Rede von
Dr.
Konrad
Adenauer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Die Bundesregierung hat den Wunsch, das Hohe Haus unmittelbar nach dem Abschluß der Londoner Konferenz über den Verlauf und die Ergebnisse der Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den weiteren acht an der Konferenz beteiligten Mächten zu unterrichten.
Ich darf zunächst kurz die Vorgänge darstellen, die zur Einberufung der Londoner Konferenz geführt haben. Die Bemühungen, eine wirksame Verteidigung Europas aufzubauen und den freien europäischen Nationen Sicherheit zu gewährleisten, hatten sich seit zwei Jahren in erster Linie darauf gerichtet, den Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft zu verwirklichen.
Nachdem die Benelux-Länder und die Bundesrepublik den EVG-Vertrag ratifiziert hatten und auch die Ratifikation des Deutschland-Vertrages in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien und der Bundesrepublik durchgeführt worden war, stand die für das Ganze entscheidende Frage, ob
das französische Parlament die Verträge annehmen würde, im Mittelpunkt einer besorgten Aufmerksamkeit. Der französische Ministerpräsident Mendès-France hatte bei seinem Amtsantritt erklärt, daß er es sich zum Ziel gesetzt habe, eine schnelle Entscheidung des französischen Parlaments über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft herbeizuführen.
In Frankreich waren die Meinungen geteilt. Die einen wollten nationale Vorrechte nicht aufgeben, die anderen erblickten in vornehmlich supranationalen Lösungen einen gangbaren Weg. Auf beiden Seiten haben zweifellos ernste Überzeugungen die Haltung bestimmt.
Alle Versuche, die Meinungsverschiedenheiten zu überwinden, scheiterten. Die französische Regierung glaubte, die Vorlage des Vertrages mit ihrer eigenen Autorität nur unterstützen zu können, wenn die supranationale Struktur der Verteidigungsgemeinschaft abgeschwächt würde. Die Unterzeichnermächte des Vertrages kamen am 18. August in Brüssel zusammen, um sich mit den Vorschlägen der französischen Regierung zu befassen. Alle französischen Vorschläge ließen sich jedoch ohne eine neue parlamentarische Behandlung des Vertrages durch alle Unterzeichnerstaaten nicht verwirklichen. Auch waren sie nach der Auffassung aller anderen Unterzeichnerstaaten der EVG sachlich nicht durchführbar.
In dem Bemühen, den französischen Wünschen entgegenzukommen, wurde ein vom belgischen Außenminister entworfener Gegenvorschlag unterbreitet, der aber der französischen Delegation nicht genügte. Die Konferenz wurde am 22. August ergebnislos beendet. Trotz der unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten zwischen der französischen Delegation und der Auffassung der übrigen Unterzeichnermächte wurde in Brüssel doch deutlich, daß alle beteiligten Regierungen nach wie vor von der Notwendigkeit überzeugt waren, daß das Werk der europäischen Einigung fortgesetzt werden müsse. niese Überzeugung fand im Schlußkommuniqué der Konferenz ihren Ausdruck. Es heißt dort wörtlich:
Die Vertreter der sechs Regierungen haben festgestellt, daß die Hauptziele ihrer europäischen Politik: Verstärkung der europäischen Zusammenarbeit zum Schutze Westeuropas gegen die Kräfte, die es bedrohen, Vermeidung jeglicher Neutralisierung Deutschlands, Beitrag zur Wiedervereinigung Deutschlands und zu seiner Beteiligung an der gemeinsamen Verteidigung, Suche nach einer politischen und wirtschaftlichen Formel der westlichen Integration, unverändert bleiben.
Der Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft wurde durch die französische Nationalversammlung am 30. August abgelehnt. Es wurde dadurch, meine Damen und meine Herren, in der ganzen freien Welt eine akute Krise ausgelöst.
Die Bundesregierung hat 48 Stunden nach diesem Entscheid in einem Kabinettsbeschluß ihre Linie für die zukünftige Führung der Außenpolitik bekanntgegeben. In dem Beschluß heißt es:
In konsequenter Fortsetzung der bisherigen Linie der deutschen Außenpolitik und in der Überzeugung, daß nur auf diesem Wege die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit herbeigeführt werden kann, wurden folgende Ziele festgelegt:
1. Fortführung der Politik der europäischen Einigung mit allen dazu bereiten Völkern und auf allen dazu geeigneten Gebieten, Konsultationen über die weitere Behandlung der militärischen Integration mit den Ländern, die die EVG ratifiziert haben oder unmittelbar vor der Ratifizierung stehen;
2. Wiederherstellung der Souveränität;
3. Teilnahme an der westlichen Verteidigung ohne Diskriminierung;
4. rechtliche Regelung des Aufenthalts von Truppen anderer Länder in der Bundesrepublik durch Abschluß von Verträgen;
5. unverzügliche Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien.
Dieser Beschluß der Bundesregierung ist die Direktive für das deutsche Vorgehen in dem Zeitabschnitt bis zur Londoner Konferenz und bei den Verhandlungen in London selbst geblieben.
Die Einheit der freien Welt, die die wirksamste Garantie für die Erhaltung der Sicherheit und Freiheit der westlichen Nationen darstellt, war in diesen Wochen ernsthaft bedroht. Die Gefahr, daß in Europa ein politisch und militärisch unbestimmter Raum, ein Vakuum entstehen könnte, mußte so schnell wie möglich abgewendet werden. Eine genaue Analyse der weltpolitischen Entwicklung seit dem Ende der Berliner Konferenz ließ keine Elemente erkennen, die die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses der freien europäischen Staaten abschwächten.
Im Gegenteil, unbestreitbar hatten die kommunistisch geführten Länder eine Reihe von wichtigen Vorteilen erreichen können, die sie in der Hoffnung bestärken mußten, auch in Europa weiteren Boden zu gewinnen.
Eine derartige Aussicht konnte vor allen Dingen für die Entwicklung in Deutschland verhängnisvoll werden. Die Verwirklichung der Politik der Zusammenarbeit mit der westlichen Welt, die die Bundesregierung vom Anbeginn ihrer Tätigkeit an verfolgt hatte, durfte nicht länger hinausgezögert werden, wenn nicht das deutsche Vertrauen in die Solidarität der freien Nationen erschüttert werden sollte.
Die drohende Gefahr eines inneren Zerfalls der europäischen Gemeinschaft und die verhängnisvollen Auswirkungen dieses Vorgangs für die freie Welt wurden innerhalb und außerhalb Europas mit voller Klarheit und Schärfe erkannt.
Wie stellte sich insbesondere die Lage nach dem Wegfall der EVG für Deutschland dar? Die Folgen des Scheiterns der EVG für Deutschland sind vielen nicht recht zum Bewußtsein gekommen.
Die Vorteile des Deutschland-Vertrages waren weggefallen. Die Verpflichtung der Westmächte, die Wiedervereinigung und einen in Freiheit ausgehandelten Friedensvertrag für Deutschland herbeizuführen, sowie die Verabredung einer gemeinsamen Politik zu diesem Zwecke waren nicht mehr vorhanden.
Der Schutz unserer Sicherheit durch die automatische Beistandspflicht der Mitglieder des EVG-Vertrages und Großbritanniens sowie durch die Beistandspflicht der übrigen Mitglieder des NATO-Paktes nach Maßgabe dieses Vertrages bestand nicht mehr. Der Aufbau einer westlichen Verteidigung durch Einbeziehung des deutschen Beitrages, der nicht nur für die Verteidigung des Westens überhaupt, sondern insbesondere für uns von vitaler Bedeutung war, war hinfällig geworden. Es bestand die Gefahr, meine Damen und Herren, daß die Vereinigten Staaten ihre Truppen aus Europa zurückziehen würden.
Der britische Außenminister, Mr. Eden, suchte am 11. September und an den darauffolgenden Tagen die Unterzeichnermächte des EVG-Vertrages auf, um ihnen die Auffassung der britischen Regierung darzulegen und um sich selbst einen Überblick über die Absichten der EVG-Staaten zu verschaffen. Seine Überlegungen bewegten sich etwa auf der folgenden Linie: 1. Der Besatzungszustand in der Bundesrepublik sollte zu einem frühen Zeitpunkt beendet werden. 2. Der Brüsseler Pakt sollte geändert und die Bundesrepublik und Italien zum Beitritt aufgefordert werden. 3. Die Bundesrepublik sollte in die NATO eintreten und einen Beitrag zur Verteidigung Europas leisten. Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung sollte bei der Verwirklichung dieser Pläne Anwendung finden.
Wenige Tage nach dem Besuch des britischen Außenministers in Bonn fand ein ausführlicher Meinungsaustausch der Bundesregierung mit dem amerikanischen Außenminister, Mr. J. Foster Dulles, in Bonn statt, der ebenfalls dazu beitrug,
geeignete Lösungen zu entwickeln, um die bestehenden Gefahren zu überwinden. Herr Foster Dulles unterstrich in diesem Meinungsaustausch die Gefahr, daß die Vereinigten Staaten sich auf Grund der Ablehnung der EVG vom Kontinent zurückziehen würden, wenn nicht in absehbarer Zeit konkrete Ergebnisse hinsichtlich der europäischen Einigung sie davon überzeugten, daß die europäische Integration trotz dieses Rückschlags fortgesetzt werde.
Hinsichtlich der deutschen Souveränität verwies er auf den einstimmigen Beschluß des amerikanischen Senats vom 30. Juli dieses Jahres, in dem die amerikanische Regierung aufgefordert wird, für den Fall des Scheiterns der EVG die erforderlichen Schritte zur Wiederherstellung der deutschen Souveränität und für einen deutschen Verteidigungsbeitrag zu tun.
Die Bundesregierung unterhielt in diesem Zeitabschnitt auch mit allen anderen Mächten ständige und intensive diplomatische Kontakte. Als die britische Regierung ihre Einladung zu einer Konferenz auf den 28. September nach London an die sechs EVG-Mächte, die Vereinigten Staaten und Kanada ergehen ließ, hatte sich die Bundesregierung Gewißheit verschaffen können, daß die inzwischen entwickelten Pläne eine hinreichende Grundlage für fruchtbare Verhandlungen darstellten. Sie nahm daher die Einladung zur Konferenz an.
Soweit, meine Damen und Herren, zur Vorgeschichte der Londoner Konferenz. Daß sie zustande kam, ist der britischen Regierung, dem britischen Premierminister Sir Winston Churchill und insbesondere dem britischen Außenminister Eden zu danken.
Es wird ein hervorragendes Verdienst des britischen Außenministers bleiben, daß sich die Konferenz der Neun Mächte in einem Geist der Kooperation zusammenfand und das umfangreiche Arbeitsprogramm dieses für das Schicksal der westlichen Welt entscheidenden Zusammentreffens bewältigt werden konnte.
Ich möchte nicht unerwähnt lassen, daß auch die technische Vorbereitung und Durchführung der Konferenz vorzüglich organisiert waren. Ich möchte hier auch dafür danken, daß die deutsche Delegation, die zum ersten Male an einer internationalen Konferenz der Großmächte von weltpolitischer Bedeutung teilnahm, im Kreise der übrigen Delegationen eine freundschaftliche Aufnahme gefunden hat.
Bei der Darstellung der Ergebnisse der Londoner Konferenz werde ich im wesentlichen die Reihenfolge der behandelten Themen beibehalten, wie sie in der Schlußakte der Konferenz, die von den neun Außenministern unterzeichnet wurde, enthalten ist. Die in der Schlußakte der Londoner Konferenz niedergelegten Beschlüsse regeln alle grundsätzlichen Fragen; sie sollen unverzüglich formuliert werden, so daß die erforderlichen Erklärungen, Abmachungen und Verträge auf den für die zweite Oktoberhälfte in Aussicht genommenen Konferenzen der Vier Mächte, der Neun Mächte und der NATO-Mächte unterzeichnet werden können. Ihr Inkrafttreten hängt von der parlamentarischen Behandlung innerhalb der verschiedenen Vertragsstaaten ab.
Es waren drei Gruppen von Problemen zu lösen: erstens die völkerrechtliche Stellung der Bundesrepublik, zweitens der europäische Zusammenschluß auf der Grundlage des Brüsseler Paktes, drittens ein deutscher Verteidigungsbeitrag im Rahmen der NATO.
Die erste Gruppe war von den Vier Mächten — Frankreich, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten, Bundesrepublik —, die beiden anderen waren von den Neun Mächten zu behandeln. Trotzdem bilden alle Beschlüsse Teile einer allgemeinen Regelung; sie formen ein Ganzes.
Im Abschnitt I der Schlußakte erklären die Regierungen Frankreichs, des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten, daß sie die Politik verfolgen, das Besatzungsregime in der Bundesrepublik so bald wie möglich zu beenden, das Besatzungsstatut aufzuheben und die Alliierte Hohe Kommission abzuschaffen. Die drei Regierungen werden weiterhin bestimmte Verantwortlichkeiten in Deutschland wahrnehmen, die sich aus der internationalen Lage ergeben. Es handelt sich hierbei um die Verpflichtungen, die sich aus den Vier-Mächte-Abmachungen hinsichtlich Berlins und Gesamtdeutschlands ergeben und an deren Aufrechterhaltung wir ein besonderes Interesse haben. Die hierzu vereinbarten Abmachungen können entweder vor den Abmachungen über den deutschen Verteidigungsbeitrag oder gleichzeitig mit ihnen in Kraft gesetzt werden. In der Zwischenzeit weisen die Drei Regierungen ihre Hohen Korn-
missare an, unverzüglich im Geiste dieser Politik zu handeln. Ein Junktim zwischen der Wiederherstellung der Souveränität und der Leistung eines Verteidigungsbeitrages besteht also nicht mehr. Insbesondere werden die Hohen Kommissare keinen Gebrauch von den Befugnissen machen, die aufgegeben werden sollen, es sei denn im Einvernehmen mit der Bundesregierung.
Neben der Erklärung über die Beendigung des Besatzungsregimes haben die Alliierten in einer besonderen Erklärung die Frage der Wiedervereinigung und die Stellung Deutschlands innerhalb der westlichen Welt behandelt. Sie erklären:
Erstens. Die Alliierten betrachten die Regierung der Bundesrepublik Deutschland als die einzige deutsche Regierung, die frei und rechtmäßig gebildet wurde und daher berechtigt ist, für Deutschland als Vertreter des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten zu sprechen.
Zweitens. Sie werden sich in ihren Beziehungen mit der Bundesrepublik an die im Art. 2 der Satzung der Vereinten Nationen enthaltenen Grundsätze halten. Das heißt, daß sie die in der UNO aufgestellten Grundsätze des Zusammenlebens der Völker auch auf die Bundesrepublik anwenden. Eine solche Erklärung war nötig, weil die Bundesrepublik j a noch nicht Mitglied der UNO ist.
Drittens. Eine zwischen Deutschland und seinen früheren Gegnern frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für Gesamtdeutschland, welche die Grundlage für einen dauerhaften Frieden legen soll, bleibt ein wesentliches Ziel der alliierten Politik. Die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands muß bis zum Abschluß einer solchen Regelung zurückgestellt werden.
Viertens. Die Schaffung eines völlig freien und vereinigten Deutschlands durch friedliche Mittel bleibt ein grundsätzliches Ziel der Politik der Drei Mächte.
Mit anderen Worten, meine Damen und Herren: die Drei Mächte machen sich das wesentliche Ziel unserer Politik — die Wiedervereinigung — zu eigen und werden mit uns zusammenwirken, um es zu erreichen.
Fünftens. Die Sicherheit und das Wohl Berlins und die Aufrechterhaltung der dortigen Stellung der Drei Mächte werden von den Drei Mächten als wesentliche Elemente des Friedens in der gegenwärtigen internationalen Lage betrachtet. Dementsprechend werden sie innerhalb des Gebiets von Berlin Streitkräfte unterhalten, solange ihre Verantwortlichkeiten dies erfordern. Sie bekräftigen erneut, daß sie jeden Angriff gegen Berlin, von welcher Seite er auch kommen mag, als einen Angriff auf ihre Streitkräfte und auf sich selbst behandeln werden.
Ich darf mit Nachdruck darauf hinweisen, daß sich die deutsche Delegation bei den Verhandlungen über diese Erklärung besonders für die Aufrechterhaltung der Sicherheit und der Freiheit Berlins eingesetzt hat.
Wir haben bei den Partnerstaaten volles Verständnis für die besondere Lage dieser Stadt und ihren Kampf für die Erhaltung der Freiheit gefunden. Wenn das Besatzungsregime dort aufrechterhalten werden muß, so doch nur, weil dies zur Sicherung der Freiheit in Berlin erforderlich ist.
Für diese fünf Punkte gilt, daß alle anderen NATO-Staaten aufgefordert werden, sich diesen Erklärungen anzuschließen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat sich ihrerseits bereit erklärt, ihre Politik gemäß den Grundsätzen der Satzung der Vereinten Nationen zu gestalten, und nimmt die in Art. 2 dieser Satzung enthaltenen Verpflichtungen an. Nach ihrem Beitritt zum Nordatlantikpakt und zum Brüsseler Vertrag erklärt die Bundesrepublik Deutschland, daß sie sich aller Maßnahmen enthalten wird, die mit dem streng defensiven Charakter dieser beiden Verträge unvereinbar sind. Insbesondere verpflichtet sich die Bundesrepublik Deutschland, die Wiedervereinigung Deutschlands oder die Änderung der gegenwärtigen Grenzen der Bundesrepublik Deutschland nicht mit gewaltsamen Mitteln herbeizuführen und alle zwischen der Bundesrepublik und anderen Staaten gegebenenfalls entstehenden Streitfragen mit friedlichen Mitteln zu lösen.
Zusammenfassend können wir feststellen: Das Bonner Vertragswerk wird überprüft und umgeformt. Diejenigen Vertragsteile, die überholt oder der neuen Situation nicht mehr angemessen sind, werden gestrichen. Es ist nicht daran gedacht, alle Gegenstände neu zu verhandeln. Es wird in aller Deutlichkeit klargestellt werden, daß die Bundesrepublik die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten haben wird.
Die Notstandsklausel entfällt. Bis zu dem Augenblick, in dem sich die Bundesrepublik aus eigenem Recht die Möglichkeit schafft, bei einem Notstand die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, können die Drei Regierungen noch eigene Maßnahmen für den Schutz ihrer Truppen treffen, auch dies jedoch nur unter der Voraussetzung, daß auch die Bundesregierung solche Maßnahmen für erforderlich hält. Ein neuer Truppenvertrag nach dem Modell des NATO-Truppenstatuts wird ausgehandelt werden, um den Truppenvertrag des Bonner Vertragswerks abzulösen.
Auf finanziellem Gebiete ist es gelungen, zu einer Gesamtvereinbarung zu kommen, die das Auslaufen des Besatzungskostenrechts, die Stationierungsverhältnisse während der Interimszeit und gewisse Finanzfragen für die Zeit nach dem NATO-Eintritt regelt. Die Bundesrepublik wird schnell auch finanziell den Status aller übrigen NATO-Staaten erhalten. Es ist Sorge getragen, daß über alle Verpflichtungen neu verhandelt wird, wenn der Eintritt in die NATO nicht bis zum 30. Juni 1955 vollzogen sein sollte.
Ich komme jetzt zur Behandlung des Brüsseler Vertrags. Ich darf zunächst folgendes in Erinnerung rufen. Der Brüsseler Vertrag wurde am 17. März 1948 zwischen Belgien, Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden und Großbritannien geschlossen. Er setzte sich zum Ziel, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bindungen zwischen diesen Staaten zu verstärken. Die Unterzeichnermächte verpflichteten sich ferner zu gegenseitigem Beistand und dazu, sich einer Erneuerung einer deutschen An-
griffspolitik zu widersetzen. Keiner der Vertragspartner darf sich an irgendeiner Allianz beteiligen, die sich gegen einen der Mitgliedstaaten richtet. Der Vertrag stand weiteren Staaten, die sich zu den gleichen Zielen bekennen, offen. Er war auf 50 Jahre geschlossen.
Nunmehr fordern die ursprünglichen Unterzeichnerstaaten des Brüsseler Vertrags die Bundesrepublik und Italien auf, dem Brüsseler Pakt beizutreten. Diese Tatsache, meine Damen und Herren, beleuchtet mehr als jedes andere Ereignis die veränderte Lage.
Dem Vertrag wird die betonte Spitze gegen Deutschland genommen. Deutschland und Italien treten als neue Mitglieder ein. Die gegenseitige automatische Beistandsgarantie wird auf die beiden neuen Mitgliedstaaten ausgedehnt.
In der Londoner Schlußakte heißt es unter dem Titel Brüsseler Vertrag:
Der Brüsseler Vertrag wird verstärkt und ausgebaut, um ihn zu einem wirksameren Kern der europäischen Integration zu gestalten.
Zu diesem Zwecke sind folgende Abmachungen vereinbart worden:
a) Die Bundesrepublik Deutschland und Italien werden aufgefordert werden, dem Vertrag beizutreten, der in geeigneter Weise geändert wird, um dem Ziel der europäischen Einheit Nachdruck zu verleihen; die beiden Staaten haben sich zu diesem Beitritt bereit erklärt. Das System der gegenseitigen automatischen Beistandsleistung im Angriffsfalle wird damit auf die Bundesrepublik Deutschland und
Italien ausgedehnt.
b) Die Struktur des Brüsseler Vertrags wird verstärkt werden. Insbesondere wird der in dem Vertrag vorgesehene Konsultativrat ein Rat mit Entscheidungsbefugnissen werden.
Im Zusammenhang mit dem deutschen Verteidigungsbeitrag erfährt der Aufgabenbereich des Brüsseler Paktsystems eine weitere Ausdehnung. Ich werde mich dieser Frage zuwenden, sobald ich die Regelung des deutschen Verteidigungsbeitrags näher darlege.
Der Sinn der erweiterten Brüsseler Organisation ist, die Mitgliedstaaten zur Verwirklichung gemeinsamer kultureller, politischer, wirtschaftlicher und militärischer Ziele zusammenzufassen. Die Neun Mächte haben eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Brüsseler Paktsystem und der NATO beschlossen. Das allgemeine Bestreben wird sein, auch die Nordatlantikpakt-Organisation nicht ausschließlich als ein rein militärisches Instrument zu behandeln.
Daß es während der Londoner Verhandlungen gelang, Einigkeit über die Erweiterung und den Ausbau des Brüsseler Pakts herbeizuführen, war nur möglich, weil die britische Regierung in einem revolutionär zu nennenden politischen Entschluß die Verknüpfung Großbritanniens mit dem Schicksal des Kontinents hergestellt hat. Es wird zu den hervorragendsten Zeugnissen britischer Staatskunst gehören, daß der britische Außenminister in einer Erklärung die Verpflichtung zur Stationierung britischer Truppen auf dem Kontinent eingeht und die Belassung der Truppen der Mehrheitsentscheidung des Ministerrats des Brüsseler Pakts unterworfen hat.
Mir scheint diese Erklärung des britischen Außen- ministers, die in Wahrheit — ich wiederhole das Wort — einen revolutionären Akt in der britischen Politik darstellt, von solcher Bedeutung, daß ich sie hier dem Hohen Hause im Wortlaut verlesen möchte:
Das Vereinigte Königreich wird weiterhin auf dem europäischen Festland einschließlich Deutschlands die tatsächliche Stärke der jetzt SACEUR zugeteilten Streitkräfte — vier Divisionen und die taktische Luftwaffe —, oder was immer SACEUR als gleichwertiges Kampfpotential ansieht, unterhalten. Das Vereinigte Königreich verpflichtet sich, diese Streitkräfte nicht gegen den Wunsch der Mehrheit der Mächte des Brüsseler Vertrages zurückzuziehen, die ihre Entscheidung in Kenntnis der Auffassung von SACEUR treffen. Diese Verpflichtung würde mit dem Vorbehalt erfolgen, daß ein akuter Notstand in Übersee die Regierung Ihrer Majestät zwingen könnte, von diesem Verfahren abzuweichen. Falls zu irgendeiner Zeit die Unterhaltung von Streitkräften des Vereinigten Königreiches auf dem europäischen Kontinent eine zu schwere Belastung der auswärtigen Finanzen des Vereinigten Königreiches mit sich bringen sollte, wird das Vereinigte Königreich den Nordatlantikrat ersuchen, die finanziellen Bedingungen zu überprüfen, unter denen die Verbände unterhalten werden.
In diesen Zusammenhang gehört auch die bedeutsame Erklärung des Außenministers der Vereinigten Staaten John Foster Dulles. Der amerikanische Außenminister erklärte mit Ernst und starkem Nachdruck, daß die Vereinigten Staaten die Zusage der Stationierung amerikanischer Truppen auf dem europäischen Kontinent nur dann erneuern könnten, wenn durch die Beschlüsse der Londoner Konferenz begründete Aussichten für die Verwirklichung der europäischen Einheit geschaffen würden. Diese Erklärung ist für die amerikanische Haltung von so großer Bedeutung, daß ich mich verpflichtet fühle, auch sie dem Hohen Hause zu verlesen:
Wenn die Hoffnungen, die in die EVG gesetzt worden sind, sinnvoll auf die Abmachungen übertragen werden können, die das Ergebnis dieser Konferenz sein werden, dann wäre ich bestimmt bereit, dem Präsidenten zu empfehlen, die Zusicherung zu erneuern, die er im letzten Frühjahr im Zusammenhang mit dem Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft angeboten hat. Diese Zusicherung würde dahin gehen, daß die Vereinigten Staaten weiterhin in Europa einschließlich Deutschlands die Verbände ihrer Streitkräfte belassen werden, die gegebenenfalls erforderlich und angemessen sind, um ihren fairen Anteil zu den Streitkräften beizutragen, die für die gemeinsame Verteidigung des nordatlantischen Gebiets benötigt werden, solange eine Bedrohung dieses Gebietes besteht, und diese Streitkräfte im Einklang mit der vereinbarten Nordatlantikstrategie für die Verteidigung dieses Gebietes einsetzen werden.
Auch der kanadische Außenminister hat in London in einer Erklärung .die neue Form des Brüsseler Pakts begrüßt und ihm seine Unterstützung im Rahmen der NATO zugesagt.
Wie die EVG so soll sich nach dem Willen der neun auf der Londoner Konferenz vertretenen
Mächte auch das System des Brüsseler Vertrages als europäischer Eckpfeiler in den Nordatlantikpakt einfügen. Infolgedessen steht auch der deutsche Beitrag zur Verteidigung Europas in einer engen Verknüpfung zu beiden Vertragssystemen. Die Bundesrepublik soll Mitglied der NATO werden. Ihr militärischer Beitrag im Rahmen der Verteidigungsorganisation des Atlantikpakts wird unter den gleichen Bedingungen erfolgen, die auch für alle anderen Mitgliedstaaten des Brüsseler Pakts gelten. Es heißt dazu in dem mit „NATO" bezeichneten Kapitel der Schlußakte:
Die auf der Konferenz anwesenden Mitgliedstaaten von NATO vereinbarten, bei dem nächsten Ministertreffen des Nordatlantikrats zu empfehlen, daß die Bundesrepublik Deutschland unverzüglich zum Beitritt aufgefordert werden soll.
Ferner wird vereinbart, NATO zu empfehlen, ihre Organisation in Europa wesentlich zu verstärken.
Die Bestimmungen über die Streitkräfte selbst enthalten folgende wesentliche Punkte, die teils im Rahmen des Brüsseler Pakts, teils im Rahmen von NATO behandelt werden:
Alle Streitkräfte der Staaten des Brüsseler Pakts auf dem Kontinent werden dem militärischen Oberkommando der NATO unterstellt. Der Umfang dieser Streitkräfte wird durch ein Sonderabkommen festgelegt werden. Dieses Abkommen wird von den Brüsseler-Pakt-Staaten abgeschlossen und von den übrigen NATO-Staaten gebilligt werden. Der Umfang der deutschen Streitkräfte wird dem des EVG-Vertrages entsprechen. Durch besondere Bestimmungen ist sichergestellt, daß die Gliederung dieser Streitkräfte ständig den fortschreitenden
militärischen Erkenntnissen angepaßt bleibt.
Der große Wert dieser Vereinbarung liegt in der Bestimmung, nach der alle Truppen dem Oberkommando der NATO unterstellt werden. Dadurch wird eine einheitliche Führung hergestellt. Dies gilt auch für alle auf dem Kontinent befindlichen britischen Truppen. Der innere Zusammenhalt all dieser Truppen wird dadurch gefestigt werden, daß sie integriert, d. h. gemischt werden, soweit die militärische Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit dies zuläßt. Ebenso wird eine einheitliche Versorgungsorganisation geschaffen werden. Die Kommandobehörde der NATO wird das aus ihrer Verantwortung folgende Inspektionsrecht besitzen.
Auch für die Streitkräfte auf dem Kontinent, die nicht dem NATO-Oberkommando unterstellt werden sollen, gelten einheitliche Regeln für alle Staaten. Hier handelt es sich um Kräfte der Heimatverteidigung und der Polizei. Nur im Rahmen der allgemeinen in der NATO gültigen Bestimmungen wird es ferner erlaubt sein, Ersatztruppenteile oder ähnliche Einrichtungen für überseeische Streitkräfte aufrechtzuerhalten.
Die Kontrolle der Innehaltung all dieser Bestimmungen obliegt den militärischen Kommandostellen der NATO. Die Brüsseler Organisation wird über das Ergebnis dieser Inspektionen unterrichtet.
Außerdem wird im Rahmen des Brüsseler Pakts eine Stelle geschaffen, die eine Kontrolle der Rüstung und Bewaffnung für alle Länder durchzuführen hat. Hierzu haben die Mächte des Brüsseler Pakts untereinander gewisse Verbote der Herstellung bestimmter Waffen vereinbart. In diesem Zusammenhang haben die Bundesrepublik, Belgien
und Holland freiwillig auf die Herstellung von Waffen für die Atomkriegführung sowie für den bakteriologischen und chemischen Krieg verzichtet. Ferner hat die Bundesrepublik verzichtet auf die Herstellung von weittragenden ferngelenkten Geschossen, auf den Bau von großen Kriegsschiffen und von Langstreckenbombern. Es wird Aufgabe des Rüstungsamtes des Brüsseler Pakts sein, die Innehaltung dieser Bestimmungen zu überwachen. Ferner wird durch die gleiche Dienststelle überwacht werden, daß kein Mitgliedstaat mehr schwere Waffen besitzt, als dies nach den entsprechenden NATO-Bestimmungen erforderlich ist. Importierte oder durch die sogenannte Außenhilfe gelieferte Waffen werden in diese Kontrolle einbezogen. Das Rüstungsamt des Brüsseler Pakts wird dem Ministerrat unterstellt sein und soll auch einer parlamentarischen Kontrolle unterliegen, wobei noch zu entscheiden sein wird, welches europäische Gremium diese Kontrolle ausüben soll. Mir liegt besonders daran, festzustellen, daß sich diese Kontrolle im allgemeinen nur auf den Bestand an Waffen bezieht, wie er in den verschiedenen Mitgliedstaaten vorhanden ist. Bei den Waffen, auf die wir freiwillig verzichtet haben, wird eine intensivere Kontrolle dafür sorgen, daß der Verzicht innegehalten wird.
Im Vergleich zu der innerhalb der EVG getroffenen Regelung sind damit für Deutschland folgende Vorteile erzielt worden, erstens: Die zivile Atomforschung und Ausnutzung von Atomenergie sind frei, zweitens: Alle Waffen, die die deutschen Truppen brauchen, dürfen auch in Deutschland hergestellt werden. Die Flugzeugproduktion, abgesehen von strategischen Langstreckenbombern, ist frei.
Damit habe ich, meine Damen und Herren, den Inhalt der Londoner Schlußakte in ihren wichtigsten Teilen dargestellt. Während der Londoner Konferenz gewann ich die Überzeugung, daß alle Teilnehmerstaaten die getroffenen Beschlüsse so schnell wie möglich in Einklang mit den in den einzelnen Ländern geltenden rechtlichen und parlamentarischen Vorschriften verwirklichen wollen. Es kann nicht anders sein, wenn man die Bedeutung der Londoner Ergebnisse für den Weltfrieden richtig einschätzt. In der Schlußakte heißt es dazu:
Diese Abkommen und Vereinbarungen stellen einen bemerkenswerten Beitrag zum Weltfrieden dar. Nunmehr ist ein Westeuropa im Entstehen, das auf der Grundlage der engen Assoziierung des Vereinigten Königreiches mit dem Kontinent und der sich vertiefenden Freundschaft zwischen den Teilnehmerstaaten die atlantische Gemeinschaft festigen wird. Das von der Konferenz ausgearbeitete System wird die Entwicklung der europäischen Einheit und Integration fördern.
Meine Damen und meine Herren! Das Ergebnis von London erfüllt uns mit Genugtuung und mit Hoffnung. Die Tatsache, daß unsere Außenpolitik eine Zeit schwerer Erschütterungen überwinden konnte, scheint mir ein sicherer Beweis dafür zu sein, daß ihre Grundkonzeption richtig war und richtig ist.
Ich halte es für notwendig, daß wir uns in dieser Stunde noch einmal vergegenwärtigen, welche Ziele unser außenpolitisches Handeln in den letzten Jahren bestimmt haben.
Als die Bundesregierung vor fünf Jahren ihre Arbeit aufnahm, ergaben sich folgende zentrale Probleme: 1) die Herstellung der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der Bundesrepublik, 2) die Wiedervereinigung Deutschlands, 3) der Zusammenschluß des freien Europas und die Eingliederung Deutschlands in die europäische Gemeinschaft.
So ungewiß es damals war, ob es gelingen würde, diese Ziele in naher, ja selbst in ferner Zukunft zu erreichen, so sicher war es, daß nur e i n gangbarer Weg zu ihnen führen würde, nämlich die Zusammenarbeit Deutschlands mit den freien Nationen.
Die Politik der Zusammenarbeit mit ihnen konnte deshalb zu einem bestimmenden Faktor für das Verhalten der Bundesregierung werden, weil in allen Kreisen und Schichten des deutschen Volkes nach den Leiden zweier Kriege die Überzeugung tief Wurzel geschlagen hatte, daß nur die Einigung der europäischen Nationen Deutschland und Europa eine Zukunft sichern würde, in der ein Leben in Freiheit und Würde möglich ist.
Diese Einsicht ist der beste Besitz, den die Europäer aus den Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit gewonnen haben. Wenn diese Einsicht verlorengeht oder abnimmt, wachsen die Gefahren, die eine noch immer unruhige und unsichere Welt für Deutschland und für Europa in sich birgt. Der europäische Gedanke hat unser nationales Leben tiefgehend und in der glücklichsten Weise beeinflußt. Die Deutschen haben dem reaktionären Nationalismus abgesagt.
Sie haben in vielen Wahlen die extremen politischen Auffassungen zur Bedeutungslosigkeit verurteilt.
Das deutsche Volk ist auch der Bundesregierung gefolgt, als sie sich mit aller Kraft für das Zustandekommen der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft eingesetzt hat.
Es gibt dafür keinen besseren Beweis als das Wahlergebnis vom 6. September 1953.
Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft sollte durch die Übertragung souveräner Rechte auf eine supranationale Gemeinschaft die europäischen Völker zu einer Einheit zusammenfügen. Wenn wir Europa wirklich wollen, muß diese Einheit unser Ziel bleiben.
Ich wiederhole deshalb auch vor Ihnen die Erklärung, die ich den Neun Mächten gegenüber abgegeben habe, daß die Bundesregierung bereit ist, ihre Streitkräfte in eine integrierte europäische Organisation zu überführen, sobald eine solche geschaffen wird.
Es darf uns mit Genugtuung erfüllen, daß auch der Brüsseler Pakt eine Reihe von Ansätzen zur supranationalen Weiterentwicklung enthält. Auch wenn die Form in diesem oder jenem wechselt, die Einheit Europas bleibt unser unverrückbares Ziel. Ich hoffe, daß es uns gelingen wird, die Organisation des Brüsseler Paktes durch den Beitritt weiterer Staaten auszudehnen und sie tatsächlich, wie es in der Londoner Schlußakte heißt, zu einem Kernpunkt der europäischen Integration zu machen.
Am 26. Juli 1950 faßte der Deutsche Bundestag den Beschluß, für die Bildung eines Europäischen Bundespaktes einzutreten. Er beschloß damals wie folgt:
In der Überzeugung, daß die gegenwärtige Zersplitterung Europas in souveräne Einzelstaaten die europäischen Völker von Tag zu Tag mehr in Elend und Unfreiheit führen muß, tritt der in freien Wahlen berufene Bundestag der Bundesrepublik Deutschland für einen Europäischen Bundespakt ein, wie ihn die Präambel und der Artikel 24 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vorsehen.
Diese Überzeugung, wie sie in dem Beschluß des Bundestags zutage tritt, hat das Handeln der Bundesregierung in den vergangenen Jahren geleitet und bestimmt es unverändert auch heute.
Dieses geistige und politische Klima hat der Bundesregierung erlaubt, überzeugend eine Politik der europäischen und atlantischen Solidarität zu führen. Damit konnte die Bundesrepublik ein in dieser Zeit großer internationaler Spannungen ungewöhnliches Maß an Vertrauen erringen.
Diese Politik der Solidarität hat eine Verkörperung gefunden in den Londoner Abkommen. Die Bundesregierung sieht in diesen Abkommen mehr als die diplomatischen und juristischen Instrumente zur Erledigung internationaler Geschäfte. Sie sieht in ihnen ein Symbol für die Partnerschaft Deutschlands mit einer weltweiten Gemeinschaft freier und mächtiger Staaten, denen wir uns durch gleiche Ideale und Interessen verbunden fühlen.
Die Zusammenarbeit mit unseren Vertragspartnern wird die freie Welt stärken und damit der Erhaltung des Friedens dienen. Sie wird aber auch dazu führen, daß unsere Partner der Lösung der besonderen deutschen Probleme, insbesondere unserem Verlangen nach Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit, ihre volle Unterstützung leihen.
In dieser Gemeinschaft können wir mit größerer Aussicht auf Erfolg unsere Bemühungen für die Wiederherstellung der deutschen Einheit fortsetzen. Unsere außenpolitische Arbeit wird nicht nur für die Bundesrepublik, sondern auch für eine friedliche und gesicherte Zukunft eines wiedervereinigten Deutschlands geleistet.
Das gilt auch in vollem Umfang für die in London geschlossenen Abkommen.
Meine Damen und meine Herren! Die Krise der westlichen Gemeinschaft ist, wie wir hoffen, glücklich überwunden worden. Sie enthielt auch für die
Sicherheit der Bundesrepublik und Berlins Gefahren, die unsere Existenz hätten in Frage stellen können. Auf der Londoner Konferenz sind nunmehr die Grundlagen für eine Arbeitsgemeinschaft der europäischen und atlantischen Welt gelegt worden. Auf ihnen wollen wir das Gebäude einer immer engeren Zusammenarbeit errichten. Dafür ist notwendig, daß alle beteiligten Völker nationalistische Vorstellungen überwinden und sich vom Geiste gegenseitigen Vertrauens leiten lassen.
Wir freuen uns über die Ergebnisse der Londoner Konferenz, weil sie nicht zuletzt unserem Vaterlande zugute kommen. Aber unsere Freude wird erst vollkommen durch die Gewißheit, daß in London die Einheit der westlichen Welt wiederhergestellt wurde, ohne die es auch für uns keinen
Frieden, keine Freiheit und keine Wiedervereinigung gibt.