Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, daß niemand in diesem Hause ist, der nicht mit der Bemerkung des Herrn Kollegen Wehner übereinstimmt, daß sich unser Volk insbesondere nach dem Ausgang der Berliner Konferenz in einer sehr ernsten Lage befindet. Auch in anderer Hinsicht gibt es, glaube ich, keine unterschiedliche Auffassung, daß nämlich — Herr Kollege Wehner hat es angedeutet — jetzt unsere deutschen Mitbürger in Thüringen, Sachsen, Brandenburg, Mecklenburg allein noch Träger der tragischen Konsequenzen sind, die sich aus der großen deutschen Katastrophe unter Hitler ergeben haben.
Wir leben in relativer Sicherheit und absoluter
Freiheit. Wenn die Bewohner der sowjetischen
Zone den Verlauf dieser Debatte vernehmen, werden sie uns um die Freiheit ,des Gewissens und der Überzeugung beneiden, die auch in den Auseinandersetzungen dieses Tages spürbar geworden sind.
Ich habe eine Hemmung, mich nun etwa gefühlsbetont, pathetisch, mit billigen Worten von diesem Pult aus an die Menschen im sowjetischen Besatzungsbereich zu wenden. Gerade weil wir in ihnen allerdings — nicht nur in den noch bedauernswerteren Menschen in Waldheim und Bautzen — die Opfer der Spaltung unseres Landes sehen, sind wir es ihnen schuldig, ihnen nicht mit Worten, sondern mit Handlungen zu begegnen. Wir in der Bundesrepublik müssen uns darüber im klaren sein: der Genuß unserer Freiheit und Sicherheit bedingt Opfer; das tragische Gefälle im Lebensstandard zwischen der Bundesrepublik und Mitteldeutschland ist eine Verpflichtung für uns, noch größere Opfer für Berlin und die Sowjetzone zu bringen.
Die Opfer, die wir den Bewohnern der Sowjetzone unmittelbar zu bringen vermögen, sind minimal. Aber mittelbar können wir ihnen noch mehr Opfer bringen, indem wir die Bastion unserer Gesinnung, die Bastion unserer Überzeugung, die immer noch krisenhafte Stadt Berlin, die das Symbol für die Menschen der Sowjetzone und die Hoffnung auf eine Wende ihrer Trostlosigkeit von heute ist, so unterstützen, daß die Berliner ihren Kampf fortzusetzen in der Lage sind.
Und das andere Opfer. Das andere Opfer: daß wir uns bei aller Kontroverse, die wir uns im Zeichen einer freien Demokratie über Lebensfragen unseres Volkes in diesem Hause leisten dürfen, dessen bewußt sein müssen, meine Freunde, daß die Hörer in Dresden, Leipzig und Schwerin heute abend für eines kein Verständnis haben werden, bewußt oder unbewußt dargeboten: für irgendeine parteipolitische Rechthaberei.
Sie erwarten von uns ein hohes Niveau nationaler Moral, gerade unter der erschütternden Wirkung der Ergebnislosigkeit der Berliner Konferenz.
Diese Ergebnislosigkeit zu beschönigen, lehne ich ab. Die Konferenz hat sich eigentlich mehr deklamatorisch als ernsthaft und konkret mit der Lösung der deutschen Frage beschäftigt. Ich wünschte, man hätte die deutsche Frage mit derselben Bereitwilligkeit, zu Ergebnissen zu kommen, behandelt wie etwa das Korea-Problem oder die Fragen der Atomkontrolle und der Abrüstung. Soweit es geheime Gespräche auf der Berliner Konferenz gab, bezogen sie sich nicht auf die deutsche Frage. Und wenn in einigen Monaten die Mächte ihre Gespräche in Genf fortsetzen, dann müssen wir mit Bedauern vermerken, daß die deutsche Frage vorläufig nicht auf die Tagesordnung der internaionalen Gespräche gesetzt ist.
Wenn man nun aus dem, was aus dem Lager des Regierungsblocks, zu dessen Politik ich mich bekenne, und dem, was von den Sprechern der Opposition gesagt worden ist, das Fazit zieht, dann erlaube ich mir die Feststellung, ohne hier beschwichtigen zu wollen, daß, abgesehen von zwei Fragen und abgesehen von gewissen rhetorischen Temperamenten, zwischen beiden Seiten dieses Hauses eine sehr weitgehende Übereinstimmung vernehmbar geworden ist. Lassen Sie mich einige wenige Punkte herausgreifen; ich habe begonnen, Statistik zu führen, aber die Zahl wuchs an, und ich hörte wieder auf.
Der Herr Bundeskanzler und der Führer der Opposition zeigten sich trotz der Konstatierung der Ergebnislosigkeit der Berliner Konferenz in bemerkenswerter Übereinstimmung als Optimisten. Beide versicherten, sie seien Optimisten. Ich war es nicht ganz bis heute vormittag. Nachdem aber der Optimismus des Bundeskanzlers durch den Führer der Opposition kontrolliert und bestätigt worden ist, bin ich nun auch Optimist geworden, meine Damen und Herren!
Schließlich gebe ich zu: wenn man nicht trotz aller Bedrückung einen Rest von Optimismus hat, dann würde einem wohl der Mut genommen werden und die seelische Spannkraft, angesichts der unerhörten Komplikation unserer nationalen Lage überhaupt noch schöpferisch handeln zu können.
Und ein anderes. Der Sprecher der Regierung, der Herr Bundeskanzler, und der Sprecher der Opposition, Herr Abgeordneter Ollenhauer, haben beide ihrem Wunsch nach Entspannung in dem großen weltpolitischen Gegensatz, den wir kennen, Ausdruck gegeben, und von ihnen beiden ist darauf hingewiesen worden, daß eine Lösung der deutschen Frage nicht isoliert zu erwarten sei, sondern daß sie schließlich nur im Zuge einer internationalen Entspannung — womit nicht die Neutralisierung gemeint sei, auch das wurde von beiden Seiten übereinstimmend gesagt — möglich wäre.
Meine Damen und Herren, ich halte diese Übereinstimmung für entscheidend. Denn sie bestätigt die realistische Auffassung, daß es mit einer gefühlsbetonten Politik nach menschlichem Ermessen nicht gelingen kann, die Sowjetunion zum endlichen Verlassen des deutschen Okkupationsgebietes zu bringen. Dieser Hinweis auf die Entspannung und der Hinweis darauf, daß die deutsche Frage nicht isoliert zu lösen sei, enthält zweifellos die Meinung, daß die Sowjetunion für das deutsche Schicksal leider, leider eine furchtbare Realität geworden ist. Sie steht als Besatzungsmacht tief im deutschen Land. Es ist vielleicht auch angebracht, allgemein einmal zu sagen, daß im Ergebnis des zweiten Weltkriegs, in dem die Sowjetunion der einzige Gewinner gewesen ist, die Macht der Sowjetunion vom Oberlauf des Dnjepr, der früheren russisch-polnischen Grenze, bis in das Gebiet der Werra — das sind über tausend Kilometer — nach Westen hin ausgedehnt worden ist.
Wenn der Herr Bundeskanzler und der Sprecher der Opposition, also hier im Grunde unser Volk, ermahnen, die Gegebenheiten realistisch und ohne Illusionen zu sehen, dann, glaube ich, auch noch aus einem anderen Grunde. Es ist wohl angebracht, die Nebenbemerkung zu machen, daß die deutsche Bundesrepublik, in der wir heute den alleinigen
deutschen Staat in Freiheit und Würde und Unabhängigkeit zu erblicken vermögen, mit einem Gebietsumfang von 260 000 Quadratkilometern nicht einmal die Hälfte vom Flächenraum des ehemaligen Deutschen Reiches des Jahres 1914 mit 540 000 Quadratkilometern ausmacht. Die ganze Tragödie der deutschen Geschichte dieser Jahrzehnte kommt meines Erachtens nicht zuletzt in diesen Zahlen erschütternd zum Ausdruck.
Und nun ein Wort über die beiden Punkte — die einzigen, die ich sehe —, in denen zwischen uns im Regierungslager und der Opposition keine Übereinstimmung besteht. Das eine entnahm ich der Bemerkung des Herrn Kollegen Ollenhauer zur Erklärung des französischen Außenministers Bidault auf der Berliner Konferenz, der, um Herrn Molotow mit seinen fadenscheinigen Gründen zu beschwichtigen, darauf hinwies, daß ja doch die Sowjetunion vor einem militärisch aufgerüsteten Deutschland keine Angst zu haben brauche, weil dieses Deutschland militärisch und schließlich auch politisch durch die EVG gebunden sei. Herr Kollege Ollenhauer meinte, das wäre für ihn ein Grund mehr, seine Ablehnung des EVG-Vertrags zu bekunden. Meine Damen und Herren, ich bin anderer Meinung.
Ich bin der Meinung, daß die Bindung der Bundesrepublik über den EVG-Vertrag erstens keine Diskriminierung bedeutet, weil dieser gleichen Bindung jeder andere Vertragspartner ausgesetzt ist.
Das andere, das ich zu dieser Gegensätzlichkeit
zum Ausdruck bringen möchte, ist, daß ich gerade
in dieser, wie der zeitgemäße Ausdruck lautet,
supranationalen Bindung einen großen Gewinn
und einen gewaltigen politischen Fortschritt gegenüber dem durch Nationalismen zerrissenen und vernichteten Europa der Vergangenheit sehe.
Der zweite Punkt, in dem wir nicht übereinstimmen: Wir sind uns nicht einig in der Auffassung, daß der Verzicht auf die EVG als Voraussetzung für eine deutsche Wiedervereinigung notwendig sei. Ich habe nach dem sorgfältigen Studium dieser teilweise aus nächster Nähe erlebten Berliner Konferenz den Eindruck, daß diese Voraussetzung sozialdemokratischer Politik dank dem Verhalten des sowjetischen Außenministers Molotow nunmehr irreal geworden ist,
weil — das wurde schon von anderen Rednern, auch dem Sprecher der SPD, gesagt — ja doch Herr Molotow auf dieser Konferenz wahrscheinlich zum Erstaunen vieler Leute die erwartete Alternative: EVG oder echte Wiedervereinigung, schuldig geblieben ist.
Herr Molotow hat durch seinen Verzicht auf diese Alternative nicht nur der Haltung der sozialdemokratischen Opposition zu diesen Verträgen, sondern auch manchen anderen, die ernste Überlegungen über den Ausweg aus dem Dilemma: EVG und Wiedervereinigung, anstellten — ich meine nicht Herrn Joseph Wirth —,
einen schweren Stoß versetzt.
Man möchte beinahe — so habe ich es einem Freunde gesagt — etwas ironisch meinen, daß Herr Molotow den erbitterten Kampf des alten Kommunisten gegen den demokratischen Sozialismus auch bei dieser Gelegenheit fortgesetzt hat, als ob es sein Wunsch war, die sozialdemokratische Opposition zu schwächen, weil sie angesichts dieser Haltung des sowjetischen Außenministers — es ist wirklich meine Meinung — politisch unhaltbar geworden ist.
Dafür aber hat Herr Molotow uns vor die große Wahlentscheidung gestellt. Er hat uns die Volksabstimmung verheißen, die in seinem sowjetischen Bereich zweifellos in den nächsten Wochen durchgeführt werden dürfte, nämlich wir sollen uns entscheiden, ob EVG oder Friedensvertrag. Diese Entscheidung mutet mich an wie die Aufforderung, zu wählen zwischen Hose und Jacke,
wobei die Sicherheit die Hose und der Friedensvertrag die Jacke wäre.
Mit anderen Worten gesagt, ich kann zur Not ohne Jacke, aber nicht ohne Hose herumlaufen.
Ich würde Herrn Molotow und Herrn Ulbricht eine ganz andere Entscheidung vorschlagen, und ich bin überzeugt, daß dieses Haus in absoluter Einmütigkeit diese Fragestellung akzeptieren würde: Wenn schon jetzt keine gesamtdeutschen Wahlen möglich sind und die ostzonale Regierung unbedingt eine Volksabstimmung in allen Teilen Deutschlands veranstalten möchte, dann soll man in geheimer Wahl die deutschen Menschen zwischen Oder und Neiße und den westlichen Grenzen der Bundesrepublik fragen, ob sie sich zu den Prinzipien und der Lebensauffassung der Deutschen Demokratischen Republik oder der Bundesrepublik bekennen.
Diese Abstimmung freilich hieße beinahe Eulen nach Athen tragen. Es bedurfte nicht des 17. Juni, um volle Klarheit darüber zu schaffen, daß sich zwar viele Demarkationslinien tief in das deutsche Leben eingegraben haben, daß aber der geistige, der seelische und der politische Zusammenhalt aller Deutschen — und das ist ein großes Aktivum — gewahrt werden konnte.
Allerdings brennt die Lösung der deutschen Frage nicht in erster Linie uns, aber den Menschen in sowjetisch-politischem Gewahrsam auf den Nägeln. Darum bin ich fest davon überzeugt, daß der Herr Bundeskanzler und seine Regierung beharrlich wie bisher nicht nur ihre Forderung nach nationaler und demokratischer Selbstbestimmung des deutschen Volkes aufrechterhalten, sondern daß sie auch keinen Zweifel darüber lassen, daß unser Volk unter dem Eindruck des Ausgangs der Berliner Konferenz von einer heiligen Unruhe beseelt ist, und daß auch unsere Freunde in der Welt sich nicht darüber täuschen dürfen, daß wir immer fanatischer und entschiedener unsere Forderung nach Wiedervereinigung und Freiheit stellen werden.