Rede von
Fritz
Erler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Ein Weiteres, meine Damen und Herren. Der Herr Bundeskanzler hat von dem Erfolg für Berlin gesprochen. Auch hier muß ich darauf hinweisen, daß die Londoner Akte nichts Neues bringt.
Es wird wiederholt, was seit dem Jahre 1950 für Berlin Rechtens ist, und es wird zu diesem Stand für Berlin nichts hinzugefügt. Das sei zur Steuer der Wahrheit hier festgehalten.
Nun möchte ich mich mit den Ausführungen unseres Kollegen Kiesinger befassen. Ich erblicke in ihnen eine Art Kommentar zum Antrag der Fraktionen der Regierungskoalition, den Sie alle kennen. Dieser Antrag fängt mit einem Satz an, der durchaus auch unsere Zustimmung finden kann. Es fängt an damit: „Der Deutsche Bundestag bekräftigt den Beschluß des 1. Deutschen Bundestages vom 26. Juli 1950." Aber dann geht es ganz anders weiter als in jenem Beschluß. Jener Beschluß sprach von der wirtschaftlichen Einheit Europas auf der Grundlage der sozialen Gerechtigkeit, von einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik, die dem Frieden in der Welt dient, von der Gleichheit der Rechte aller europäischen Völker und von den
Grundrechten und menschlichen Freiheiten der europäischen Bürger und ihren Garantien und davon, daß sie unter Rechtsschutz gestellt werden sollen.
Meine Damen und Herren, wenn Sie sich den Text Ihres eigenen Antrags ansehen, werden Sie feststellen, daß Sie diese Entschließung zur Bekräftigung einer Politik benützen, von der in dieser Entschließung gar nicht die Rede ist.
Denn in dieser Entschließung steht nichts von den zwölf Divisionen, die das halbe Deutschland einer Verteidigungsorganisation liefern soll. Und zweitens — und das ist wohl das Entscheidende —, Sie haben alle bisherigen Beschlüsse des Deutschen Bundestages in der Frage der deutschen Einheit buchstäblich auf den Kopf gestellt. Sie haben gesagt, der Deutsche Bundestag bekennt sich zur Einigung Europas und er sieht in der Erreichung dieser Ziele die Voraussetzung für die baldige Wiedervereinigung Deutschlands ohne Gewalt und mit den Mitteln des Friedens.
Meine Damen und Herren, das große Wort von der Einigung Europas ist heute verschiedentlich beschworen worden, aber wenn Sie die Deutschen in der Sowjetzone so lange auf ihre Erlösung warten lassen wollen, bis Europa zu einer wirklichen Einheit zusammengewachsen ist, dann darf man ihnen nicht mehr das Lied über den Zonengrenzvorhang hinüber — gewissermaßen vom sicheren Ort — zusummen: „Haltet aus im Sturmgebraus";
dann werden sie leider, leider, leider auf sehr, sehr lange Zeit warten müssen.
Es ist infolgedessen ausgeschlossen, daß wir an die Probleme in der Reihenfolge, die Sie hier aufgestellt haben, herangehen können. Es ist im Zusammenhang mit dem Werk der europäischen Einigung von Herrn Kiesinger, von Herrn von Brentano, und auch vom Bundeskanzler darauf hingewiesen worden, daß .man gewissermaßen statt anderer 'dringlicher Probleme zunächst nur die Frage der gemeinsamen Verteidigung habe vorziehen müssen. Meine Damen und Herren, das ist im Jahre 1950 geschehen, und ich finde, seit dem Jahre 1950 ist eine ganze Masse Zeit verstrichen, um auch auf anderen als militärischen Gebieten einen wesentlich wirksameren Beitrag zur europäischen Einheit durch die Bundesrepublik leisten zu lassen, als das bisher geschehen ist.
Ich will Ihnen hier dieses kleine Register nur in aller Kürze einmal zur Kenntnis geben; vielleicht erleben wir, daß dann endlich einmal Taten kommen. Eines der ersten großen Werke des Europarats war das Bekenntnis zu den staatsbürgerlichen Grundrechten und Grundfreiheiten, und zwar in der Form, daß es nicht nur ein platonisches Bekenntnis bleibt, sondern daß der einzelne Staatsbürger die Möglichkeit hat, europäische Institutionen und Gerichte anzurufen, um sich zu wehren — auch gegen seine nationalen Behörden und Regierungen —, wenn er in seinen Grundfreiheiten und Grundrechten gekränkt wird. Gerade die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, also eines Landes, dessen schmerzliches Schicksal in der nationalsozialistischen und in der bolschewistischen Diktatur doch Anlaß zu dieser Konvention gegeben
hat, hat trotz der Beschlüsse dieses Hauses bis zum
heutigen Tage die Zuständigkeit der europäischen
Kommission für Menschenrechte und die Zuständigkeit des Gerichtshofes für sich nicht anerkannt
und bleibt damit hinter anderen europäischen Ländern, die diesen Schritt seit langem getan haben, bedauerlicherweise zurück.
Ein zweites! Am 13. Dezember 1953 sind fünf wesentliche europäische Konventionen vom Ministerkomitee in Straßburg verabschiedet worden. Sie tragen die Unterschrift des deutschen Regierungsvertreters. Herr Bundeskanzler, wo bleiben die Vorlagen an dieses Haus, damit das Haus in voller Einmütigkeit seinen Beitrag zum Zusammenwachsen Europas auf sozialem, auf wirtschaftlichem und auf kulturellem Gebiete leisten kann?
Das ist es ja, was wir beklagen: daß alle Energien immer wieder nur von den Auseinandersetzungen um die militärischen Probleme verbraucht worden sind und daß wir zusehen müssen, wie andere Staaten, die man doch mitunter nur als halbe Europäer behandelt hat, der Bundesrepublik Deutschland mit gutem und besserem Beispiel vorangegangen sind!
Wo bleibt es mit der konkreten Unterstützung der deutschen Regierungsstellen zu den in Straßburg eingehend behandelten Versuchen, zu einem gemeinsamen Niveau auf dem Gebiet der Sozialleistungen zu kommen? Wo bleibt es mit den Versuchen, die Zollmauern in Europa durch das Vertragswerk über den Low Tariffs Club allmählich zielbewußt abzubauen? Wo bleibt es mit der im Europarat geforderten gemeinsamen europäischen Politik der Vollbeschäftigung?
Ich habe all diese Fragen, die ich nicht als Kleinigkeiten zu behandeln bitte, bewußt in dieser Konkretheit angesprochen, damit Sie sehen, daß es nicht um Allgemeinheiten geht, sondern daß wir auf diesem Gebiet wirklich nicht an der Spitze der Europäer, verehrter Herr Gerstenmaier, sondern am Schwanze der Europäer marschieren.
— Wenn Sie also gern davon sprechen, Kollege Hilbert: unsere Bedenken gegen den damaligen Eintritt in den Europarat haben sich als vollkommen berechtigt erwiesen. Denn bis zum heutigen Tage spuken die Pläne der Europäisierung der Saar doch nur deshalb noch in den Köpfen, weil man das Saargebiet seinerzeit als ein gewissermaßen eigenstaatliches Gebilde in diese Körperschaft gleichzeitig mit der Bundesrepublik hineingenommen hat!
Es wurde hier von den „Schutztruppen" gesprochen, die der Bolschewismus im Kalten Krieg in einigen europäischen Ländern habe. Jawohl, meine Damen und Herren, das ist völlig richtig. Aber meinen Sie nicht auch, daß man durch ein anständiges soziales Gefüge, durch ein Höchstmaß an
sozialer Gerechtigkeit, durch eine gesunde Wirtschaft den Kommunisten in Frankreich und Italien mehr zu Leibe rücken kann als mit den Divisionen der europäischen Armee? Ich fürchte, die werden kein geeigneter Beitrag zur Bekämpfung dieser Schutztruppen sein.
— Ich spreche nicht von der Verteidigung Europas gegen eine mögliche sowjetische Aggression. Vielmehr ist hier ausdrücklich von der Sicherheit vor den Schutztruppen der Bolschewisten im Kalten Krieg in einigen unserer Nachbarländer gesprochen worden, und dafür ist nun einmal dieses Instrument der Rüstung leider untauglich.
— Sie haben davon gesprochen, nicht ich.
Nun ein Weiteres. Der Herr Bundeskanzler hat sich mit dem Brüsseler Pakt als einem Modell für ein System der kollektiven Sicherheit befaßt. Ich würde ihm recht geben, wenn lediglich Deutschland als der ursprünglich vom Brüsseler Pakt vorgesehene potentielle Angreifer — denn der Vertrag war gegen Deutschland gerichtet — nun zur Abrundung in diesen Vertrag hineingenommen würde, damit alle Teilnehmerstaaten dieses Systems untereinander den Frieden sichern. Das wäre ein wirkliches System der kollektiven Sicherheit. Beim Brüsseler Pakt ist aber etwas anderes geschehen. Die Londoner Akte macht aus ihm statt einer Militärallianz gegen Deutschland. eine Militärallianz gegen die Sowjetunion. Damit ist aus dem Brüsseler Pakt noch lange nicht ein System der kollektiven Sicherheit geworden. Wir sollten uns diesen Sprachmißbrauch, diese Sprachverwilderung endlich einmal abgewöhnen, eine Militärallianz einfach einem System der kollektiven Sicherheit gleichzusetzen.
Das ist absolut zweierlei.
Der Herr Bundeskanzler hat von der Gefahr gesprochen, die Europa aus einer Abwendung der Vereinigten Staaten drohe. Ich will nicht untersuchen, wieweit dieses Argument allzu häufig strapaziert worden ist, um im Sinne einer mehr oder minder sanften Pression die europäischen Völker zu einer bestimmten, mit den Amerikanern gleichlaufenden Politik zu veranlassen. Aber erstens sind nach meiner Überzeugung die Amerikaner nicht so töricht, Selbstmord aus Angst vor dem Tode zu begehen,
und zweitens findet man, wenn man in vernünftiger Weise auch und gerade mit den Vertretern der amerikanischen Diplomatie und der amerikanischen Regierung spricht, Verständnis für die Forderung, daß die Formen des europäischen Zusammenwachsens von den Europäern selbst entwickelt werden müssen und ihnen nicht von anderen vorgeschrieben werden dürfen.
Der Bundeskanzler hat mit Recht gesagt, die wirkliche Sicherheit für Deutschland liege auch nach seiner Überzeugung nicht in jenen zwölf deutschen Divisionen, sondern sie liege in der damit erreichten Gewißheit, daß jeder, der eine
Aggression gegen die Bundesrepublik begehen würde, damit — er hat es nicht so gesagt, aber es war der Sinn seiner Ausführungen — den dritten Weltkrieg auslösen werde. Das sollten wir uns merken. Damit ist eine sehr beachtliche Erkenntnis für die Formen und Möglichkeiten aufgedämmert, die sich auch für den Status eines wiedervereinten Deutschland ergeben. Gerade davon hat Erich Ollenhauer vorhin hier sehr ausführlich gesprochen.
Da ich nun einmal bei den Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers bin, noch eine weitere Bemerkung. Der Herr Bundeskanzler hat gemeint, die Frage nach einem etwa geplanten Notstandsartikel analog dem Art. 48 der Weimarer Verfassung rundheraus verneinen zu können. Vielleicht ist dann der Herr Bundeskanzler so freundlich und erklärt uns, was der folgende Satz in der Londoner Schlußakte eigentlich heißt.
Dort steht, daß die Hohen Kommissare von den Befugnissen, die aufgegeben werden sollen, nur im Einvernehmen mit der Bundesregierung Gebrauch machen werden,
ausgenommen auf den Gebieten der Abrüstung und Entmilitarisierung
— es ist sehr schön, daß das hier noch einmal drinsteht; —
und in Fällen, in denen die Bundesregierung aus rechtlichen Gründen nicht in der Lage ist, die Maßnahmen zu treffen . . ., die in den vereinbarten Abmachungen vorgesehen sind.
Ich möchte nun gern einmal wissen, was der Herr Bundeskanzler hier unter den „rechtlichen Gründen" versteht, die die Bundesregierung am Treffen von Maßnahmen hindern und die dann eventuell eine Notstandsmaßnahme der Hohen Kommissare auslösen könnten.
— Herr Bundeskanzler, vielleicht können Sie uns das nachher im einzelnen darlegen; denn dieser Satz muß ja einen Sinn haben, er wird doch nicht nur so hingeschrieben worden sein.
Dann ein Weiteres. In London — darauf ist mit Nachdruck auch in den Reden der Regierungssprecher hingewiesen worden — ist die Wiedervereinigung Deutschlands als grundsätzliches Ziel vereinbart worden. Aber, meine Damen und Herren, während für alle anderen in der Londoner Akte niedergelegten Ziele konkrete Schritte der Verwirklichung in der Akte enthalten sind, fehlt das für dieses Kernstück unserer Politik, nämlich für die Wiedervereinigung.
Daher würde ich Sie bitten, diese Lücke der Londoner Akte zu schließen, indem Sie die Vorschläge akzeptieren, die die Sozialdemokratische Partei Ihnen auf dem Gebiet heute vorgelegt hat. Dann werden wir unter Umständen dieses Kapitel bei den kommenden Verhandlungen vielleicht doch noch in befriedigenderer Weise als bisher behandeln können.
Herr Kollege Kiesinger hat — und auch darin hat er sich mit dem Herrn Bundeskanzler einig gewußt - von dem Zwischenziel der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft gesprochen und abgestritten, daß das gewissermaßen das Hauptziel der Politik seiner Partei gewesen sei. Ich möchte Sie
ein ganz klein wenig an den Bundestagswahlkampf des Jahres 1953 erinnern, wie dort in der vereinfachenden Propaganda der Regierungsparteien ganz bewußt — so hat es auch der kleine Mann draußen im Lande aufgefaßt — Europa mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft gleichgesetzt wurde.
Sie haben dieser Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, die für Sie nur ein Zwischenziel, ein Durchgangsstadium ist, immerhin soviel Wert beigemessen, daß Sie sie in unser Grundgesetz hineingeschrieben haben. Wir haben jetzt einigermaßen große Sorge, wie wir dieses Instrument, das doch nun tot ist, aus unserem Grundgesetz wieder herausbringen. Das werden Sie wieder ändern müssen, um dieses Zwischenziel endgültig zu beerdigen!
— Ja, aber es steht im Grundgesetz drin!
— Nicht ganz! Lesen Sie bitte nach, wo es steht!
— Das glaubt nicht einmal der Bundeskanzler, daß die Europäische Verteidigungsgemeinschaft mit den Verträgen, wie sie im Wortlaut im Grundgesetz verankert sind, noch einmal Wirklichkeit wird.
— Aber Frau Kollegin Weber, darüber wollen wir doch jetzt nicht streiten. Aus dem Grundgesetz wird mit Ihrer Zustimmung die EVG wieder herausgestrichen; davon bin ich überzeugt.
Wir haben uns heute hier in einer ganzen Reihe von Diskussionsreden mit den Fragen der europäischen Zusammenarbeit befaßt. Ich bin erfreut, daß eine Erkenntnis — davon zeugt die Londoner Akte; leider im wesentlichen nur auf dem militärischen Gebiet, denn die meisten Teile handeln davon — sich Bahn gebrochen hat, nämlich daß man sich in der Auseinandersetzung, was man vorziehe: eine festere Form mit einem kümmerlichen und mageren Inhalt oder eine lockerere Form und dafür den umfassenderen Inhalt unter Mitwirkung Großbritanniens, für die letztere Form entschieden hat. Das ist eindeutig ein Fortschritt; das geben wir Ihnen gern zu.
Nun hat Kollege Kiesinger davon gesprochen, man habe doch eigentlich das Bessere aufgeben müssen statt des Schlechteren und nun das Schlechtere akzeptieren müssen. Ich habe gar nicht gewußt, daß er in dieser Weise dem Kampf des Herrn Bundeskanzlers in London in den Rücken fällt.
Der Herr Bundeskanzler hat sich dort alle redliche Mühe gegeben — darauf hat er voller Stolz vorhin hingewiesen —, unter endlich einmal! — Ausnutzung der Argumente der sozialdemokratischen Opposition sich dagegen zu wehren, daß man irgendeinen deutschen Soldaten aufstellt, der einer
Verfügungsgewalt ohne deutsche Mitwirkung und ohne deutschen Einfluß unterstellt wäre. Er hat sich auch, wie wir eben erfahren haben, mit Energie gegen jene Notstandsklausel und ihr Wiederaufleben gewehrt. Aber, Herr Kollege Kiesinger, damit geben Sie doch zu, daß er sich für das Bessere und nicht etwa für das Schlechtere geschlagen hat.
Was für ein Glück, daß die Verträge, die Sie so heiß verteidigt und die wir ebenso erbittert bekämpft haben, nicht zustande gekommen sind; was für ein Glück selbst im Lichte der Politik des Herrn Bundeskanzlers, daß er sich nicht für fünfzig Jahre mit der Notstandsklausel und mit der Entmündigung des deutschen Soldaten verheiratet hat!