestaltung der Oberstufe, in den Aufnahmeprüfungen, in der Ausbildung des Lehrernachwuchses und in verschiedenen anderen Dingen; ich will sie gar nicht alle aufzählen. Und dagegen, meine Damen und Herren, soll die Ständige Konferenz der Kultusminister anlaufen können?
Wenn heute eine Familie versetzt wird oder verzieht, dann beginnt für sie das Schulelend ihrer Kinder. Sie kommen immer in völlig neuartige Verhältnisse, oft sogar im gleichen Lande, und verlieren dann mindestens ein Jahr, wenn der Vater nicht in der Lage ist, Nachhilfestunden zu bezahlen. Ich frage Sie: Ist das „Dienst am Kunden", wie man ihn doch von jedem Geschäftsmann verlangt? Sind unsere Schulen wirklich noch für die Kinder da? Mit Recht erklärt eine bekannte Zeitung: „Ein Schulwechsel etwa von München nach Düsseldorf ist pädagogischer Selbstmord!" Diejenigen, die es dahin haben kommen lassen, sind bestimmt nicht dazu berufen und geeignet, es zu ändern. Wiederum müssen wir unser ceterum censeo rufen: Wir brauchen den Bundesunterrichtsminister!
Nur er kann die Aufgabe erfüllen, die über alle Tagesprobleme hinaus ins Zentrum unserer Existenz reicht. Auf dem Gebiet der Bildungspolitik zahlt der Staat mit seiner Substanz.
Meine Damen und Herren, noch ein paar Zahlen, wenige, aber erschütternde Zahlen, ausgewählt aus einer beliebigen Stadt! In Düsseldorf werden sieben Rechenbücher verschiedener Methoden benutzt, sechs deutsche Sprachlehren und sechs völlig verschiedene Lesebücher in den ersten Klassen.
— Das ist ein sehr großer Nachteil, vor allen Dingen für diejenigen, die aus einer Stadt im Osten nach dem Westen versetzt werden und dann diese Bücher kaufen müssen.
Abgesehen davon ist es auch in allen möglichen anderen Beziehungen ein großer Nachteil. Ich möchte dazu nur noch eines sagen: Wir haben in diesem kleinen Bundesgebiet über hundert Fibeln, d. h. Lesebücher für die erste Volksschulklasse. Bei Wohnortwechsel bedeutet diese partikularistische Unzahl jedenfalls Anforderungen an den väterlichen Geldbeutel, die leicht vermieden werden könnten.
Es gibt Menschen, die behaupten, unsere Volksschullehrer würden nach 55 Methoden ausgebildet, weil wir 55 verschiedene Ausbildungsstätten haben. Ich gehe gar nicht so weit, aber gewiß ist, daß die Art, wie diese Ausbildung in Westdeutschland geschieht, in keiner Weise koordiniert und in den einzelnen Ländern völlig verschiedenartig ist. In Bayern — ich bitte die Kollegen aus Bayern besonders herzuhören — gibt es sogar noch immer die alten Lehrerseminare, eine Einrichtung von vorgestern.
— Ja, die haben sich in alter Zeit ganz zweifellos sehr bewährt, aber wir sind ja nun auch einige
Jahre weiter gekommen, und heute ist die akademische Lehrerbildung eine absolute Selbstverständlichkeit geworden.
Man könnte noch lange fortfahren in der Schilderung des Schulchaos und der Schulzersplitterung, aber ich glaube, das Gesagte genügt, was Volksschule und höhere Schule betrifft. Alles drängt hier nach Zusammenfassung und Vereinfachung. Nichts Entscheidendes aber ist bisher geschehen, auch nicht auf dem Gebiet der Berufsschule und der Erwachsenenbildung. Auch die letzten Beschlüsse der Ständigen Konferenz der Kultusminister sind völlig an der Oberfläche geblieben. Schulanfang, Bezeichnung der Schulen, Notengebung sind Äußerlichkeiten, die letztlich belanglos sind.
Und dann, meine Damen und Herren: Was soll werden, wenn der Tag der Wiedervereinigung Deutschlands kommt?
Sollen dann neun Schulsysteme — andere behaupten sogar: zwölf, ich begnüge mich mit neun —, soll größte Uneinheitlichkeit, ja Verworrenheit dem weitgehend bolschewisierten und vereinheitlichten System der Sowjetzone gegenübertreten? Was soll dann aus der deutschen Schule werden? Wahrhaftig, ein Grauen überfällt einen, wenn man daran denkt. Ein Herkules würde nötig sein, um den Augiasstall dann zu reinigen, wenn wir die Wiedervereinigung nicht — geistig und organisatorisch — peinlich genau vorbereitet haben.
Neun verschiedene Systeme darf es dann nicht mehr geben. Hier kann nur ein Bundesunterrichtsministerium wirklich und wirksam helfen.
Noch einige Sätze über die Verhältnisse an den deutschen Hochschulen, die einstens unser Stolz gewesen sind. Am 6. Mai 1954 hat schon Herr Kollege D r. Gülich ausgeführt, die Forschung und Pflege der Wissenschaften könnten nicht Ländersache sein. Er hat wörtlich gesagt:
Wir müssen daran denken, einmal das Grundgesetz zu ändern. Wir müssen auch — ich spreche das ruhig aus — ein Bundeskultusministerium haben. Es geht nicht an, daß weiterhin die Fragen der wissenschaftlichen Forschung, der Erziehung und Volksbildung von der mehr oder minder großen oder geringen Einsicht der Länderfinanzminister und der mehr oder minder zulänglichen Finanzkraft der einzelnen Länder abhängen.
Meine Damen und Herren, ich habe dem nichts hinzuzufügen.
Die heutige deutsche Hochschule ist ihren Aufgaben auch nicht mehr gewachsen. Das soll nicht heißen, daß sie nicht über hervorragende Dozenten verfüge, aber es sind viel zu wenige Hochschullehrer vorhanden, als daß alle Aufgaben mit echter Gründlichkeit gelöst werden könnten. 1853, also vor über 100 Jahren, kamen auf 1800 Hörer 100 Ordinarien und 94 Nichtordinarien. 1951 kamen auf 5600 Hörer 100 Ordinarien und 120 Nichtordinarien. Die Zahl der Studenten hat sich gewaltig erhöht, die Zahl ihrer Lehrer hat sich kaum verändert.
Das bedeutet, daß zahlreiche neue Planstellen geschaffen werden müssen. Auf der Jahrestagung 1954 der Max-Planck-Gesellschaft in Wiesbaden haben die Professoren Heimpel, Hahn und Bötticher eine Vermehrung der Professuren und Dozenturen
gefordert, nachdem das in den letzten Jahren immer wieder verlangt worden war. Ich darf bei dieser Gelegenheit auch auf den Aufsatz von Professor Reiser „Falscher Föderalismus" in der Deutschen Universitätszeitung vom 6. September hinweisen, wo gerade Forschungsfragen ausgiebig behandelt worden sind. Heute sind 52,4 % aller durch Habilitation oder Berufung vollqualifizierte Hochschullehrer nichtplanmäßige Kräfte, sogenannte Nichtordinarien, die entweder gar nicht oder im Verhältnis zu ihrer Ausbildung und Tätigkeit viel zu gering besoldet werden. Dieser Teil der Dozentenschaft befindet sich im Zustand völliger rechtlicher und sozialer Unsicherheit. Ihm werden, wie das „Sonntagsblatt" vom 13. Juni 1954 schreibt, die für den einfachsten Angestellten selbstverständlichen Rechte vorenthalten. Er wird zum Hungern, zur andauernden wirtschaftlichen Unsicherheit und zur gesellschaftlichen Deklassierung verurteilt.
Wie sich das .auf den Nachwuchs auswirken muß, ist klar. Viele der Besten setzen sich diesen Zuständen nicht mehr aus. Die Besetzung der Stellen mit mittelmäßigen Kräften ist vielfach die Folge' und damit ein Niedergang auf allen Gebieten. Das gilt sowohl für Technik und Naturwissenschaften wie für die sogenannten geistigen Disziplinen. Mittelmäßige Dozenten aber werden nur mittelmäßige Lehrer ausbilden, und diese werden ihren Niveauverlust auf ihre Schüler vererben. Darum geht die Frage des Hochschullehrernachwuchses alle Kreise der Gesellschaft an. Sie ist, wie richtig geschrieben wurde, ein Politikum ersten Ranges, wie alle Bildungsfragen überhaupt, die auch nicht vom Gesichtspunkt bevorstehender Landtagswahlen aus behandelt werden dürfen.
Die unhaltbaren Zustände in den Personalverhältnissen der deutschen Hochschulen gehen nicht zuletzt auf das Fehlen einer zentralen deutschen Unterrichts- und Erziehungsverwaltung zurück. Viele Länderkultusverwaltungen machen keine wirklich ernsthaften Anstrengungen zur Regelung der Personal- und Nachwuchsfragen. Auch hier kapitulieren die Kultusminister vor ihren Finanzministerkollegen. Eine besorgniserregende Verschiedenheit im Entwicklungstempo der wissenschaftlichen Hochschulen in den einzelnen Bundesländern ist festzustellen. In ganz besonderem Maße sind die jüngeren und außerplanmäßigen Hochschullehrer betroffen, ihre wirtschaftlichen Verhältnisse und ihre berufliche Entwicklung. Personal- und Nachwuchsfragen aber sind das Zentrum aller Wissenschaftspolitik und die Grundlage eines gesunden Hochschulwesens. Gerade diese Fragen müssen durch ein en Minister einheitlich in Angriff genommen werden.
Als Preußen im Jahre 1807 zusammengebrochen war, galt für die Reformer das Wort: Der Staat muß an moralischen Kräften ersetzen, was ihm an physischen fehlt. Das gleiche Wort gilt heute.
Der Südwestfunk hat sich, als er über unseren Antrag am 1. Juli berichtete, mit scharfen Worten gegen den Partikularismus unserer Kultusminister und die Starre der Länder gewendet und gesagt, es gebe wohl kaum eine vernünftige Stimme, die das Durcheinander auf dem Gebiete der Erziehung heute noch mit sinnvoller Eigenart beschönigen möchte, und das Ergebnis der mehrjährigen Bemühungen der Ständigen Konferenz der Kultusminister sei gleich Null. Man halte uns nicht entgegen,
auch im Bismarckreich habe eine Kulturautonomie der deutschen Bundesstaaten bestanden. Damals gab es nämlich bei aller Mannigfaltigkeit doch eine einheitliche Linie in unserem Bildungswesen. Damals lebten wir in echtem Föderalismus, und es durfte das Wort „in variis libertas", „im Mannigfaltigen Freiheit" gelten. Heute ist das anders geworden. Die einheitliche Linie ist verlorengegangen, babylonische Verwirrung ist an ihre Stelle getreten.
— Natürlich kann man es übertreiben; das tue ich aber nicht.
Ich sage die Dinge so, wie sie sind. Es liegt mir gar nichts daran, etwas zu übertreiben. Glauben Sie nur, eine Sache leidet dadurch, wenn man übertreibt. Wenn man sie richtig vorträgt und dabei nicht übertreibt — und darum bemühe ich mich mindestens —, hat sie ja viel mehr Effekt.
Heute ist es anders geworden, habe ich gesagt. Die einheitliche Linie ist verlorengegangen, und die babylonische Verwirrung — das war wohl das, was Sie etwas erregte — ist an ihre Stelle getreten. Aber sehen Sie doch einmal hinein! Sehen Sie sich einmal die Pläne der einzelnen Kultusminister an! Denken Sie doch daran, daß es Kultusminister gibt, die vielfach gar nicht daran denken, sich an die Richtlinien zu halten, die sie selbst mit beschlossen haben. Das ist die Wahrheit; ich habe das selbst in meinem Beruf erfahren.
Die einheitliche Linie ist verlorengegangen, und unsere Schulen — von der Volksschule bis zur Hochschule — sind längst ein Necessarium geworden, eine deutsche Lebensnotwendigkeit. Und dafür gilt das Wort: In necessariis unitas — im Notwendigen Einigkeit!
Und lehnt ihn das Hohe Haus ab, so wird er bestimmt nicht eingemottet werden. Die Stimme der Eltern, die immer größer werdende Not werden eines Tages den deutschen Unterrichtsminister doch erzwingen.
Unser Bundeskanzler hat vor kurzem einmal gesagt: „In der Politik gelingt nichts auf einen Schlag". Wir glauben auch nicht, daß das Hohe Haus jetzt diesem Antrag zustimmen wird.
Wir bitten aber, den Antrag dem Ausschuß für kulturpolitische Angelegenheiten zu überweisen.