Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sowohl Herr Professor Preller als auch der zweite Redner der Opposition haben die Dinge so dargestellt, als wenn man im Bundesarbeitsministerium die wirklich notwendigen Arbeiten vernachlässigt hätte und der Bundesarbeitsminister so etwas wie ein Anhängsel des Herrn Bundesfinanzministers geworden wäre. Es gibt Sozialpolitiker — und vor allem Sie, Herr Professor Preller, haben doch sehr gute Beziehungen zu diesen Leuten —, die darüber ganz anderer Meinung sind als Sie.
Wie ich weiß, waren gerade die verantwortlichen Leute in unseren Sozialversicherungsträgern, als wir nach dem Kriege in Frankfurt unsere Arbeit begannen, der Meinung, daß es vielleicht Jahrzehnte dauern werde, bis man der ganzen Sozialversicherung und damit der sozialen Sicherstellung der arbeitenden Menschen wieder einen festen Grund geben könne. Als wir hier in Bonn den ersten Etat des Bundes aufstellten, waren wir in der Lage, einen Betrag von 700 Millionen DM in den Etat einzusetzen und die sozialen Verpflichtungen aus der Rentenversicherung so zu untermauern, daß sie gesichert waren. Vor drei Jahren habe ich einmal auf dem Verbandstag der Ortskrankenkassenverbände vor 2000 Delegierten gesagt, eine wirkliche Sicherung der sozialen Rechtsstellung der arbeitenden Menschen werde nur möglich sein, wenn wir aus dem Bundeshaushalt einen Betrag von jährlich eineinhalb Milliarden DM bekommen, um so zumindest in etwa die Schwierigkeiten zu überwinden, die uns durch den Verlust der Deckungskapitalien bei den Rentenversicherungen entstanden seien. Damals hat mir ein Freund von Ihnen im persönlichen Gespräch gesagt: „Kollege Storch, das erlebst du nicht und das erlebe ich nicht, daß wir anderthalb Milliarden zusätzlich aus Steuermitteln für unsere Zwecke bekommen!" — Und was haben wir denn heute? In dem Ihnen vorliegenden Etat sind diese Beträge nicht um 1,5, sondern um 1,9 Milliarden DM erhöht!
Es kommt doch praktisch nicht darauf an, daß man jeden Tag draußen im Volke große Reden hält über das, was man tut, sondern daß man in Wirklichkeit für diese Menschen etwas erreicht.
Herr Professor Preller, ich kann Ihnen nur einen guten Rat geben: legen Sie das, was Sie heute gesagt haben, morgen Ihrem Parteifreund, dem jetzigen Vorsitzenden des Verbandes der Rentenversicherungsträger, dem ehemaligen Ministerpräsidenten Christian Stock, vor, und er wird sagen: Meine Zustimmung bekommen Sie für derartige Ausführungen nicht!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man aus einem völligen Zusammenbruch herauskommt und die Verpflichtung hat, gerade für die Ärmsten der Armen und für die Schwächsten in der Bevölkerung Sicherungen zu schaffen, dann muß man allerdings manchmal das, was man vielleicht gern tun würde, zurückstellen, bis man die wirtschaftlichen und die finanziellen Grundlagen geschaffen hat. Unsere ganze Arbeit, angefangen mit dem Wirtschaftsrat in Frankfurt und fortgesetzt in diesem Hause, in der Regierung der Bundesrepublik, war ein allmähliches Anpassen der sozialen Verpflichtungen an die wirtschaftlichen Möglichkeiten. Man kann doch keine Sozialpolitik in einem luftleeren Raum machen,
wenn man nicht sofort in eine Inflation steuern will. Das wollen Sie nicht, und das wollen wir nicht; wir sind auf diesem Gebiet in Wirklichkeit einig.
Ich habe bestimmt nicht erwartet, daß ich hier heute bei den Etatberatungen ein besonderes Loblied bekommen würde. Das erwarte ich gar nicht; denn ich weiß selbst gut genug, daß wir in der Entwicklung stehen und daß diese Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Ich weiß ebenso gut wie die Damen und Herren von der Opposition, daß es vor allen Dingen bei unseren Rentenversicherungsträgern noch Menschen zu betreuen gibt, die in bitterer Not sind. Deshalb habe ich ja bereits öffentlich gesagt, welche Verbesserungen wir gerade für die Ärmsten der Armen, nämlich für die Altrentner, durchzuführen gedenken. Wenn da gesagt wird: Nun ja, das ist zwar alles versprochen worden, und die Wahlresultate vom 6. September waren nichts anderes, als daß das Volk Versprechungen geglaubt hat, so dürfen Sie mir eines glauben: ich habe es beim Wahlkampf zum Bundestag strikt vermieden, irgendwelche Versprechungen zu machen,
aber, Herr Professor Preller, ich bin hingegangen und habe einen Rechenschaftsbericht vor den Wählern gegeben,
und das haben die Leute verstanden. Nicht Versprechungen für die Zukunft, sondern das, was man bisher im Rahmen des Möglichen getan hat. Ich könnte Ihnen Unterlagen zeigen, daß die breiten Volksschichten, die hier betroffen werden, darauf auch so reagiert haben, wie ich es bei dem gesunden Menschenverstand unserer Menschen erwartet habe.
Nun haben Sie heute wieder einmal gefragt: Wo bleibt die große Sozialreform? Sie ist lange angesagt. Ich glaubte allerdings auch bei Ihnen, Herr Professor Preller, eine unterschiedliche Beurteilung einer Sozialreform, das heißt, einer Zusammenfassung all der Maßnahmen, die sich aus der Sozialversicherung, aus der Versorgungsverpflichtung des Staates, wie beispielsweise für Kriegsbeschädigte, Flüchtlinge und Vertriebene, und aus den Wohlfahrtsverpflichtungen der Länder ergeben, und einer Reform der Sozialversicherung voraussetzen zu dürfen. Das zusammenzufassen in eine einheitliche Schau, ist selbstverständlich eine Notwendigkeit. Ich gebe Ihnen, Herr Professor, recht, wenn Sie sagen, daß die Zahlen, die da von einem Beamten des Finanzministeriums in einem Artikel genannt worden sind, nicht als Gesamtsoziallasten angegeben werden können. Ich gehe auf diesem Gebiet völlig mit Ihnen einig, und ich habe das meinem Kollegen Schäffer auch gesagt.
Aber auf der anderen Seite, Herr Professor Preller haben wir, die wir sozialpolitisch j a nicht erst von gestern und von heute sind,
doch eine große Aufgabe. Es ist die Reform der Sozialversicherung. Das ist etwas ganz anderes als eine Sozialreform. Wir müssen doch die Versicherungsträger, die Rechtsansprüche vermitteln, so gestalten, daß sie miteinander und nebeneinander laufen, ohne sich gegenseitig zu stoßen. Hier stehen wir vor ungeheuren Aufgaben. Herr Kollege Atzenroth hat vorhin auf die Schwierigkeiten hingewiesen, welche die Sozialversicherung in gewissen Zeiten haben wird. Ja, wenn diese Dinge unabwendbar wären, Herr Kollege Atzenroth, dann könnte uns vor der Zukunft angst und bange werden. Aber tatsächlich ist es doch so, daß wir ungefähr 40 % unserer Renten aus der Invalidenversicherung an Leute bezahlen, die unter 65 Jahre alt sind. Wir müssen deshalb bei der ganzen Reform unserer Sozialversicherung vor allem die Frage prüfen, wie der Gesundheitsdienst sein muß, um gerade die vorzeitige Invalidität in Zukunft zu verhindern, damit wir, wenn wir einen größeren Kreis von alten Menschen haben, wenigstens nicht auch noch verpflichtet sind, an jüngere Menschen in größerem Umfang Renten zu zahlen.
Nur über diese Konzeption kann man in Wirklichkeit zu einer Gesundung und dauernden Sicherheit kommen.
Nun sagt man, daß diese Dinge ja seit einem halben Jahre im Gange seien. Ich bin mit dem Herrn Kollegen Traub darüber einig, daß wir die Probleme, die wir bei der Besprechung der Großen Anfrage in Kürze zu erörtern haben werden, nicht heute vorweg behandeln; denn das wäre eine völlig überflüssige Arbeit. Entweder hätte man die Besprechung dieser Großen Anfrage mit der Etatberatung verbinden oder man hätte diese Fragen heute einmal ausschalten und auch nicht am Rande erörtern sollen, weil gewisse Behauptungen einer Antwort des zuständigen Ministers bedürfen. Aber ich möchte Ihnen eins sagen. Allein die Neuordnung unserer Sozialversicherung ist eine Aufgabe von eminenter Bedeutung. Früher hat man für derartige Arbeiten Jahre gebraucht; heute jedoch verlangen Sie, daß diese verworrene Situation in Monaten gelöst wird.
Herr Professor Preller, Sie kennen doch ganz bestimmt durch Ihre Verbindungen nach England und wahrscheinlich auch durch eine persönliche Bekanntschaft mit Lord Beveridge den Gang der Entwicklung in England. Als ich das letzte Mal mit Lord Beveridge zusammen war, hat er mir gesagt: „Der ganze Beveridge-Plan und damit die Grundlage der sozialen Sicherheit in England ist im Anfang durch einen Parlamentsausschuß behandelt worden. Nachdem dieser Ausschuß zwei Jahre gearbeitet hatte, hat der Ausschuß Lord Beveridge persönlich beauftragt, die Dinge fertigzustellen, und er hat für seine Arbeit noch einmal ein Jahr gebraucht." Daß wir derartige Zeitspannen nicht zur Verfügung haben, weiß ich am allerbesten. Ich kann dem Hohen Hause sagen, zur Vorbereitung der Gesetzesvorlage über die Erhöhung der Renten für die Alten ist in meinem Hause in der dafür zuständigen Abteilung Sperre für jede andere Arbeit gegeben. Ich nehme an, daß ich noch im Laufe dieses Monats von meiner versicherungsmathematischen Abteilung die Grundlagen dafür bekomme, daß dann der Referentenentwurf so schnell wie möglich fertiggestellt werden kann.
Wie schwer die Dinge sind, meine sehr verehrten Damen und Herren, sehen Sie aus einer Rede, die vor kurzem Lord Beveridge im englischen Oberhaus gehalten hat. Dort hat er, obwohl er für seinen Plan so viel Zeit hatte, festgestellt, daß doch vieles unvollkommen geblieben ist und daß man heute daran gehen muß, diese Dinge neu zu überprüfen. Ich garantiere Ihnen, daß die Engländer den verantwortlichen Leuten auch die Zeit lassen, um über die Dinge hinwegzukommen. Wenn ich im
Kabinett und bei Besprechungen mit meinem Kollegen Schäffer gesagt habe, die dringendste Not müsse vorweg beseitigt werden, dann habe ich es getan, weil ich weiß, daß man wirkliche Reformen nicht durchführen kann, wenn ein Teil der Betroffenen in bitterster Not leben muß. Zuerst muß ich versuchen, die größten Notstände zu beseitigen. Erst dann kann ich an die grundsätzlichen Fragen herangehen und dafür sorgen, daß das Problem bei uns so durchgearbeitet wird, daß die dann neu gegebene Ordnung auch einmal für einige Jahrzehnte Bestand haben kann.