Rede von
Dr.
Kurt Georg
Kiesinger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ende letzten Jahres hat ein etwas in Bedrängnis geratener Minister eines deutschen Landes in einer Verfassungsschutzdebatte folgenden Stoßseufzer ausgestoßen:
Ich würde mich glücklich schätzen, wenn wir auf der Welt ohne Nachrichtenbehörden oder Geheimdienste auskommen könnten. Solange aber die Gegner der Demokratie Millionensummen zu Informationen und Agitationen gegen die Demokratie aufwenden, ist die Abwehr solcher Bestrebungen nur mit Mitteln möglich, die jenen Maßnahmen annähernd gewachsen sind.
Und er fuhr fort:
Die Zeitungen haben sich darüber entrüstet, daß es westliche Geheimagenten gibt. Aber von den östlichen war kaum die Rede. Man erzürnte sich über das Spitzelunwesen, das die Demokratie gefährde. Aber die Gefahr, die dem Staat durch die Aktivität des östlichen Agentenuntergrundes droht, wird entweder gar nicht gesehen oder unterschätzt.
Der Minister, der das aussprach, war der hessische sozialdemokratische Minister Zinnkann.
Ich erwähne das nicht gegen die Gravamina, die Herr Menzel hier vorgebracht hat; ich bin der Überzeugung, wir sind uns im wesentlichen einig. Ich habe es nur deswegen zitiert, weil gewisse Nebensätze und etwas Atmosphärisches in den Worten von Herrn Menzel und auch in gewissen Zwischenrufen aus den Reihen der Sozialdemokraten mich veranlaßten, wenigstens das Grundsätzliche von vornherein zu betonen.
—Ich glaube nicht! Bei der Auswertung, verehrter Herr Kollege Schmid, läuft man immer Gefahr, verschiedener Meinung zu sein.
— Sehen Sie, diese Frage der verschiedenen Meinung: Wir alle haben ein großes Unbehagen gegenüber dem Dasein solcher Institutionen. Ich glaube nur, das Unbehagen sollte stets allgemein sein und nicht in einem Land mit sozialdemokratischer Regierung bei der CDU und bei der Bundesregierungskoalition bei der SPD.
Wenn wir uns über dieses Prinzip einig sind, dann möchte ich nun auch allen Ernstes auf die Grundproblematik eingehen, um die es sich hier handelt. Es geht um das uns Juristen altbekannte Problem der rechtsstaatlichen Grenzziehung zum Schutze der Freiheit, der Ehre und der Würde des einzelnen. Zwei große Interessen sind es, die hier mitunter miteinander in Kollision kommen. Das erste Interesse ist das Interesse der Staatssicherheit, das zweite ist das Interesse an der Aufrechterhaltung der Freiheit und Ehre der Einzelpersönlichkeit.
Jeder, der an der großartigen Leistung der Jurisprudens des neunzehnten Jahrhunderts lebendig Anteil genommen hat, der darin seine Wurzeln hat, muß sich gerade bei dieser neuen Institution mit diesem Problem der Grenzziehung und der Interessenkollision sehr ernst beschäftigen. Wir haben die rechtsstaatliche Grenzziehung in einer bewundernswürdigen Arbeit, durch eine Leistung von Generationen von Gelehrten, Juristen, Verwaltungsbeamten und Richtern, vor allen Dingen auf den Gebieten des Strafrechts und des Polizeirechts erarbeitet. Wer einmal die Freude hatte, als Student etwa die Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts zum Polizeirecht, noch bevor das Polizeiverwaltungsgesetz in Preußen erschienen war, durchzuarbeiten, der kann sich für sein ganzes Leben diesem großartigen Eindruck nicht mehr entziehen.
Hier ist etwas Unverlierbares für unser Volk, für unseren Staat — auch für diesen Staat — geleistet worden.
Etwas Ähnliches muß auch auf dem Feld getan werden, das wir heute behandeln. Ich erkläre, daß mich die Ausführungen des Herrn Bundesinnenministers in ihrem grundsätzlichen Gedankengang durchaus befriedigt haben. Es sind wohlabgewogene, sorgfältig durchdachte Gedankengänge gewesen, die nach meiner Meinung die Grundlage für eine weitere Bearbeitung des Problems in seinen Einzelheiten bilden können.
— Die Grundsätze, die der Herr Minister vorgetragen hat, Herr Kollege Menzel, sind Grundsätze, die er ohne Zweifel als Grundlage der Arbeit der Verfassungsschutzorgane für die Zukunft gemeint hat.
— Ich habe mich hier bei meinen Darlegungen nicht so sehr um gewisse Pannen, um „zwangsläufige Pannen", wie Herr Zinnkann sie bei der Debatte in Hessen genannt hat, zu kümmern, sondern darum, wie es in Zukunft in Ordnung geht.
— Wir sorgen immer für die Zukunft, Herr Kollege Schmid; für die Vergangenheit können wir leider nicht mehr viel tun.
Sie haben, wie ich annehme, nachher noch das Wort und können nach Belieben und nach Kräften darüber sprechen. Sie werden es nicht gerade von mir verlangen.
— Gewiß, dann und wann tue ich es ja auch.
Die Frage, wo diese Grenze zu ziehen ist, ist nun gerade auf dem Gebiet des Verfassungsschutzes außerordentlich schwierig. Ich will ein etwas gefährliches Wort des englischen Historikers Seeley zitieren. Ich sage, ein gefährliches Wort, aber es hat einen Wahrheitsgehalt. Das Wort lautet, daß die Freiheit, die ein Staat seinen Bürgern gewähren könne, im umgekehrten Verhältnis stehe zu dem Druck, der auf den Grenzen dieses Staates laste. Mit allen Vorbehalten und mit aller Vorsicht gegenüber diesem Wort muß aber doch gesagt werden, daß die in ihm enthaltene Wahrheit gerade auf dem Felde des Verfassungsschutzes zutrifft. Wenn wir in der Situation des 19. Jahrhunderts lebten, brauchten wir uns über die Existenz von Verfassungsschutzämtern nicht zu unterhalten. Die leidige Notwendigkeit ist einfach dadurch gegeben
— Herr von Merkatz und alle meine Vorredner sagten es schon —, daß wir in einer furchtbaren Bedrohung unseres nationalen Lebens nicht nur durch eine auswärtige Macht, sondern auch durch das Bündnis einer auswärtigen Macht mit einer
ganz bestimmten aggressiven menschenfeindlichen Ideologie stehen. Das ist der Tatbestand.
— Sie haben vollkommen recht; das andere ist auch eine Gefahr, und sie muß genau so abgewehrt werden. Nur ist im Augenblick die erstgenannte Gefahr, das werden Sie mir zugeben, die ungleich größere. Prinzipiell bin ich natürlich vollkommen mit Ihnen einverstanden.
Wenn wir nun der Frage der Grenzziehung nähertreten, so möchte ich zunächst den Gedanken aufgreifen, den Herr Gille hier vertreten hat. Herr Gille meinte — unter Ihrem Widerspruch, Herr Kollege Schmid —, daß die Grenzziehung zwischen der Beschaffung des Materials und der Auswertung des Materials liegen könnte. Das ist sicherlich ein sehr erwägenswerter Gedanke. Ich möchte ihm nicht ohne weiteres in Gänze zustimmen. Denn ich sehe auch in der Sammlung des Materials schon eine beträchtliche Gefahr, vor allen Dingen in der Anlage einer Personenkartei. Das sind Fragen, die man aber jetzt hier nicht durchdiskutieren kann, sondern da, glaube ich, hat der Ausschuß zum Schutze der Verfassung reichliches Arbeitsmaterial. Sicherlich aber liegt die eigentliche Gefahr auf dem Gebiete der Auswertung.
Nun ist die Arbeit der Verfassungsschutzämter nicht in erster Linie darauf gerichtet, daß irgendwelche Schuldige einer Strafverfolgung zugeführt werden. Es kann im Gegenteil oft im Interesse der Arbeit der Verfassungsschutzämter liegen, daß eine Strafverfolgung nicht einsetzt, weil den Verfassungsschutzämtern daran gelegen sein muß, ganze Organisationen aufzudecken, die eine staatsfeindliche Tätigkeit entfalten, und weil durch eine voreilige Strafverfolgung eines einzelnen dieses Vorhaben vereitelt werden könnte. Wir haben dabei aber mit einer großen Schwierigkeit zu rechnen. Es wird hier so leicht gesagt, daß einwandfreie demokratische Mitbürger nicht Gegenstand einer Überprüfung durch die Verfassungsschutzämter sein dürften. Soweit es sich um die Fälle handelt, in denen die Verfassungsschutzämter aus irgendeinem allgemeinpolitischen Anlaß auf die spezielle Überprüfung eines einzelnen angesetzt werden, stimme ich zu. Aber der Feind, der uns bedroht, arbeitet nicht offen, sondern getarnt mit Tarnorganisationen, und es ist nicht immer ganz leicht, zu unterscheiden, ob irgendeine Organisation wirklich so harmlos ist, wie sie aussieht, oder ob dahinter nicht die diabolische Geschicklichkeit des gemeinsamen Feindes steckt. Ich stimme ganz sicher nicht dem berüchtigten Wort zu: „Wo gehobelt wird, da fallen Späne." Ich erinnere mich noch ganz genau des infernalischen Satzes in dem „Schwarzen Korps" und darf dabei zurückerinnern, daß das Blatt, das das Justizministerium damals im „Dritten Reich" herausgab, noch den Mut gehabt hat, gegen solche Methoden anzugehen, wogegen dann das „Schwarze Korps" höhnisch erwiderte, das Justizministerium gebe „ein Blättchen" heraus, in dem man noch mit rechtsstaatlichen Argumenten arbeite. Dann fiel der Satz: „Wo gehobelt wird, da fallen Späne."
— Sie mögen recht haben, Herr Kollege Schmid.
Jedenfalls hoffe ich, daß er nicht bei einem Verfassungsschutzamt, weder beim Bund noch in einem
sozialdemokratisch regierten Lande, beschäftigt ist.
Gewiß kann man das bei diesem Geschäft nie wissen.
Herr Gille, glaube ich, hat den Satz gesagt, jeder von uns müsse sich eben gefallen lassen, daß er einmal unter die Lupe genommen werde. Ich würde es einschränken. Jeder von uns, würde ich sagen, muß sich leider gefallen lassen, daß, wenn sein Name oder seine Person im Zusammenhang mit einer verfassungsfeindlichen Organisation oder Gruppe oder Personen, die sich in solchen Gruppen betätigt haben, auftaucht, er dann zunächst jedenfalls im Material der Verfassungsschutzämter festgehalten wird. Es sollte nur so sein können wie im Strafrecht, daß dies auch dazu führen könnte, daß der Betreffende,
Gelegenheit hätte, seine Nichtbeteiligung nachzuweisen. Das ist das schwierige Problem des rechtlichen Gehörs in diesem Zusammenhang. Ich muß gestehen: ich habe noch keine Patentlösung dafür. Vielleicht wissen Sie schon eine, Herr Kollege Schmid?
— Ja, mag sein. Jedenfalls würde ich auch hier vorschlagen, daß der Ausschuß für Verfassungsschutz das Problem einmal ernsthaft durchdenkt. Es ist etwas Neues, und ich sehe nicht ein, warum es uns in unserer Zeit nicht gelingen sollte, eine ähnliche rechtsstaatliche Grenzziehung zuwege zu bringen, wie sie damals für das Gebiet des Strafrechtes und des Polizeirechtes gefunden worden ist.
Eines aber, meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang wirklich mit allem Ernst: Wir entziehen uns ganz gewiß nicht der Auseinandersetzung über dieses Problem. Im Gegenteil, wir wünschen sie. Jeder rechtsstaatlich Gesonnene muß die Gefahren sehen — ich stimme Herrn von Merkatz zu —, die auf diesem Gebiet entstehen können. Nur um eines bitte ich: Man benutze doch dieses Problem nicht als Vorspann für ganz anders geartete politische Diskussionen und Auseinandersetzungen!
Wir schaden damit nur einer gemeinsamen Angelegenheit.
Bei Herrn Menzel klang es an, daß das arme deutsche Volk schon wieder in Beben und Angst vor gestapoähnlichen Methoden lebe.
— Gut, wenn es Herr Maier gesagt hat, dann gilt für ihn dasselbe.
Herr Kollege Menzel, ich habe die Fälle, die Sie
vorgetragen haben, durchaus ernst genommen. Ich
würde z. B. den Fall des Rechtsanwalts, den Sie genannt haben, wenn er so liegt, auch für einfach unerträglich halten. Der Mann muß doch die Möglichkeit haben, irgendwann und irgendwo einmal rechtliches Gehör zu finden. Wir sollten aber dann die echte Problematik nicht durch Beimischung von, nun, sehr stark propagandistisch gewürzten Feststellungen trüben. Ich jedenfalls habe dieses Angstbeben im deutschen Volk bisher noch nicht wahrgenommen.
Ich habe manchmal das Gefühl, daß es eher so ist, daß, wenn der Herr Bundeskanzler, dessen Wort natürlich Gewicht und Autorität hat, gelegentlich in der Art, die wir an ihm kennen, mit Nachdruck und mit Ernst jemanden wegen irgendeiner Haltung oder irgendeiner Äußerung tadelt, was sein gutes Recht ist, eben diese Autorität und das Gewicht des Wortes des Herrn Bundeskanzlers auf sehr viele Deutsche Eindruck machen.
Nun, meine Damen und Herren, das ist eine Tatsache, die manchen Leuten nicht recht behagt.
— Verehrter Herr Kollege, ich habe gar nichts dagegen, daß Sie das kritisieren, nur meine ich, sollte man es auch mit der gebotenen Sachlichkeit im konkreten Fall tun.
Ich schlage vor, die echten Anliegen, die heute vorgetragen worden sind, und das von mir angeschnittene Problem der rechtsstaatlichen Grenzziehung auf dem Gebiet des Verfassungsschutzes in allem Ernst und mit aller Sorgfalt im Ausschuß zum Schutze der Verfassung miteinander zu prüfen. Ich weiß mich doch mit Ihnen allen einig, meine Damen und Herren, daß wir auf diesem Gebiet, wo man zwar leicht ein paar markige Männerworte mit dem Pathos des Stolzes vor Königsthronen formulieren und des Beifalls aller rechtsstaatlich Aufrechten sicher sein kann, doch alle auch die große Gefahr, die uns droht und die keineswegs geringer geworden ist, sehen. Ich weiß mich mit Ihnen allen auch in der Einsicht einig, daß wir unsere rechtsstaatlichen Sicherheitsbedürfnisse ein wenig zurückstecken müssen gegenüber Zeiten einer, ach so lange verschwundenen, bürgerlichen Sekurität. Halten wir nach beiden Seiten zusammen! Halten wir zusammen in der Abwehr der Staatsfeinde, und halten wir zusammen in der Abwehr der aus Institutionen, wie es die Verfassungsschutzämter sind, nun einmal leider drohenden Gefahren! Dann wird man uns nicht eines Tages — und das wäre ja der bitterste Vorwurf — sagen können: Ihr habt nicht genug getan, um eine neue Katastrophe zu verhindern.