Schön, dann wollen wir also ganz klarstellen, daß von meinen Freunden niemals jemand die Möglichkeit der Einbeziehung Sowjetrußlands in ein kollektives Sicherheitssystem geleugnet hat.
— „Na also", verehrter Herr Kollege? Nur nicht so kurzschlußhaft gedacht! Wann die Sowjetunion in ein solches System kollektiver Sicherheit einbezogen werden kann und unter welchen Voraussetzungen, das ist doch die Frage. Darüber hat schon mein verehrter Herr Kollege von Merkatz einige Ausführungen gemacht. Ich kann natürlich den Hecht in den Karpfenteich des Systems kollektiver Sicherheit hineinsetzen — die Karpfen werden dann einiges erleben!
Die Voraussetzungen müssen erst geschaffen werden, und das ist nun, wie Sie es zu nennen belieben, die berühmte „Politik der Stärke". Was ist diese Politik?
— Nun, der Ausdruck mag da und dort einmal gefallen sein.
— Aber zur Kennzeichnung unserer Bemühungen haben Sie die Freundlichkeit gehabt, diesen Ausdruck fast ausschließlich zu verwerten.
Was ist denn die „Politik der Stärke"? Ich will die Formulierung gar nicht ablehnen. Ich sage nur: Sie kann irreführend wirken, wenn sie als einzige Etikette unserer Bemühungen benutzt wird. Das ist heute nun schon verschiedentlich dargestellt worden. Sie sagen: Keine Bemühungen um militärische Sicherheit der westlichen Welt, bevor nicht endgültig klargestellt ist, daß Sowjetrußland keine deutsche Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit will. Wir sagen — und da können wir nur These gegen These stellen, und es ist nur recht und gut, daß wir das in voller Klarheit vor dem deutschen Volk tun —: Alle Erfahrungen, die man mit der Sowjetunion bisher gemacht hat, belehren uns darüber, daß die Sowjetunion erst dann bereit sein wird, zu einer echten deutschen Wiedervereinigung die Hand zu reichen, wenn der Westen sich in einer Lage befindet, die Sowjetrußland zwingt, den Westen zu respektieren.
Es gibt eine paradoxe Entwicklung in der Geschichte. Ich möchte denjenigen unter Ihnen, die fleißige Karl-Marx- und Friedrich-Engels-Leser sind — Sie sind es sicherlich, verehrter Herr Kollege Schmid —, ins Gedächtnis rufen, wie Karl Marx und Friedrich Engels über das Problem Rußland gedacht haben. Karl Marx hat zum . Beispiel den berühmten Satz gesagt: Rußland ist ein Tier, das nur mit einem Tier verhandelt, das gleich stark ist wie es selbst.
Und Friedrich Engels hat sehr viel schärfere Formulierungen gebraucht und Vorschläge gemacht.
— Nun, die beiden haben sich natürlich auch in diesem Punkte geirrt, sagen Sie, verehrter Herr Kollege Schmid?
Wir haben eine sorgfältige Analyse der europäischen und der Weltsituation gemacht, bevor wir unsere Entschlüsse faßten. Nichts ist inzwischen geschehen, auch — trotz Herrn Rauschning — das Phänomen der Wasserstoffbombe nicht, was uns gezwungen hätte, unsere Politik grundlegend zu ändern. Das heißt, wir werden so lange fortfahren, uns mit der westlichen Welt zusammen zu stärken, bis Sowjetrußland bereit ist, in Anerkennung dieses Faktums auf Ziele zu verzichten, die es sich gesteckt hat, so lange das machtpolitische Vakuum im Westen besteht.
Ich behaupte nicht, daß Sowjetrußland an einen Krieg denkt. Aber Sowjetrußland denkt ganz gewiß daran, dieses westliche Europa im Kalten
Krieg eines Tages für sich zu vereinnahmen, und
es hat allen Grund, solche Hoffnungen zu hegen.
Ich habe schon öfter in diesem Hause darauf hingewiesen, wie einem Politiker in Moskau wohl zu Mute sein mag, wenn er auf dieses westliche Europa blickt, das schon im 19. Jahrhundert einmal ein Russe verächtlich genug „ein Furunkelchen am Körper Asiens" genannt hat. Wenn er im westlichen Europa diese nun nicht mehr querelles allemandes, sondern diese querelles européennes, diese widerlichen europäischen Streitigkeiten wahrnimmt und wenn er die starken Schutztruppen des Bolschewismus bei einigen unserer westlichen Nachbarn, bei einem unserer Nachbarn über ein Drittel stark, bemerkt. Dann muß sich doch ein Moskauer Politiker sagen: Was soll ich meine Position an der Elbe aufgeben? Wo ist denn dieses berühmte bedrohte Sicherheitsbedürfnis Sowjetrußlands, von dem so oft die Rede ist? Das ist irgendwann, zu irgendeiner Zeit einmal ein Problem, wenn die westliche Welt wirklich jenen Grad der Verteidigungskraft erreicht haben wird, den sie heute leider immer noch nicht hat. Dann wird vielleicht auch einmal das Problem des russischen Sicherheitsbedürfnisses ein echtes und aktuelles sein, dann wird man auch darüber reden können; dann, meine verehrten Damen und Herren von der Opposition!
Sie sagen, verehrter Herr Kollege Ollenhauer: Ihr könnt ja die Entwicklung nicht aufhalten, die Konferenzen werden kommen, ihr könnt ihnen nicht ausweichen. Wir wollen ihnen nicht ausweichen. Wir wissen alle und wir haben es immer wieder betont, daß auch die deutsche Frage, wie überhaupt alle politischen Fragen, die heute den Menschen Sorge machen, nur auf Konferenzen der Großen gelöst werden kann. Wir wollen diese Konferenzen, aber wir wollen diese Konferenzen nicht jetzt, in einem Zeitpunkt absoluter machtpolitischer Ohnmacht. Das ist die Lage. Es ist in den letzten Jahren immer dasselbe gewesen. Immer wieder hat man erlebt, daß sich bei solchen Konferenzen praktisch der sowjetische Standpunkt ganz oder zu einem erheblichen Teil durchgesetzt hat. Warum? Weil die westliche Welt nicht stark genug war, Widerpart zu bieten. Es würde auch jetzt bei einer neuen Konferenz nicht anders sein. Wie verhängnisvoll würde es sich auf die Stimmung, würde es sich in den Herzen der 'deutschen Bevölkerung des Ostens auswirken, wenn eine Konferenz in diesem Zeitpunkt aufs neue mit einem Mißerfolg endete! Sagen wir lieber den Menschen im Osten: Bitte, haltet noch durch, noch sind wir nicht so weit!
Sie verstehen diese Sprache; oft genug haben sie es uns gesagt. In diesem Zusammenhang fiel der Satz — ich glaube, auch der Herr Kollege Ollenhauer hat ihn ausgesprochen —, wir stellten unsere Politik darauf ab, daß die Spaltung der Welt und damit auch die Spaltung Deutschlands ins Unabsehbare hinein dauern werde. Nein, verehrter Herr Kollege Ollenhauer, das tun wir nicht. Aber wir begehen auch nicht den anderen Fehler, zu glauben, daß eine freundliche Unterhaltung mit Moskau in einem Augenblick wie dem jetzigen, wo noch nichts gefestigt ist, genügen könne, um die ungeheueren, für die beteiligten Mächte lebenswichtigen Probleme zu lösen. Wann der Kalte Krieg beendet werden kann, wann es zu einem globalen Ausgleich
zwischen ,den großen Machtgruppen und damit auch zur Lösung der deutschen Frage kommt, davon weiß niemand von uns etwas Gewisses zu sagen. Gut, das sind also unsere verschiedenen Meinungen zu diesem Punkte. Jede ist respektabel; versuchen wir, jede respektabel zu vertreten. Wir werden nie aufhören, zu sagen, daß Ihre Meinung nach unserer Auffassung falsch ist und daß sie nach unserer Auffassung große Gefahren in sich birgt, daß sie uns dazu verurteilen würde, Objekt des Weltgeschehens zu bleiben, daß wir das hinzunehmen hätten, was die großen Mächte über uns verhängen. Ist es denn nicht so?
Ihr Vergleich mit dem Saargebiet hat gehinkt, verehrter Herr Kollege Schmid. Dort handelt es sich doch nicht darum, endlich herzustellen, was fehlt, was die Völker in Europa so schmerzlich vermissen: die Verteidigungskraft Europas.
Wir haben uns über alle möglichen Lösungen zerstritten, und noch immer ist in diesem kontinentalen Europa keine Macht und keine Kraft da, die in der Lage wäre, den Russen jenen Respekt zu geben, der notwendig ist, damit sie sich zur Beendigung des Kalten Krieges entschließen.
Wer hat denn nach dem zweiten Weltkrieg den Kalten Krieg begonnen? Nicht der Westen, Rußland hat ihn begonnen! Wer hat damals, 1945, utopische Politik betrieben? Die amerikanischen Mütter, die gefordert haben: „Bring the boys home!" Schickt unsere Jungens nach Hause!, die glaubten, wie schon einmal nach dem ersten Weltkrieg, es sei nun die Zeit ewigen Friedens angebrochen! Und wie vieler Aggressionen Sowjetrußlands hat es bedurft, bis man sich in Washington endlich entschloß, die vollkommene Abrüstung zu beenden und langsam wieder einen Verteidigungsapparat der westlichen Welt aufzubauen, der diesen ewigen russischen Aggressionen ein Ende setzen sollte! Griechenland war die erste Station, Korea hat die endgültige Entscheidung gebracht, und in der Linie dieser Entwicklung befinden wir uns heute immer noch. Nach unserer Meinung ist es noch nicht so weit, daß man von jenem Gleichgewicht der Kräfte sprechen könnte, welches es erlauben würde, jetzt den globalen Ausgleich herbeizuführen.
Damit ist auch das Notwendige über das tragische Thema der deutschen Wiedervereinigung gesagt. Wenn Sie selbst die Einsicht haben, verehrter Herr Kollege Schmid, daß diese deutsche Wiedervereinigung erst erreicht wird im Rahmen eines globalen Ausgleichs unter den Machtgruppen, dann müssen Sie doch auch die riesenhafte Schwierigkeit der Aufgabe sehen und müssen einkalkulieren, was alles noch notwendig sein wird, um der westlichen Welt jene Stärke und jene Stabilität zu geben, die sie zu einem gleichrangigen Partner Sowjetrußlands und Chinas machen werden.
Das große Anliegen, das uns alle beschäftigt, ist die Sache des Friedens. Ich will auch dazu ein paar Sätze sagen, weil das, was dazu zu sagen ist, vielleicht nicht oft und nicht klar genug gesagt wird. Jeder Krieg — wir haben es oft genug gesagt —, wie immer er ausgehen würde — ich habe keinen Zweifel, daß er mit dem Siege der maritimen Mächte enden würde —, jeder Krieg würde
das Ende Europas, zumindest des kontinentalen Europas bedeuten, ja wahrscheinlich darüber hinaus das Ende eines guten Teils der menschlichen Zivilisation überhaupt. Aber besonders wir Europäer sind von diesem Kriege bedroht. Sehen Sie, da will mir sehr häufig Ihre Argumentation, meine Damen und Herren von der Opposition, unlogisch erscheinen. Dieses Europa, wenn es sich vereinigt, wenn es seine militärischen Anstrengungen zusammenwirft, soll eine Bedrohung Sowjetrußlands bilden, und daher soll Sowjetrußland sich nicht entschlossen zeigen, einen Teil seiner Positionen aufzugeben? Sie argumentieren manchmal in einer Rede mit jenen 12 deutschen Divisionen und sagen: die 12 deutschen Divisionen sind ohnehin nicht zahlreich genug, um unseren Schutz zu verbürgen, und in derselben Rede sagen Sie uns: diese 12 deutschen Divisionen bilden eine Bedrohung des Sicherheitsgefühls Sowjetrußlands. Meine Damen und Herren, das sind Widersprüche, die bei außenpolitischen Diskussionen schwer wiegen. Nehmen wir einmal an, dieses Europa sei politisch, militärisch in einem viel engeren Sinne vereinigt, als es sich unsere besten Europäer in ihren kühnsten Vorstellungen je gedacht haben.
— Ich komme auf Dulles zurück, Herr Greve! — Was müßte dieses vereinigte Europa für eine Außenpolitik betreiben? Wenn es wahr ist, was wir alle immer sagen, daß jeder Krieg dieses Europa zerstören würde, dann kann der Kurs der europäischen Außenpolitik und gerade eines vereinigten Europas gar kein anderer Kurs sein als ein Friedenskurs.
Ich habe es nicht nötig, das nach Moskau hinüberzurufen. Die Herren in Moskau wissen es leider nur zu gut.
Weil sie es so gut wissen, deswegen handeln sie immer noch so, wie es tagtäglich geschieht. Wenn eine Krise entstehen würde, wenn die Waage des Geschicks zwischen Krieg und Frieden schwanken würde, dann müßte diese europäische Außenpolitik ihr ganzes Gewicht in die Waagschale des Friedens werfen.
Was bedeutet das für die Sowjetunion? Das bedeutet, daß eine westeuropäische Vereinigung niemals eine Lebensbedrohung Sowjetrußlands darstellen kann, solange Sowjetrußland die Macht darstellt, die es heute ist und die es morgen bleiben wird. Insofern könnte, Herr von Merkatz, das vereinigte Europa so etwas wie eine Brücke bilden: eine Kraft, die es der Sowjetunion ganz klarmacht, daß sie niemals willens ist, ihre Freiheit durch ein bolschewistisches System bedrohen zu lassen, die aber zugleich entschlossen ist, für ihre Völker den Frieden zu wahren. Sollte das ein Gebilde sein, mit dem Moskau nicht wohl rechnen könnte und auf Grund dessen Moskau nicht bereit sein könnte, sich einem System kollektiver Sicherheit anzuschließen und damit endlich den Kalten Krieg zu beenden? Ich behaupte, es steht ausschließlich bei Moskau, daß dieser Kalte Krieg beendet wird, und wir warten auf diese Entscheidung Moskaus.
Es ist in dieser Debatte des öfteren darauf hingewiesen worden, die Bemühungen der westlichen
Verteidigung hätten je und je dazu geführt, daß Moskau im letzten Augenblick mit einlenkenden Vorschlägen gekommen sei. Wieviel daran wahr ist, mag dahingestellt bleiben. Im großen und ganzen waren es doch nur Störungsmanöver, Ablenkungsmanöver, zu denen sich Sowjetrußland bis jetzt entschlossen hat. Was in dem neuen Abrüstungsvorschlag Moskaus steckt, kann noch niemand von uns mit Sicherheit sagen. Wir sollten ihn gewiß nicht mit leichter Hand beiseite schieben.
Es ist klar — ich will es ungeschminkt aussprechen —: der Tag muß kommen, an dem der Kalte Krieg beendet wird. Der Tag des Ausgleichs zwischen den Machtblöcken, wenn vorher nicht ein Wunder geschieht, muß kommen, damit endlich die Angst und die Sorge aus den Herzen der Menschen gerissen werden. Denn ein hundertjähriger Zustand des Kalten Krieges würde eines Tages den wirklichen Krieg bedeuten können.
Aber wiederum sei betont: gerade weil wir dies so klar und genau sehen, machen wir eine Politik, die sich nicht auf Illusionen einläßt, die sich vor allen Dingen nicht leichtfertig mit einem Partner einläßt, von dem wir bisher nur erfahren haben, daß er keine andere Alternative kennt, nicht einmal, Herr von Merkatz, die Alternative der Hegemonie, von der Sie vorhin gesprochen haben, als die: entweder bist du mein Satellit oder du bist mein Feind!
Und das wird in der Rede Molotows, wenn Sie sie sorgfältig durchlesen, meine verehrten Damen und Herren dieses Hohen Hauses, wieder ganz klar. Von Seite zu Seite spricht hier ein Mann, der sich die Welt, wie er sich ausdrückt, „freiheits- und friedliebender demokratischer Völker" nicht anders vorstellen kann als in der gegenwärtigen Ordnung des Sowjetmachtsystems, d. h. in der gegenwärtigen Ordnung des Satellitensystems. Niemals werden wir uns dazu bereit finden!
Ich bin der Meinung, meine Damen und Herren — und die Geschichte beweist es immer wieder —: Frieden, Frieden machen, Frieden bewahren ist — in den Ausführungen meines Kollegen von Merkatz klang es schon an — nicht nur eine Frage der Gesinnung und des Wohlverhaltens. Ich habe schon erwähnt, daß es die Utopisten sind, die schon so häufig großes Elend über die Menschheit gebracht haben. Frieden bewahren ist eine schwere und harte Kunst. Frieden bewahren heißt eine richtige, kraftvolle Politik machen. Und das alles versuchen wir, Menschen, die wir sind, und im Bewußtsein auch unserer eigenen Fehlermöglichkeiten nun all die Jahre her zu tun.
Herr Ollenhauer hat — auch dazu noch einen Satz — als ganz wesentlichen Fehler des Londoner Abkommens beanstandet, daß keine Kündigungsklausel enthalten sei, und Professor Carlo Schmid hat dem zugestimmt. Nun, dazu möchte ich zwei Dinge sagen. Jedes Kündigungsrecht ist zweiseitig, und daher ist in jedem Kündigungsrecht ein gewaltiges Risiko enthalten.
Meine Damen und Herren! Wenn schon heute immer wieder davon geredet worden ist, man müsse ein System finden, bei dem weder der Westen noch der Osten sich bedroht fühlen könnten, dann möchte ich doch die Aufmerksamkeit dieses Hohen Hauses einen kleinen Augenblick auf die Tatsache zurücklenken, daß es ja auch notwendig ist, ein System zu finden, bei dem wir, dieses Land und dieses Volk sich nicht mehr bedroht fühlen können.
Im übrigen ist die Frage, wieweit eine Bindung, eine Hemmung der deutschen Wiedervereinigungspolitik dadurch bestehen könne, daß die Bundesrepublik ihrerseits gewisse Verpflichtungen ohne formelle Kündigungsklausel eingegangen sei, wahrhaftig nicht so schlimm, wie sie gesehen wird. Ich sehe die Dinge folgendermaßen an. Dieses vereinigte Europa im Rahmen der atlantischen Solidarität kann ja nur existieren auf Grund einer wahrhaften Interessengemeinschaft. Die Interessengemeinschaft dieser Völker wird die weitere Entwicklung beeinflussen. Im Rahmen dieser Solidarität der westlichen Welt spielt unser Volk, spielt unser Land eine bedeutende Rolle.
Übrigens hat sich die westliche Welt — man kann nicht genug darauf hinweisen — feierlich verpflichtet, das ihre mit allen Kräften dazu beizutragen, die deutsche Wiedervereinigung in Freiheit und in Frieden herbeizuführen. Sehr verehrter Herr Kollege Ollenhauer, da steckt nun nach meiner Meinung wirklich alles drin. Ich brauche nicht auf die berühmten völkerrechtlichen Grundsätze der clausula rebus sic stantibus hinzuweisen. Es könnte mißverstanden werden. Man könnte uns vielleicht, so wie es heute schon einmal in anderer Hinsicht geschehen ist, sagen: Aha, ihr schielt schon wieder nach der Möglichkeit, euch von eingegangenen Verbindlichkeiten zu lösen! Nein, das erklären wir in diesem Hause und vor aller Welt: wir werden die kommenden Aufgaben nur gemeinschaftlich mit der freien Welt lösen. Und wenn wir eines Tages glauben sollten, daß die von der Bundesrepublik eingegangenen Verpflichtungen einer Wiedervereinigung Deutschlands wirklich entgegenstehen, dann werden wir die Bitte an unsere Freunde in der westlichen Welt richten, die Dinge neu zu betrachten und neu mit uns zu verhandeln. Glauben Sie, daß eine politische Kraft, wie es Deutschland immerhin ist, im Rahmen der westeuropäischen Friedenssolidarität nicht Gewicht genug hätte, in der westlichen Welt jede ernsthafte Erwägung für diese neue Situation zu erwirken? Wenn ich die Verhandlungen in London zu führen gehabt hätte, hätte ich gerade im Interesse der deutschen Wiedervereinigung, die ja ohne Freiheit und Frieden nicht betrachtet werden kann, mich selber einer beiderseitigen Kündigungsklausel widersetzt.
Sie haben, verehrter Herr Kollege Schmid, noch ein paar andere Besorgnisse gehabt, auf die ich kurz eingehen will. Sie sagten, all das, was wir hier tun, ist bestenfalls eine provisorische Notlösung. Ja, es ist eine provisorische Notlösung im Hinblick auf das Ziel einer endgültigen Bereinigung des Konflikts, der Herbeiführung eines echten Friedenszustandes in dieser Welt. Niemand von uns hat je etwas anderes gedacht oder etwas anderes gesagt. Sie sagten, es sei bedenklich, daß der Status Gesamtdeutschlands wegen dieser Bindungen der Bundesrepublik offengeblieben sei.
Diese Frage ist geklärt. Sie haben aber, glaube ich,
noch ein anderes Bedenken gehabt, die Formulierung betreffend, daß die Regierung der deutschen
Bundesrepublik berechtigt sei, in internationalen Angelegenheiten für Gesamtdeutschland. zu sprechen.
Sie wissen ja, daß das nichts Neues ist. In Wahrheit liegt ja der Akzent bei diesem Passus darauf, daß uns die westliche Welt erklärt: Für uns gibt es keine „Deutsche Demokratische Republik" als Vertreterin irgendeines Teiles des deutschen Volkes, sondern für uns gibt es nur die deutsche Bundesrepublik als Sprecherin ganz Deutschlands.
Ich bin zwar bereit, der Sache politisch eine etwas weitere Interpretation zu geben, indem ich das der kommenden Entwicklung anvertraue. Ich sehe einen Wachstumsprozeß darin, daß wir immer mehr in die Rolle des Treuhänders für das gesamte deutsche Volk hineinwachsen.
So glaubte ich, ein paar der heute hier angesprochenen Gesichtspunkte noch einmal klarstellen zu müssen. Aber sagen Sie nicht, verehrter Herr Kollege Ollenhauer, daß damit — denn der Prozeß der europäischen Integration, der kontinentaleuropäischen Integration wird ja weitergehen — eine neue Spaltung Europas drohe! Das ist in Wirklichkeit nie der Fall gewesen. Es gab gewisse englische Interessen im Zusammenhang mit jener Position Englands, die ich bereits zu zeichnen versucht habe, der Politik der balance of power und dergleichen. Aber die Engländer haben ja auch inzwischen eingesehen — es fiel ihnen schwer; es war ja auch nicht leicht, aus einer vielhundertjährigen politischen Tradition plötzlich herauszuspringen —, daß es geradezu ein Lebensrecht Kontinentaleuropas ist, sich enger zusammenzuschließen. Wo die Grenzen dessen liegen, was man England auf die Dauer zumuten kann, das ist eine Frage, die wir getrost der Zukunft und dem gemeinsamen Vertrauen der europäischen Partner und Großbritanniens selber überlassen wollen.
Wir haben allen Grund, den Punkt, den wir heute in der Entwicklung erreicht haben, zu begrüßen, wenn auch nicht mit großem Jubilieren. Wer könnte dies angesichts der Lage unseres Volkes, angesichts der noch immer ungelösten Verteidigungsprobleme der westlichen Welt? Aber wir glauben sagen zu dürfen, daß trotz des Rückschlags in einer Etappe, der EVG, das in London Erreichte, soweit eine vorläufige Prüfung dieses Urteil schon zuläßt, Anlaß zur Genugtuung gibt. Es ist heute schon von verschiedenen Seiten — auch der Bundeskanzler hat es getan — der Dank an jene Völker und jene Politiker ausgesprochen worden, die auf diesem Wege mitgegangen sind. Wir haben jetzt jedenfalls das vorläufige Ergebnis einer echten europäischen Einigung vorbehaltlich der endgültigen Zustimmung aller Partner. Es beginnt sich die Möglichkeit eines endlichen deutschfranzösischen Ausgleichs abzuzeichnen. Wir haben Großbritannien auf dem Festland verpflichtet.
Wir sehen, daß auch die Vereinigten Staaten von Nordamerika Genugtuung über das Erreichte haben. Ich kann diesen Augenblick nicht vorübergehen lassen, ohne einmal über die üblichen Versicherungen hinaus an die Adresse der Vereinigten Staaten von Nordamerika ein besonderes Dankeswort zu richten. Bis jetzt herrschte in der Geschichte der Völker leider Gottes jenes trübselige Einerlei, daß eine stärkere Macht ihr Verhältnis zu anderen Mächten meist nur dadurch glaubte regeln zu können, daß sie das unheilvolle Prinzip des „divide et impera", des „Teile und herrsche" anwandte. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika haben das keinen Augenblick lang uns Europäern gegenüber getan; und das ist keine Kleinigkeit. Sie haben es nicht nur hinsichtlich der 150 Millionen Europäer nicht getan, die schließlich bereit waren, sich in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft wie auch in der Politischen Gemeinschaft zusammenzufinden; sie haben es gegenüber ganz Europa nicht getan, als gegenüber einer Zahl von Völkern, gegenüber einer Millionenzahl von Menschen, die die Einwohnerzahl der Vereinigten Staaten von Nordamerika um ein sehr Erhebliches übertrifft, gegenüber einer in Zukunft möglichen Mächtekombination, die auch an Wirtschaftskraft den Vereinigten Staaten ebenbürtig oder nahezu ebenbürtig ist. Das festzustellen, ist einfache Pflicht der Anerkennung und des Dankes. Ich nenne dieses Verhalten der Amerikaner in den letzten Jahren großartig, segensreich und zukunftsträchtig.
Ich darf und will die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne auch all jenen zu danken, die uns außerhalb der Gespräche der Sechs, der Sieben, der Acht oder der Neun auf unserem Wege ermutigt haben. Viele, die nie in Straßburg gesessen haben, die nie an diesen europäischen Verhandlungen beteiligt gewesen sind, haben uns durch ihren Zuspruch und ihren Rat den Entschluß leicht gemacht.
Ich nehme die Gelegenheit gerne wahr, anläßlich des Besuchs des türkischen Ministerpräsidenten und des türkischen Außenministers in Bonn des großen, uns befreundeten türkischen Volkes in Dankbarkeit zu gedenken und ihnen und ihrem Volke zu versichern, daß wir in Deutschland ihrem Volke gegenüber die Gefühle engster Verbundenheit und Freundschaft hegen,
so wie auch die Türkei in den vergangenen Jahren unwandelbar an unserer Seite gestanden hat.
Wir haben über die formulierten Verträge und Vertragsentwürfe hinaus sehr viel mehr erreicht, als viele Menschen in Europa wissen. Es ist ja leider so, daß unsere Publizistik meistens nur über ganz konkrete Erfolge oder Mißerfolge zu berichten weiß. Wir aber, die wir in ständiger Berührung mit den europäischen und den überseeischen Nachbarn stehen, die wir die große Freude haben, mit vielen, mit Hunderten von bedeutenden Politikern Europas und der übrigen Welt in immer engerer Zusammenarbeit und in freundschaftlichstem Kontakt zu stehen, wissen, daß Europa schon sehr, sehr viel weiter ist, als viele wissen.
Wir alle wissen aus der Geschichte der Einigung der Nationalstaaten, daß dies die wichtigste Voraussetzung der Integration ist und nicht der in die Luft geworfene Entwurf utopischer Verfassungen: der Integrationswille der Gehirne und der Herzen der Menschen und der Völker, die zusammenkommen wollen. Dieser Integrationswille lebt. Auch der kontinentale Integrationswille ist nicht erloschen. Wir werden in voller Loyalität gegenüber den eingegangenen Verpflichtungen daran weiterarbeiten.
Wir werden, davon bin ich überzeugt, allen Schwierigkeiten zum Trotz auch mit unserem französischen Nachbarvolk immer enger zusammenarbeiten. Und es wird der Tag kommen, und wir werden ihn erleben, meine Damen und Herren, wo die Fahnen des Sieges der europäischen Einigung über unseren Häuptern flattern werden.
Der Tag wird kommen, und Sie, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, werden dann hoffentlich die Größe des Herzens haben, mit in die Hymnen des Sieges einzustimmen.