Herr Präsident! Meine sehr verehrten Abgeordneten! Die Verfassungsschutzkrise ist langsam auf uns zugerollt. Sie kündigte sich an bei der „Vulkan"-Debatte dieses Hauses Ende Juni dieses Jahres. Der Herr Bundesinnenminister hat damals in der Vollkraft seiner Jugend den Angriff als die beste Verteidigung gewählt. Er hat damals die zahlreichen rechtlichen und politischen Hürden mit Bravour — wir müssen das anerkennen — niedergeritten.
Auch bei Zuhörern mit gegensätzlichen Auffassungen ist sein Vorgehen mit Achtung aufgenommen worden, weil er ohne Zögern eine höchst zweifelhafte Sache vertrat, an der er einst nicht mitgewirkt hatte. Der Herr Bundesinnenminister konnte damals zur Not noch beschwichtigen, den steigenden Unmut im Parlament und in der Öffentlichkeit jedoch nicht vollständig bannen. Das Feuer schwelte weiter, die Diskussion wurde heftiger, die Presse ließ nicht locker. Jetzt entschloß sich der Herr Minister, den Stier bei den Hörnern zu pakken. Er brachte am 8. Juli das Gesamtproblem vor den Bundestag. Man hörte eine Rede, wie der Verfassungsschutz sein sollte, wie gerecht und billig Denkende ihn sich wünschen, weniger aber, wie er ist, nicht, was er geworden ist, was aus ihm gemacht wurde. Wir brauchen uns in keine großen geistigen Unkosten zu stürzen, um Ziel und Zweck und auch die Methode des Verfassungsschutzes herauszudestillieren. Das alles ist beinahe klassisch formuliert im Bundesgesetz vom Jahre 1950, einem der kürzesten Gesetze, die wir haben. Dort heißt es in § 3:
Aufgabe des Bundesamtes für Verfassungsschutz . . . ist die Sammlung und Auswertung von Auskünften, Nachrichten und sonstigen Unterlagen über Bestrebungen, die eine Aufhebung, Änderung oder Störung der verfassungsmäßigen Ordnung im Bund oder in einem Land
— und dann ist noch beigefügt, das ist eigentlich ein Ohrenschmaus für uns Abgeordnete —
oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitgliedern verfassungsmäßiger Organe des Bundes oder eines Landes zum Ziele haben.
Also wir Abgeordneten sind nicht vergessen, und wir können beruhigt sein: wir sind primär S u b -j e k t e, nicht nur Objekte dieser Einrichtung.
Besonders den Berliner Abgeordneten wird der schicksalsergebene Refrain des Liedes von Willi Prager einfallen:
Ich weiß, es ist nicht so;
ich weiß, es 'kommt nicht so; ich weiß, es wird nie sein.
Aber machen Sie, was Sie wollen, ich Bild mir's eben ein.
Wir wollen davon absehen, miteinander das Lied
weiterzusummen. „Jetzt haben wir 'ne Republik."
Und dann das „Ich kenne diesen Menschen nicht" des Fraktionsvorsitzenden! Ich weiß, es gibt tragische Größenordnungen, die einem über den Kopf wachsen!
Wenn der Herr Bundesinnenminister gut beraten gewesen wäre, hätte etwas ganz anderes von seiner Seite geschehen müssen. Er hätte sich unverzüglich auf den leeren Präsidentenstuhl in Köln setzen müssen und nicht mehr von ihm aufstehen dürfen, bis der „Laden" garantiert in Ordnung war.
Eine solche Aktion tatkräftiger Verantwortungsbereitschaft hätte imponiert und hätte die Bevölkerung beruhigt.
Was geschah aber? Im Rundfunk wurde an einem spannungsvollen Abend ausgeholt und angekündigt: „Die Regierung hat die ersten Konsequenzen aus dem Fall gezogen". Halb beklommen, halb hoffnungsfroh horchten die Bürger auf. Jetzt kommt der große Gegenschlag, dachten sie. Was kam? Ein Mäuschen wurde geboren! Es wurde verkündet: „Der Leiter des Bundeskriminalamtes wurde kommissarischer Leiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz". Im übrigen, soviel wir wissen, ein Mann mit 68 Jahren.
Es war wirklich eine welterschütternde Neuigkeit. Der neue Chef übernahm nach einigen Tagen auch das Amt. Er kam aus dem Urlaub, und er ging unverzüglich wieder in den Urlaub.
Schließlich ist vor bereinigter Regelung der Angelegenheit auch der Minister selber in Urlaub gegangen.
Mit Verantwortungsgefühl dieser Art hat man eine tiefernste Angelegenheit behandelt. Im Vakuum stand über zwei Wochen, mindestens zwei Wochen, wahrscheinlich beträchtlich länger, das herrenlos gewordene Amt in einem kritischen Zeitraum, in welchem es den heftigsten Angriffen der Öffentlichkeit ausgesetzt war und in welchem die günstigste Gelegenheit war, die Dinge zu vertuschen und Spuren zu verwischen.
Wie kommt es, daß man so vorgehen konnte? Es lohnt sich, dieser Frage auf den Grund zu gehen. Wir bekommen den Schlüssel für einen generellen Mißstand in der Bundesrepublik in die Hand. Eine prinzipielle Seite von Staat und Verwaltung ist angeschnitten.
Jedes neu beginnende staatliche System schützt sich vor den Mängeln eines vorhergegangenen. So sicherte sich der Parlamentarische Rat vor den Fehlern der Weimarer Republik. Er schützte die Bundesrepublik vor Regierungskrise auf Regierungskrise, vor Regierungsstürzen und Regierungsneubildungen am laufenden Band. Mein Herr Vorredner hat ja diesen Fragenkomplex schon angeschnitten und behandelt.
— Ich meine, von Niveau wollen wir vorläufig nicht reden.
Das könnte sich noch steigern, oder es könnte auch noch herabsinken. Es kommt nämlich auch auf die Zwischenrufe an. —
Der Parlamentarische Rat hat mit Recht so entschieden; das konstruktive Mißtrauensvotum ist
I eine Wohltat. Es bleibt auf die Dauer nur dann ein Vorteil, wenn die ungeschriebenen Gesetze parlamentarisch-demokratischen Verfahrens strikt eingehalten werden.
Zu den obersten Gesetzen dieser Art zählt der Grundsatz, daß in der parlamentarischen Demokratie Männer ohne die herkömmlichen Laufbahnen unter Überspringung aller Zwischenstationen in das höchste Staatsamt, das Ministeramt, berufen werden, daß dafür aber von solchen Männern die schwere Last der Verantwortung für alle Vorgänge in ihren Ressorts übernommen wird, die Last der vollen Verantwortung auch ohne eigenes persönliches Verschulden.
Diesen Sichtwechsel unterschreibt jeder, der ein parlamentarisches Ministeramt übernimmt.
Mehr und mehr kommt die Einlösung bei Fälligkeit aus der Übung.
Die Termine werden überschritten, Proteste werden nicht erhoben; man wartet, bis eine Panne durch ein anderes, sensationelleres Ereignis, im Zweifel durch eine noch größere Panne, abgelöst und übertönt wird.
An die Stelle der unbedingten Achtung vor dieser verpflichtenden Regel tritt zusehends in der durch das konstruktive Mißtrauensvotum unangreifbaren Regierungsmaschinerie ein Standpunkt, welcher, in die Sprache der unteren Ränge der Ausführungsorgane übersetzt, heißt: Uns kann keener!
Ein schnöder Standpunkt,
ein volksverachtender, ein volksvertretungsverachtender Standpunkt, vor allem ein überheblicher Standpunkt.
Auch grobe Fehler führen nicht mehr zur exemplarischen Statuierung der Verantwortlichkeit. Wird von oben ein Auge zugedrückt, dann ist der Mann gerettet, sein Amt entschuldigt. Die da unten, Volk, Presse, Abgeordnete, mögen rumoren; das geht ja vorbei!
Einem parlamentarischen Minister darf die harte Lebensschule der Kontrolle durch das Parlament nicht erspart bleiben. Er muß wissen, daß er immer wieder vor die letzte Frage gestellt wird, wie er parlamentarisch weiterkommt. Wie der Autofahrer auf Bergstraßen an den dünnen Warnbrettern vor dem steilen Felsenhang des Abgrunds entlangfährt,
so muß dem parlamentarischen Minister stets der Blick auf die politischen Absturzstellen geöffnet bleiben. Nur so lernt er, an gemachten Fehlern zukünftige zu vermeiden. Und es ist ja so: er hat meistens für Fehler einzustehen, die andere gemacht haben. Für die unterstellten Ränge ist es höchst erzieherisch, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ihnen durch den bitteren Weg, der ihrem Chef auferlegt wird, eindringlich demonstriert wird, wie sie ihn durch Sorglosigkeit und
Unachtsamkeit parlamentarisch in Verlegenheit gebracht haben.
Verzichten wir auf das Wirksamwerden dieser inneren Kräfte des parlamentarischen Prinzips, dann setzen wir das parlamentarische Prinzip außer Kurs.
Das konstruktive Mißtrauensvotum entwickelt sich dann zum allzu leicht gereichten und allzu leicht ergriffenen Rettungsanker im politischen Schiffbruch.
Der durchgebrannte Otto John füllt demnächst zwei Monate lang die Zeitungen. Unzählige Äußerungen sind erfolgt. Er hat der demokratischen Sache einen ungeheuren Schaden zugefügt. Er hat vor allem die Männer und Frauen des 20. Juli diffamiert. Er hat den nach maßlosen geistigen und körperlichen Drangsalen ins Ausland getriebenen deutschen Demokraten einen moralischen Dolchstoß übelster Art versetzt.
Ist er schon ein Mann ohne Bindungen an irgend etwas, diese bittere Konsequenz für andere hätte ihn zur Besinnung bringen müssen. Die Verurteilung, die er in der Öffentlichkeit gefunden hat, kann nicht mehr gesteigert werden. Sie müßte sonst gesteigert werden. Doch er ist fort. Wir bellen den Mond an, wenn wir uns noch zu sehr mit ihm befassen. Es ist dafür gesorgt worden, daß die Kritik des Bundestages nicht mehr hoch aktuell ist, sondern ganz erheblich nachhinkt.
Die anderen Objekte allerheftigster Kritik der Öffentlichkeit weilen unter uns. Sie sind uns verantwortlich, und das Parlament hat diese Verantwortung pflichtgemäß festzustellen. Auch in dieser Richtung sind Qualifikationen, Charakterisierungen von unüberbietbarer Schärfe vorgenommen worden.
Es besteht kein Anlaß, sie hier zu wiederholen. Repetieren wollen wir aber als eine Art Standardkritik und Qualifikation einen Bundesminister, der im Münchener Rundfunk losdonnerte: ,.Die größte Blamage der Bundesrepublik!" Gilt diese Kennzeichnung nur für das Publikum, gilt sie sie nur für die demnächst zur Feldschlacht antretenden bayerischen Wähler, oder gilt sie auch für die Entscheidungen und Beratungen im Schoße des Kabinetts, im Plenum des Bundestages und in der Fraktion des sehr verehrlichen Rundfunksprechers?
Der Bundestag braucht solche Schlagworte nicht, er kann und wird objektiv bleiben.
Dem Herrn Bundesinnenminister ist als relativem Neuling in seinem Ressort zuzugestehen, daß er für den Status quo ante nur sehr bedingt verantwortlich ist. Er hatte, wie man einst, als ich Soldat war, beim deutschen Kommiß sagte, den Präsidenten so, wie er war, ,gefaßt", d. h. er hat ihn übernommen.
Der Verantwortungskomplex der Anstellung und des vierjährigen Belassens des Präsidenten ist dem Herrn Bundeskanzler reserviert. Zu beachten ist, daß dem Herrn Bundeskanzler nicht nur das Ernennungsrecht zusteht, sondern auch das Abberufungsrecht.
Vor allem liegt ihm bei einem Amt dieser Art eine fortlaufende Prüfungspflicht ob und eine mit Strenge zu handhabende Abberufungspflicht.
Rückschauend ist die schlichte Feststellung zu treffen, daß ein unerhörter personeller Mißgriff erfolgt ist. Es ist schon gesagt worden: Der Bock wurde zum Gärtner gemacht. Der Herr Bundeskanzler ist, was jedermann weiß und berücksichtigt, mit seinen großen Verpflichtungen auf das stärkste in Anspruch genommen. Niemand wird sich jedoch dem Eindruck entziehen, daß sich über den innerpolitischen Vorgang ein Stück Außenpolitik abgewickelt hat, und zwar ein der Bundesrepublik höchst abträgliches Stück. Wir warnen auch bei diesem Anlaß vor dem grundsätzlichen Desinteressement an der Innenpolitik, welches das derzeitige Kennzeichen der Bundesrepublik ist. Die entscheidenden inneren Fragen, welche zur Diskussion gestellt sind, werden geflissentlich nicht mit vollem Ernst behandelt. Sie werden vertagt, auf die Seite geschoben und dann jeweils durch die außenpolitischen Ereignisse in die Ecke gedrückt.
Ich sage, die entscheidenden inneren Fragen werden nicht nur sträflich vernachlässigt, die Innenpolitik ist nicht bloß das Stiefkind, es wird an ihr sozusagen die strafbare Handlung der Kindesaussetzung vollzogen.
Die Bundesrepublik hat für diese Versäumnisse in den letzten Wochen die Quittung bezogen. Auf den Fall John hat sich eine schlimme Propaganda des Auslandes, vor allem auch in dem sonst wohlmeinenden Ausland, gegen uns entfacht.
Um zum Herrn Bundesinnenminister zurückzukommen, so darf wohl das Verschwinden auch nicht ihm selbst zugerechnet werden, vielmehr erscheint dieser Vorgang uns allen als ein Fall höherer Gewalt. Man sieht schließlich niemandem ins Herz. Was aber seit dem 20. Juli dieses Jahres an innenministerieller Staatskunst entfaltet wurde, das kann auch Wohlwollende nur mit Bestürzung erfüllen.
Genau nach demselben Rezept wie in der „Vulkan"-Debatte, wie in der Verfassungsschutzdebatte ist man verfahren. Man gab nichts zu, man gestand nichts ein. Man suchte wertlos gewordene Randpositionen zu retten und verlor bei diesen Bemühungen Kopf und Kragen.
Man büßte auf diese Weise zusätzlich den guten Glauben des Teils der Bevölkerung ein, der einsah, daß gegen die Einzelhandlung einer Einzelpersönlichkeit kein Kraut gewachsen ist. Die Verlautbarungen der Regierung nach dem Eintritt der Katastrophe zeigen die Tendenz, doch noch um die letzten Klarstellungen herumzukommen.
Hochinteressant war unmittelbar nach dem 20. Juli der Kampf der Sachdarstellungen, nämlich der von Bonn und der von Berlin. Berlin meldete: verschwunden — freiwillig gegangen — nicht entführt; Bonn: verschwunden — entführt. 600 km
vom Tatort entfernt wußte es Bonn besser als der Berliner Polizeivizepräsident an Ort und Stelle.
Die Berliner standen früher in dem Ruf, daß sie alles besser wissen. Jetzt hat Bonn diesen Ruf übernommen.
Aber Bonn ist ja zur Zeit mächtiger als Berlin, und so mußte seine Fernanalyse die Oberhand gewinnen. Diese wurde schließlich auch Bestandteil der vom Herrn Bundesinnenminister am 26. Juli vorgetragenen Legende, welche lautete: John ist in die Ostzone teils e n t führt, teils v e r führt worden.
In meiner Studentenzeit standen die Rechtsfakultäten im Meinungskampf zwischen der alten Schule der abstrakten Jurisprudenz und der neu aufgekommenen Interessenjurisprudenz. Der im Bundesinnenministerium versammelte Juristennachwuchs scheint sich ganz und gar der Interessenjurisprudenz verschrieben zu haben.
— Ja, ich glaube, Herr Kollege Kiesinger, Sie haben an der Universität Tübingen noch eine Spur der abstrakten Jurisprudenz mit auf den Weg bekommen, wozu ich Ihnen gratuliere.
Aus Staatsräson glaubte man die Entführungstheorie plausibel machen zu müssen. Das Volk will aber keine Theorie, es will die Wahrheit, und es hat auch Anspruch darauf.
Die beste Staatskunst ist in einem solchen Fall rigorose Offenheit. Wegen eines Krankenberichts des verstorbenen Mannes einer befreundeten Dame hat der Gebieter über die bundesrepublikanische Staatssicherheit die Fahrt nach Ostberlin unternommen! Der Herr Bundesinnenminister vermittelte prima facie den Eindruck eines Realisten. So viel Courths-Mahler wie am Abend jener Pressekonferenz hatte ihm wohl niemand zugetraut.
— Seien Sie froh, daß ich die Dinge so liebenswürdig ausdrücke!
— Sie brauchen mir nicht mit dem Finger zu drohen, Herr Kollege! — Hörte man die Rundfunksendung in weiblicher Gesellschaft, so beobachtete man beinahe Tränen der Rührung über die einem unglücklichen Menschen auferlegten, ach so harten Schicksalsschläge.
Der seinen Brotherrn zum viertenmal wechselnde
Geheimdienstfachmann wurde unter der eindringlichen Beweisführung des durch sein Amt zur letz-
ten Strenge verpflichteten Polizeiministers zusehends eine Mignon-Figur, — „Was hat man dir, du armes Kind, getan?"
Bestenfalls hätte an jenem Abend ein non liquet, ein „Unentschieden" ausgesprochen werden dürfen. Das Elaborat, das die Referenten ihrem Minister vorgelegt haben, verstieß gegen jede Regung der Klugheit, noch mehr, es verstieß gegen den gesunden Menschenverstand, und es war eine Fehlleistung ersten Ranges.
Stur wurde die Linie weiterverfolgt, wieder einmal der Grundsatz der Felddienstordnung des alten kaiserlichen Heeres angewandt: „Der einmal gefaßte Entschluß ist durchzuführen, selbst wenn er sich später als falsch herausstellen sollte!"
Es folgte das 500 000-Mark-Preisausschreiben.
Hierzu lag der Einspruch des Bundesjustizministeriums — —
— Meine sehr verehrten Herren von der CDU, ich würde Ihnen sehr empfehlen, wieder zur Ruhe zurückzukehren. Ich bin schon sehr oft Ihren Zurufen, auch Ihren lauten Rufen, um nicht zu sagen: Geschrei, in Stuttgart ausgesetzt gewesen, — und Sie haben immerhin acht Jahre gebraucht, bis Sie mich dort weggebracht haben!
Sie müssen mich hier auch mindestens eine halbe Stunde aushalten.
Hiezu lag der Einspruch des Bundesjustizministeriums vor, die Unkenntnis — wie wir hören — einer Reihe von Ministern, aber — wie uns ebenfalls berichtet wurde — die Zustimmung des Herrn Bundeskanzlers. Es folgte die Demarche bei den Alliierten, die Hohen Kommissare zu ersuchen, den verlorenen Sohn wieder zurückzubringen. Diese lehnten höflich ab. Diese Demarche ist, wie wir hören, von dem Herrn Außenminister veranlaßt worden. Die Wege der deutschen Außenpolitik sind für die nicht spezialisierten Abgeordneten nicht ohne weiteres erforschlich.
Sie können sich eben der höheren Einsicht fügen. Die Geheimdienste der Alliierten dürften auf den Stockzähnen gelacht haben.
Der geneigte Zuhörer wird bemerken, daß bei der Erörterung des heiklen Themas der Bewährung oder des Versagens eines Bundesministers nicht tierischer Ernst vorgewaltet hat, höchstens bei einigen Zuhörern. Ich konnte es tun mit der Heiterkeit des Gemüts eines Politikers, der oft genug in bedrängter Lage stand, der weiß, wie oft und wie viele Fehler jemandem unterlaufen, auch einem selbst, viel mehr Fehler, als die anderen bemerken.
Ich habe mir als Anwalt und als Politiker im vorgerückten Alter die Lebensphilosophie angeeignet, in schwierigen Situationen zu sagen: Eine Sache lebt von ihren Fehlern. Versöhnend dürfen wir vielleicht sagen: auch der Fall John hat von seinen Fehlern gelebt; und vielleicht ganz allgemein: die ganze Bundesrepublik lebt von ihren Fehlern.
Wir kommen damit über unsere gemeinschaftlichen Sorgen — ein Wort des Herrn Kollegen Kiesinger — besser hinweg.
Es darf als Vorausklärung empfunden werden, daß die CDU/CSU-Fraktion schon vor Wochen erklärt hat, daß sie an ihrem Bundesinnenminister nichts auszusetzen habe.
Eine Zwischenfrage: warum kommen wir eigentlich noch zusammen, wenn die größte Parlamentsfraktion die Gründe und Gegengründe der anderen gar nicht abwartet,
ihr Urteil vor der Parlamentsdiskussion schon feststellt und bekanntgibt? Der Deutsche Bundestag wird bei einem solchen Verfahren außer Kurs gesetzt, und er hat sich eben mit dem in der Folgezeit ja auch nicht unbestrittenen Satz, mit dem umgewandelten Satz Augustins abzufinden: „Fractione Christiana Democratia locuta, causa finita."
Sie von der CDU/ CSU haben eine Stimme mehr als alle anderen Fraktionen zusammen. Sie können jeden Beschluß verhindern. Sie haben das allergrößte Interesse, daß hier eine genaue und gründliche Aussprache stattfindet.
Für einen zurückgetretenen, die unabänderlichen Gesetze der parlamentarischen Demokratie mit der Tat achtenden Bundesinnenminister Dr. Gerhard Schröder wäre er selbst als geeigneter und würdiger Nachfolger erschienen. Gewiß, ein Vollblutdemokrat ist er nicht. Es besteht gegenwärtig in der Bundesrepublik eine leichte Tendenz der Abweichung von der demokratischen Magnetnadel im Sinne einer leichten Hinwendung zu absoluteren Auffassungen.
Der Herr Bundesinnenminister dürfte dem reaktionären Absolutismus weniger nahestehen, eher dem aufgeklärten. Wir werten diesen Umstand als Plus, das wir zu diskontieren bereit sind.
Meine sehr verehrten Abgeordneten! Der schwierigste Teil ist also vorbei, was vielleicht zur Beruhigung gewisser Herren, die hier vorne sitzen, beitragen dürfte.
— Herr Abgeordneter Hilbert, ich spekuliere natürlich nicht darauf, daß Sie sich beruhigen.
Was nun das Mißbilligungsvotum anbelangt, so sind wir folgender Ansicht, die ich im Auftrage meiner Fraktion bekanntgebe. Wir halten eine Entscheidung über den Mißbilligungsantrag der Opposition, Drucksache 769, im gegenwärtigen Augenblick nicht für möglich.
— Meine Begründung war in vielen Punkten eine weitgehende Entschuldigung des Herrn Bundesinnenministers Schröder.
Ich habe immer davor gewarnt, aus dem Fall John
nun einfach einen Fall Dr. Schröder zu machen.
Wir messen den Verhandlungen des Untersuchungsausschusses eine wichtige sachliche Bedeutung bei. Diese und die Ermittlungen des Oberbundesanwalts können sehr wohl Anhaltspunkte für eine weitere Belastung wie für eine entscheidende Entlastung von beteiligten Persönlichkeiten geben. Sie können gegenüber dem heutigen Stand auch eine wesentliche Verlagerung in der Beurteilung der Verantwortlichen erbringen.
Wir bestehen auf der Feststellung dieser Verantwortlichkeit und werden auf sie nicht verzichten, und das ist der ganze Bundestag dem deutschen Volk schuldig. Wir sind der Ansicht, daß ein Beschluß auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, den wir begrüßen, mit einer sofortigen Abstimmung über den Mißbilligungsantrag im Widerspruch steht. Wir jedenfalls möchten das Risiko einer späteren Desavouierung durch die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses nicht übernehmen. Im gegenwärtigen Augenblick ist für objektiv Denkende die Angelegenheit nicht spruchrei. In diesem Sinne bitten wir das Hohe Haus, unsere derzeitige Enthaltung aufzufassen.
Aber wie kommen wir weiter? Diese Frage haben meine Herren Vorredner ebenfalls behandelt. Man mag retrospektiven Betrachtungen grundsätzlich abgeneigt sein; die Innenpolitik mag noch so sehr durch den Ernst, mit welchem die internationalen Beziehungen der Bundesrepublik zu betrachten sind, zurücktreten, der Verfassungsschutz kann nicht so bleiben, wie er ist! Er ist ein neues Element der Demokratie in Deutschland. Er muß garantiert ein Instrument zum Schutze der Demokratie sein, wieder werden und dann auch bleiben, nicht ein Instrument für anderes, etwa für die Stabilisierung von Macht und Einfluß der Regierung oder gar einer Partei. Wir brauchen vielleicht in der späteren Zukunft eine Generalreform dieser Institution, dieser Institutionen. Änderungen aus besonders ungutem Anlaß sind, wie wir ja sehr wohl wissen, sowieso unzweckmäßig. Man schützt sich dann eben vor der Wiederholung gerade dieser schlechten Erfahrungen. Für heute genügt das Gesetz so, wie es ist. Wir brauchen nur ein zweifaches: Rückkehr zu den gesetzlichen Grundlagen, welche sich die Bundesrepublik durch das Bundesgesetz selbst geschaffen hat, und zwar sofortige Rückkehr, und zweitens Achtung dieser Grundlagen bei allen, also nicht mehr als Wiederherstellung der Legalität und der Neutralität dieser Ämter.
Bei den Auseinandersetzungen über die gegenwärtige Lage des Verfassungsschutzes überschneiden sich praktische Erfahrungen und grundsätzliche Erwägungen. Beginnen wir mit der Praxis, dann stellen wir fest: der Verfassungsschutz ist desorganisiert. Warum und wieso?
1. Das Bundesamt ist ohne Führung. Es wird mir niemand widersprechen. Es muß ohne Führung gewesen sein. Ein Mann, der Pläne wälzt, welche er bei anderen kraft seines Amtes als schwere politische Verbrechen zu verfolgen hat, war seit langem unbrauchbar für dieses Amt.
2. Die zentrale Bedeutung des Bundesamtes wurde durch die ungeregelte Konkurrenz anderer Dienste gemindert. Eine heillose Verwirrung entstand und wurde nicht verhindert, und zwar dadurch, daß ein Spezialdienst den andern zu übertrumpfen suchte, ihn zu verdächtigen, ihn mattzusetzen suchte.
3. Die Verantwortlichkeit wurde verwischt, gestört, jedenfalls in Widerspruch mit der gesetzlichen Ordnung gebracht. Die alleinige Verantwortung des Bundesinnenministers ist in § 2 Abs. 1 Satz 2 des Bundesgesetzes mit klaren Worten statuiert. Danach ist das Bundesamt ihm und niemand anders unterstellt. Der Innenminister trägt politisch die Verantwortung für den entscheidend wichtigen Akt der Auswertung. Er kann sie aber nicht tragen, wenn die Meldungen an ihm vorbeigehen, unter Vermeidung seiner sachlichen Stellungnahme an andere Regierungsstellen, vor allem an die Regierungsspitze gehen. Wir haben dies schwarz auf weiß. Über den direkten Verkehr des Bundesamtes mit dem Bundeskanzleramt sind neulich hohe Prozentsätze veröffentlicht worden, die ich nicht zugrunde lege, zu denen aber bisher eine l verantwortliche und verbindliche Stellungnahme fehlt, und dieser darf wohl das Hohe Haus entgegensehen.
Der Herr Bundeskanzler hat am 8. Juli vor dem Bundestag erklärt, die berühmte Meldung über Dr. Hermann Etzel — ich möchte hier einfügen: eine der deftigsten politischen Intrigen dieses Jahres — sei ihm vom Herrn Bundesinnenminister vorgelegt worden. Diese Mitteilung ist leider nicht richtig.
Es ist bedauerlich, daß im fünften Jahr seines Bestehens das Bundeskanzleramt noch nicht so weit durchorganisiert ist, daß der Herr Bundeskanzler davor geschützt ist, vor dem Plenum des Bundestags angreifbare Tatsachen vorzubringen.
Die Meldungen gingen zwar an das Innenministerium, aber gleichzeitig an das Bundeskanzleramt zu Händen des Staatssekretärs.
Ohne Prüfung und Plazet des Innenministeriums hat das Bundeskanzleramt sich dieser Meldungen bemächtigt, sie nach seinem Belieben ausgewertet und unverzüglich verwertet, z. B. durch Übermittlung an den Herrn Bundespräsidenten. Es wird uns geantwortet, dieses Verfahren sei üblich, ja es sei gedeckt durch eine Berichtsanordnung des früheren Kabinetts. Dieses Verfahren ist formal und sachlich unzulässig und bedarf der sofortigen Korrektur. Dieses Verfahren ist weder secundum legem noch praeter legem, es ist klar contra legem.
Was alles diesen Weg gegangen ist, entzieht sich der genauen Kenntnis. Man kann sich aber die Abirrungen des Staatssekretärs im Bundeskanzleramt vom gesetzlichen Dienstweg nicht umfangreich genug vorstellen.
So das geschieht am grünen Holz, was soll mit dem dürren werden?
Wenn oben die Bundesgesetze nicht auf das korrekteste eingehalten werden, zu Durchstechereien welchen Ausmaßes muß es unvermeidlich unten kommen? Die Anzahl dürfte Legion sein. Die Desorganisierung des Verfassungsschutzes wechselt damit das Gesicht zu einer gewissen Demoralisierung.
Neben den erwiesenen Mängeln der Praxis stehen die grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten. Der Verfassungsschutz ist eine der jüngsten Institutionen des Bundes und der Länder. 1945 hieß das Motto aller Alliierten: Nicht die Spur einer Staatsmacht mehr bei den Deutschen oder neu wieder an die Deutschen! Hochverrat, Landesverrat konnte es somit nicht geben. Gründlich wie sie waren, hoben die Alliierten die deutschen Strafbestimmungen über Hoch- und Landesverrat auf. Diese Delikte waren erlaubt. Es dauerte sehr lange, bis dieser unheilvolle Unrechtszustand dahinschwand. Er begann, die Interessen der Westalliierten selbst zu schädigen. Jedes Staatswesen bedarf in der turbulenten Gegenwart des Schutzes vor antidemokratischen Kräften. Staatsfeinde bedürfen der sorgfältigen Beobachtung und des energischen Zugriffs. Unsere höchst exponierte Lage macht es zur unverzichtbaren Staatsnotwendigkeit. Und es ist so: Auf seinem eigentlichen, dem gesetzlichen Betätigungsfeld hat das Bundesamt keineswegs versagt. Im Zusammenwirken mit den Landesverfassungsschutzämtern hat es dem Bundesverfassungsgericht prompt beweiskräftiges Material vorgelegt. Der Rechtsradikalismus konnte damit der Staatsfeindlichkeit überführt werden. Der gleiche Beweis wurde vom Bundesamt gegen die KPD erbracht. Es sind andere Gründe, welche bisher nicht zum Verbot dieser Partei geführt haben.
Das Parlament versagt keineswegs die Anerkennung dieser Leistungen. Die Beamten und Angestellten erfüllen eine vom Gesetz vorgesehene Aufgabe. Sie dürfen des Schutzes des Parlaments und des Verständnisses der Allgemeinheit versichert sein. Die technische Leistung dieser Ämter steht außerhalb des Zweifels. Es sind aber politische Momente, welche sie einem Zwielicht aussetzen.
Es gilt vorweg eines klarzulegen. Die ganze Methode, mit welcher das moderne Nachrichten- und Abwehrwesen arbeitet, schließt eine objektive, von niemand zu vertretende Gefahrenquelle in sich. Sie hat weit ausgreifende, viel zu weit ausgreifende Tendenzen. Der Staatsfeind wird vorzugsweise nicht mehr unmittelbar beobachtet, ihm wird nicht mehr an Ort und Stelle nachgestellt und er wird schließlich nicht mehr auf frischer Tat ertappt. Diese Verfahren sind vielmehr dem Schlußstadium vorbehalten, wenn der Verdacht sich konkretisiert hat. Die Methode ist weitgehend eine mittelbare geworden. Sammlung von Nachrichten und nochmals Nachrichten heißt die Parole. Treffen soundso viele gleich oder ähnlich lautende Nachrichten ein, so entsteht nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung eine
Vermutung ihrer Richtigkeit. Um die Schnittpunkte, in denen sich die Nachrichten übereinstimmend treffen, entsteht ein Wahrheitskern. Bei diesem Vorgehen gibt es überhaupt keine Nachricht, die unwichtig ist. Jede Nachricht kann einmal in der Zukunft wichtig werden. Der Erfolg solcher methodischer Nachrichtensammlung ist nicht abzustreiten, gleichzeitig aber auch nicht die Riesengefahren, die sich für die Allgemeinheit aus drei Gründen ergeben.
Erstens. Die gefundene Wahrheit ist und bleibt immer nur Wahrscheinlichkeit. Dieser Tatsache sind sich die Männer vom Fach durch täglichen Umgang mit der Materie bewußt. Auch der Nachrichtendienst ist ein Handwerk und wird nach bestimmten Handwerksregeln ausgeführt, die nicht immer Kunstregeln, sondern oft Faustregeln sind. Die Nachrichtenmänner kalkulieren die stets bestehende Irrtumsmöglichkeit ein. Anders ist die Reaktion der Außenstehenden, des Nachrichtenlaien, die Politiker nicht ausgenommen. Diese stehen nicht unter einem solchen ständigen psychischen Training. Sie stürzen sich auf solche Neuigkeit, werten sie als Trüffel und glauben ihr aufs Wort.
Zweitens. Der Personenkreis, über den Nachrichten eingehen, wächst ins Ungemessene weit über die Zahl der möglichen Verdächtigen hinaus. Jeder, auch der loyale ruhige Bürger steht in der Gefahr, entweder schon registriert zu sein oder es zu werden.
Drittens. Hier kommen wir auf einen wichtigen Punkt. Einzelmeldungen, so interessant sie sind, haben bei diesem System nur höchst bedingten Wert. Werden sie aus dem Zusammenhang gerissen weitergetragen, so ist die Bescherung da. Geheim, meine sehr verehrten Abgeordneten, ist nur das, was ein einzelner weiß. Alles andere geht, einmal in Umlauf gesetzt, von Mund zu Mund, vollends im Parlament. Je vertraulicher die Verbreitung, desto rascher und wirkungsvoller dringt die Nachricht in die gewünschten Kanäle. Die gebieterische Konsequenz für ein Staatswesen von Rang diesem offen zutage liegenden Hauptgefahrenherd dieser Institution gegenüber ist höchste Sorgfalt und Konzentration des Auswertungsvorgangs, schärfste Unterdrückung von Indiskretion, Disziplin und Schweigsamkeit des Personals dieser Am-ter, unten sowohl wie oben.
Blicken wir in der Welt umher, so werden wir gewahr, wie gerade die Regierungen vollwertiger demokratischer Staaten ihr Überwachungs- und Nachrichtenwesen in seinen Spitzen in die Hand charakterlich erprobter und, was Sach- und Fachkunde anlangt, hervorragender Persönlichkeiten ersten Ranges legen. Wir Deutsche besitzen auf diesem Gebiet keine richtungweisende Tradition. Was bei uns bestand, ist nichts mehr als ein abschrekkendes Beispiel. Trotzdem besteht die Neigung zur fortlaufenden, bloßen Kopierung. Wir müssen uns ganz von unten her selbst erziehen.
Es hat Generationen gedauert, bis sich in Deutschland der Grundsatz der Nichteinmischung durch die Regierungen als eine Selbstverständlichkeit durchgesetzt hat. Eine gleiche Position ist dem Material der Verfassungsschutzämter einzuräumen. Ein „noli me tangere" muß es umgeben und jeden Eingriff von außen unmöglich machen. Vor allem ist das kein Tummelplatz für einen ränkeschmiedenden Staatssekretär,
das ist kein Spielzeug für Parteipolitiker, denen aus eigener Phantasie nichts mehr einfällt, wenigstens nichts mehr Gescheites.
Die Ämter des Verfassungsschutzes sind Stätten, in welchen sich die innersten Dienste des Staates vollziehen. Wie ein Buch mit sieben Siegeln sind die Staatsgeheimnisse zu verschließen. Ein hieb-und stichfester disziplinärer und moralischer Panzer hat sie zusammenzuhalten. Undichte Stellen nützen dem, der durch diese Arbeit lahmgelegt werden soll, den der Verfassungsschutz aktiv bekämpft, nämlich dem politisch Kriminellen. Ein Gefäß, einmal angezapft und durchlöchert, rinnt bekanntlich nach allen Seiten, nicht nur nach der Seite, mit der man sympathisiert. Das törichtste Beginnen ist, wenn Staatsorgane selbst diese Ämter zu ihrem willfährigen Werkzeug machen. Das hat dieselbe Wirkung, wie wenn der Tresorwächter den Geldschrankknacker selbst spielt. Wenn die so gewonnenen Nachrichten gar in die Presse lanciert werden, wenn das passiert, stehen wir einem Tiefstand in unserem öffentlichen Leben gegenüber, von der vorbedachten Fabrikation solcher Nachrichten ganz zu schweigen!
Die Ergebnisse der Ämter sind Unterlagen für die Strafverfolgung von politischen oder anderen Verbrechen und Vergehen und für die Verfassungswidrigkeit von Organisationen; sie haben nur an die hierfür zuständigen Exekutivorgane und sonst an niemanden zu gehen. Die Ergebnisse, meine sehr verehrten Abgeordneten, sind Unterlagen für Tatbestände; aber sie sind nicht Orientierungsmittel für die Regierungsstellen. Sie sind es ganz und gar nicht! Hier liegt der Hund begraben: Eine grundsätzlich irrige Auffassung hat zu grundsätzlich falscher Handhabung geführt. Wir müssen weg von diesem staatsschädigenden System, das sich leider eingebürgert hat. Die Orientierungsquellen der Regierung sind anderer Art, und diese fließen legal in Hülle und Fülle.
Wir kommen mit dem Fragenkomplex in den innersten Bezirk des gesunden Funktionierens der Demokratie. Dazu gehört eine gewisse Ausgewogenheit in der Kräfteverteilung zwischen der Regierung einerseits und öffentlicher Meinung —
Bürger, Presse, Rundfunk — andererseits. Dies setzt eine gewisse Waffengleichheit voraus. Ein Grundprinzip der Demokratie wird über den Haufen geworfen, wenn einem Teil neben dem offenen auch geheimes Nachrichtenmaterial zur Verfügung steht. Der Meinungskampf vollzieht sich dann in voller Unordnung. Die gleiche Ebene ist verlassen. Das Forum der Auseinandersetzung teilt sich in ein öffentliches und ein verstecktes, ein oberirdisches und ein unterirdisches, eines von vorn und eines von hinten. Es ist klar, daß diesen Gedankengängen diejenigen nicht gern folgen, welche in allen Fragen der Information der Öffentlichkeit ein immer größeres Gewicht der Regierung schaffen wollen. Das alles sind klar Schritte von der Demokratie weg. Wir aber wollen entschlossen und entschieden auf die Demokratie zu.
Und noch eines. Der Verfassungsschutz arbeitet der Natur der Sache nach mit juristischen Begriffen, Verdacht, Vermutung, die Wahrscheinlichkeitsrechnung sogar mit mathematischen Begriffen. Solche Grundlagen der Wahrheitserforschung sind für die Politik nicht brauchbar. Die Diskussion des heutigen Tages schiebt eine oft unterdrückte, aber
unbestreitbare Erkenntnis von demokratischem Ewigkeitswert erneut in den Vordergrund, und die lautet: Wahrheitswert für eine Auseinandersetzung in der Demokratie hat eine Nachricht überhaupt nur dann, wenn der von ihr Betroffene zu ihr Stellung genommen hat oder Stellung nehmen kann.
Wir haben einen unvollkommenen Staat — ohne unsere Schuld —, die normalen Korrelate eines Staates, nämlich ein fest abgegrenztes, sicher geschütztes Staatsgebiet und in ihm eine unabhängige Staatsmacht, fehlen uns. Wir haben nur das Staatsvolk, zwar nicht alle Deutschen in einem Staat, aber wir haben im Grunde genommen nur die Menschen. Wir leiden in vieler Hinsicht darunter, daß wir uns trotz des unvollständigen Staates den Apparat eines fix und fertigen Staates zulegen. Wir neigen auf vielen ,Gebieten zur übertriebenen Perfektion und werden es in kritischen Augenblikken gewahr, daß manches in unserem Staat doch nur Ausstattung, Konfektion ist, nicht hält, wenn es wirklich darauf ankommt. Wir kämpfen wirklich um die Grundprinzipien unseres Staates. Denjenigen, welche leichthin darüber hinweggehen wollen, bestreiten wir die Legitimation als Hüter der Verfassung. Der Verfassungsschutz ist eine der Blutproben der Demokratie. Die Bundesrepublik hat diese Probe bisher nicht bestanden.
1945 hat der Kommunismus in Deutschland das Haupt erhoben. Die Beute schien ihm beinahe sicher. Das allgemeine Elend war wahrhaftig groß genug, um dem Kommunismus eine Pflanzstätte zu bereiten. Er hatte, wenigstens regional, Anfangserfolge. Diese konnten ihm aber wieder abgejagt werden. Von Jahr zu Jahr ist von den Bundesländern her das Gebiet der heranreifenden Bundesrepublik kommunismusfest gemacht worden. Das ist alles geschehen ohne Paragraphen, ohne Verfassungsschutzämter, durch die lebendige demokratische Eigenkraft des deutschen Volkes.
Dieser Wille darf nicht erlahmen. Niemand darf dazu beitragen, daß die demokratische kinetische Energie sich mindert, daß sie durch ein Allzuviel an formaler Demokratie erschlafft und ermüdet. Eines Tages wird das deutsche Volk wohl oder übel zu einem Wettstreit zwischen Demokratie und Kommunismus herangeführt werden. Die Aufgabe des westdeutschen Parlaments ist es, das gesamte Volk, vor allem die rasch heranwachsende und nachrükkende Jugend für diese kommenden hochpolitischen Auseinandersetzungen vorzubereiten, alle mit einem entschlossenen Willen des Widerstands und der Kampfbereitschaft zu erfüllen. Wir haben jetzt durch John und Schmidt-Wittmack eine moralische Ohrfeige erhalten.
Die Bundesrepublik hat zum erstenmal der Ostzone gegenüber eine Einbuße erlitten. Der Gewinn der Bundespräsidentenwahl in Berlin ist uns aus der Hand geschlagen worden. Meine sehr verehrten Abgeordneten, es gilt die Scharte auszuwetzen, und die demokratische Karte wird immer stechen. Sie wird alle anderen ausstechen. Aber, meine sehr verehrten Frauen und Männer, führen müssen wir sie!