Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Redner der zweiten Runde einer parlamentarischen Debatte haben in erster Linie die Aufgabe, auf das vor ihnen Gesagte einzugehen, in mehrfacher Weise: sie haben die vorgebrachten Argumente auf ihre Schlüssigkeit zu prüfen. Sie haben vielleicht auch das eine oder andere Gesagte richtigzustellen, und schließlich kann es auch notwendig sein, das von den Vorrednern angefangene Gewebe weiterzuweben.
Ich will mich also zunächst einigen meiner Vorredner zuwenden, zunächst dem Kollegen Dr. Dehler — der leider nicht anwesend ist —, der uns in so sympathischer Weise als Praeceptor Germaniae Lektionen erteilt hat, wie wir uns in diesem Hause verhalten sollten. Er hat das in wirklich sehr sympathischer Weise getan, ganz in der
Art seines großen Landsmannes Jean Paul, dem wir die Figur des Schulmeisterleins Wuz verdanken.
Er hat sehr darüber geklagt, daß man in diesem Raume Thesen und Antithesen aufstelle und gewissermaßen plädiere. Nun, ich glaube nicht, daß wir so empfindlich sein sollten. Das Aufstellen von Thesen und Antithesen ist doch schließlich das Lebensblut der parlamentarischen Diskussion, es ist doch vielleicht das Lebensblut der Demokratie überhaupt!
Ich meine, wir sollten uns auch nicht davor fürchten, uns gelegentlich die Wahrheit oder was wir dafür halten, recht deutlich zu sagen. Auch davon können wir nur profitieren. Und wenn wir hier profitieren, glaube ich, profitiert von einem solchen Prozeß das ganze deutsche Volk.
— Wir sollten es versuchen, Herr Kollege! Auch hier beginnt man am besten zu Hause.
Ich hatte, als der Kollege Dehler sich meldete, nach den Reden und Interviews der letzten Wochen und Monate eigentlich eine Fanfare von ihm erwartet.
Statt dessen hat er reichlich elegisch gesprochen. Er hat sogar einen großen lateinischen Elegiker zitiert, den Dichter Terenz, der manchem von uns in seiner Gymnasialzeit sehr viele Schwierigkeiten gemacht hat — nicht nur grammatikalische —;
denn Terenz spricht ja von Dingen, die man, wenigstens zu meiner Zeit, in der Obersekunda in ihrer ganzen Tragweite noch nicht zu übersehen vermochte.
Herr Kollege Dehler hat geglaubt, den Begriff der Integration Terenz entlehnen zu können. Nun, mich hat sein Zitat erfreut. Aber vielleicht sollte man doch, wenn man von Integration spricht, nicht meinen, daß der politische Begriff sich mit dem elegischen völlig decke. In der Liebe handelt es sich — Terenz sagt uns das — im wesentlichen um die Stillung von Gemütsbedürfnissen.
In der Politik handelt es sich darum, daß man die Verantwortung für Pläne zu übernehmen hat, von denen Wohl und Wehe der Völker abhängen können.
Darum muß man sich auch fragen, ob das Bauwerk, das man errichten will, hält oder nicht hält; und da genügen im allgemeinen, im Gegensatz zu der Welt des Terenz, gute Gefühle und ein gemeinsames Kopfkissen nicht.
Ich glaube, daß man sich da mehr dem anderen Begriff der Integration zuwenden müsse, dem, den wir — in der Schule sagten wir: zu unserem Leidwesen — Sir Isaac Newton und Leibniz verdanken, dem mathematischen Begriff nämlich, also
den Rechnungsmethoden, deren sich die Statiker bedienen, wenn sie einen Entwurf daraufhin durchrechnen, ob er trägt oder nicht. Ich glaube, daß man diesen Aspekt des Integrationsproblems vielleicht nicht genug im Auge behalten hat, als man an diese Vertragswerke ging.
Herr Dehler hat auch gesagt, er bereue nichts. Er soll auch gar nicht bereuen. Warum auch? Mit Reue kommt man in der Politik nicht viel weiter. Aber er sollte vielleicht etwas aus seinen Mißerfolgen lernen, und dazu sind wir hier.
Er sagte, „unsere Politik ist nicht gescheitert" — auch Herr von Brentano hat das gesagt —; „denn immerhin haben von sechs Vertragspartnern fünf zugestimmt". Nur einer habe ja nein gesagt. Damit kommen wir zum alten Problem der Kette und der Kettenglieder. Wenn ich mir vornehme, eine Kette zu schmieden, die sechs Glieder braucht, um zu halten, und ich täusche mich bei der Einschätzung des Metalls eines dieser sechs Kettenglieder, dann nützen mir alle anderen fünf Glieder nichts; dann ist die Kette eben nicht zustande gekommen, und ich kann nichts daran aufhängen!
Und in einem solchen Fall spricht man davon, daß ein Vorhaben gescheitert ist. Man braucht das nicht als Beschimpfung zu nehmen, es ist auch keine Schande. Man kann sich in der Politik wirklich auch bei bestem Wissen, bei bestem Wollen täuschen.
Man hat sich bei dieser Integrationspolitik — wenn ich das Beispiel von den Kettengliedern weiter ausführen darf — in einem besonders getäuscht. Man hat geglaubt, es genüge, mit dem Mann einig zu sein, der sich nach den Kompetenzverteilungen der französischen Verfassung im Augenblick gerade als Sprecher des „legalen" Frankreichs fühlen durfte. Mit so jemand kann man in den laufenden Geschäften recht viel tun; es ist aber sehr schwer möglich, mit so einem Vereinbarungen zu treffen, die an den Bestand der Nation selber gehen, und die Integrationspolitik sollte das ja tun. In diesem Falle wird man im allgemeinen nur dann Erfolg haben, wenn der Mann, der „le pays légal", wie die Franzosen sagen, vertritt, auch gleichzeitig der Sprecher des „pays réel" ist, der der nicht nur „legalen" sondern „realen" Wirklichkeit des Volkes, der Wirklichkeit des Landes.
Man hat sich schon einmal in diesem Punkte getäuscht, 1919, als man glaubte, in Präsident Wilson den Mann zu sehen, der Amerika sei. Er war es aber nicht; er war nur der Vertreter der juristischen Person „Vereinigte Staaten von Amerika", und eben nicht die Verkörperung dessen, was das Volk der Vereinigten Staaten umtrieb. Deswegen hat ihm der Senat die Ratifikation des Versailler Vertrags und der Völkerbundssatzung verweigert.
Dabei sollte man eines nicht übersehen — das ist schmerzlich für uns; aber ich glaube, es ist eine Tatsache —, daß, während uns Deutschen der Fortschritt vom Nationalstaat zum Supranationalen, zum Universellen als ein Fortschritt schlechthin erscheint, den Franzosen — und das ist eine lange, alte Tradition — die Entwicklung aus dem europäischen Universellen zum Nationalstaat als der eigentliche Fortschritt in der Geschichte erscheint und das Allgemeinere, das Universelle als etwas
Vergangenes, Unvollkommenes gedeutet wird. Deswegen, sagen die Franzosen, liebten die Deutschen das Universelle so sehr, eben weil es das Unvollkommene, das „Werdende" sei. Das können wir bedauern, wir müssen es sogar bedauern, es ist aber eine Realität, die zur Wirklichkeit Frankreichs gehört, eine Wirklichkeit, mit der man hätte besser rechnen müssen.
Man hat das, glaube ich, nicht in genügendem Maße getan. Auch das sage ich nicht, um Vorwürfe zu erheben, sondern um etwas ins richtige Licht zu stellen.
Nun zu den Texten, die uns vorliegen! Ich habe nicht die Absicht, die Einzelbestimmungen der Texte zu diskutieren. Dazu sind sie zu allgemein. Nur eines möchte ich kurz anführen: Es ist doch bezeichnend, daß überall, wo es sich um Verpflichtungen Deutschlands handelt, die Texte sehr konkret sind; überall aber, wo es sich um Verpflichtungen der anderen handelt, sind die Texte sehr allgemein, sehr interpretationsfähig und sehr offen gehalten. Das gibt keine besonders gute Verhandlungsposition für das Aushandeln der „Texte".
In der Londoner Akte selber ist eine Bestimmung, deren Tragweite ich nicht recht verstehe. Vielleicht sind meine Bedenken unbegründet, aber ich möchte Aufklärung haben. Es heißt da, daß die Bundesregierung berechtigt sei, „für Deutschland als Vertreterin des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten zu sprechen". Wenn das so zu verstehen ist, daß die Bundesregierung Treuhänderin für die gesamtdeutschen Interessen sein soll, ist die Bestimmung ausgezeichnet. Aber das bedeutet dann, daß die Bundesregierung zwar für Gesamtdeutschland Rechte geltend machen kann, wo auch immer solche Rechte zu wahren sind. daß sie aber nicht über die Befugnis eines Treuhänders hinaus, also über Provisorisches hinaus Bindungen für Gesamtdeutschland eingehen kann. Ich bin stutzig geworden, weil ich in einer angesehenen Schweizer Zeitung einen Ausspruch des belgischen Außenministers Spaak zitiert gefunden habe. Wenn die Zeitung richtig berichtet, hat er dem Sinne nach gesagt: Für uns ist die Bundesregierung die gesamtdeutsche Regierung. Wenn die Bestimmung in der Londoner Akte so verstanden werden sollte, dann müßte ich diese Formulierung für eine schlimme Sache halten. Das würde dann bedeuten, daß zum mindesten einzelne der Vertragspartner der Meinung sein könnten, daß die Bundesregierung rechtlich in der Lage sei, Bindungen dauernder Art für ein künftiges wiedervereinigtes Deutschland zu übernehmen. Das ist zwar rechtlich eine Unmöglichkeit — das wissen wir —, aber auch Fiktionen können sich ja politisch auswirken und Ursachenreihen in Gang setzen, die man am Anfang vielleicht übersehen hat. Für manche mag in einer solchen Bestimmung ein Anreiz liegen, in diesem Vertragswerk einen Trend dahin erkennen zu wollen: Gesamtdeutschland werde einmal als Ausweitung des Gebiets der Bundesrepublik entstehen. Das wäre nicht nur im Widerspruch zu unserem Grundgesetz, sondern auch, was die Substanz des Politischen betrifft, eine höchst verhängnisvolle Auffassung; denn die Wiedervereinigung Deutschlands, oder sagen wir besser — hier stimme ich Herrn von Merkatz völlig zu —: die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands kann doch nur durch einen Gesamtakt der ganzen deutschen Nation erfolgen und nicht durch Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Bonner Grundgesetzes.
Ein anderes Wort in den Texten, das mich bedenklich gemacht hat: die Art und Weise, wie dort das Wort „Grenze" verwendet wird. Es wird in einer Weise verwendet, die den Anschein erweckt, als wolle man mit diesem Wort wirklich eine echte Staatsgrenze bezeichnen. Ich hoffe, daß ich mich täusche, und daß dieser Ausdruck eben nur in einer ganz allgemeinen Weise verwendet worden ist. Wir haben im Bundestag — Herr von Merkatz wird sich erinnern — mit vollem Bewußtsein diesen Ausdruck immer vermieden. Wir haben sogar das Wort „Gebiet der Bundesrepublik" vermieden und immer nur vom „Anwendungsbereich des Grundgesetzes" gesprochen, nicht weil wir griffelspitzende Juristen gewesen wären, sondern weil wir vermeiden wollten, daß man dem Provisorium Bundesrepublik echte Staatsattribute zuordnete, die nur einem endgültigen Staatswesen zukommen; daraus ergäben sich doch' Konsequenzen sehr weittragender Art, die für die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands Voraussetzungen schaffen und bestehende Voraussetzungen nehmen würden, die wir einfach nicht verantworten könnten.
Ich habe in der Regierungserklärung vermißt, daß bei der Diskussion des Brüsseler Paktes, des modifizierten Brüsseler Paktes, auf die Frage nicht eingegangen wurde, ob die zwischen Frankreich und Sowjetrußland und die zwischen Großbritannien und Sowjetrußland bestehenden Bündnisverträge noch als weiter geltend betrachtet werden oder ob man sie als stillschweigend außer Kraft getreten ansieht. Im einen wie im anderen Fall muß dazu eine ganz klare Erklärung der Bundesregierung diesem Hause gegeben werden. Denn die Möglichkeiten, mit den neuen Verträgen wirksam und auf sicherem Grunde Politik zu machen, hängen entscheidend davon ab, ob nicht der eine oder andere Vertragspartner zu den Bindungen aus diesem Vertrag an uns noch weitere Bindungen an eine andere Macht hat, nämlich die Sowjetunion.
In der Debatte ist erfreulicherweise manches Grundsätzliche über den möglichen Ansatz einer deutschen Politik, einer Politik, die auf die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands ausgeht, gesagt worden. Der Ausgangspunkt für die Politik, die zu den Vertragswerken geführt hat, ist im allgemeinen der gewesen — in Straßburg konnten wir das vor einigen Wochen noch erleben —, daß man auf der anderen Seite fragte: Kann man und muß man die Deutschen wieder bewaffnen — es sei dies die einzige Frage, auf die es ankomme —, und wenn ja, was muß geschehen, um die Deutschen daran zu hindern, mit ihren Waffen Böses anzurichten? Auf der deutschen Seite, auf Ihrer Seite, ist bald die Fragestellung: Wir brauchen jetzt, weil wir bedroht sind, zu unserer und des ganzen freien Westens Sicherheit Waffen auch in Deutschland. Bis zu welchem Preis dürfen wir gehen, um diese Waffen zu erhalten?
Ich glaube, daß die ganze Fragestellung falsch ist, zumindest wenn man sie zum Ansatz der Gleichung machen will, mit der man die Lösung sucht. Denn hierbei wird ein sekundäres Element zu einem primär en Problem gemacht. Politisch gesehen muß man doch so fragen: Was für eine Politik muß getrieben werden, damit der Kalte Krieg zu Ende gehen kann, dieser Kalte Krieg, der ein kalter Weltkrieg ist?
Wir wissen doch genau: man kann ihn nicht dadurch
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