Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nicht meine Absicht, in dieser Debatte, in der die Ansichten der großen Gruppen dieses Hauses einander gegenübergestellt worden sind, noch einmal den Versuch zu machen, eine Gesamtbewertung zu geben. Aber es ist die Ansicht meiner Fraktion, daß einige der Fragen, die in dieser Debatte zum Teil mit der direkten Adresse an uns gerichtet worden sind, einer Beantwortung unsererseits bedürfen.
Lassen Sie mich mit einem ganz offenen Wort beginnen. So wie die Dinge heute liegen, kann weder die Opposition dieses Hauses noch die Regierungsmehrheit dieses Hauses sagen, daß sie sich in einer einfachen Lage befinde.
— Ich habe erwartet, daß es in diesem Hause Mitglieder gibt, die darauf mit höhnischem Gelächter antworten. Ich habe das ja auch nur registriert. Dabei will ich mich nicht aufhalten. Nehmen Sie eine solche Feststellung so, wie sie gemeint ist, nämlich von der objektiven Lage unseres Volkes aus gesehen.
Ich sage, daß beide Seiten — mit Ausnahme einiger, die immer Grund haben, sich zu freuen, die sich auch jetzt noch freuen — keinen Grund haben, die Dinge einfach zu sehen. Ich möchte aber mich und Sie fragen, ob nicht am schwierigsten die Lage der Deutschen ist, die sich in der sowjetisch besetzten Zone befinden. Ich bin überzeugt, daß es darauf auf allen Seiten dieses Hauses nur eine bejahende Antwort geben kann.
Vielleicht ist hier der Punkt, an dem wir uns ungeachtet unserer auch heute wieder, ich möchte sagen, sauber einander gegenübergestellten Meinungsverschiedenheiten treffen können, ja sogar müssen. Ich möchte damit nichts verwischt haben. Aber ich glaube, es muß noch einmal gesagt werden, daß wir in dem Ringen um die Herstellung des Gewichtes, das unser gespaltenes Land in der Auseinandersetzung der großen Mächte haben soll, hier den ruhenden Punkt und den Ort haben, dem wir gemeinsam verpflichtet sind: die Menschen in der sowjetisch besetzten Zone und in Berlin.
Die Konferenz, über die hier heute gesprochen worden ist und über die noch viel gesprochen werden wird, die mit einer solchen Debatte — das liegt wohl in den Auffassungen aller — nicht zu den deutschen Akten gelegt werden kann und soll, stellt uns Aufgaben. Vielleicht, ich möchte sagen wahrscheinlich, eröffnet sie uns auch Möglichkeiten, die jede für sich und in ihrer Summe auch neue Schwierigkeiten für die deutsche Politik ergeben.
Der Herr Bundeskanzler hat heute in seiner Rede gesagt, wenn ich ihn richtig verstanden habe: Deutschland hat ein vitales Interesse an der Entspannung des Ost-West-Konflikts, und ich möchte sagen, das ist ein Satz, hinter den ich mich voll und ganz stellen kann.
— Nun, man darf das wohl sagen. — Vor einigen Tagen hat er in einer andern Erklärung gesagt: Überall dort, wo etwas zur Entspannung des Weltkonflikts geschieht, da geschieht auch etwas für Deutschland. Ich nehme an: vorausgesetzt, daß wirklich etwas zur Entspannung des Weltkonflikts geschieht, und das ist ja eine gemeinsame Sorge. Deswegen haben wir heute unsere Aufgabe darin erblickt, als Quintessenz unserer Auffassung nach dem Ausgang dieser Konferenz herauszuarbeiten und Ihnen vorzutragen, daß wir meinen, es werde die Aufgabe der Bundesrepublik sein, in der deutschen Frage, die auf dieser Konferenz nicht gelöst worden ist, noch nicht gelöst werden konnte, die Verhandlungssituation offenzuhalten, soweit wir es können, diese deutsche Frage immer wieder ins Gespräch, ins Spiel zu bringen und — das war das zweite — den Versuch zu machen, Tendenzen zur Entspannung, die sich international andeuten, für innerdeutsche Verhältnisse nutzbar zu machen, wenn es möglich ist. Dafür sollten wir uns alle ernsthaft und unverdrossen anstrengen.
Es ist, glaube ich, des Nachdenkens wert, ob wir, wenn es tatsächlich Tendenzen zur Entspannung des Ost-West-Konflikts gibt, unsere politischen Überlegungen hinsichtlich dessen, was nun geschehen wird und muß und was wir tun müssen, auf einer Vorstellung von einer unmittelbar uns drohenden Gefahr aufbauen können. Das ist nicht so einfach zu beantworten, aber das ist jedenfalls des Nachdenkens wert. Immerhin ist heute in dieser Debatte auch ein offensichtlich ernst gemeinter Satz gefallen, der etwa so lautete: Diese Konferenz habe nicht zur Entpannung der Gegensätze beigetragen. — Vielleicht kann uns erst eine größere Erfahrung lehren, was für einen Platz die Konferenz nun in der Kette der Ereignisse hat; aber wenn es in ihr eine Chance gibt, die zur Entspannung führt, dann, meine ich, sollten diese Überlegungen nicht ungenutzt bleiben, – das alles, ohne daß wir sorglos werden dürfen oder wollen.
Hier ist in beredten Worten über die Gefahren des sowjetischen Totalitarismus gesprochen worden. Herr von Merkatz hat sich besonders stark dagegen verwahrt, daß in den Friedensvertragsvorschlägen Bedingungen enthalten sind, von denen er sagte, sie seien ein Mord an unserem inneren Leben. So ungefähr hat er sinngemäß gesagt. Nun, glauben Sie, die Sozialdemokratie und die Freie Sozialistische Arbeiterbewegung wüßte nicht, was für sie auf dem Spiele steht, daß ihre Existenz und ihre Entwicklungsmöglichkeit unverbrüchlich mit der Entwicklung der Demokratie verbunden und in sie eingebaut ist.
Was an den Plänen, die zusammen die Ausgangsposition der Sowjetmacht für die vor uns liegende Periode darstellen mögen, heute angeleuchtet wor-
den ist, das ist, so möchte ich sagen, der sowjetische Versuch der Sicherung und zugleich der Expansion, was bei den Russen immer sehr ineinander fließt. Aber vergessen wir doch auch nicht, daß dies eine Hypothek ist, die uns von einem anderen Totalitarismus, von einem anderen totalitären System hinterlassen worden ist,
und daß wir die furchtbare Aufgabe haben, diese Hypothek, soweit Menschen das können, mit unseren Kräften abzuwälzen und mit ihr fertig zu werden. Wir wissen — falls Sie erlauben, daß man noch in Ruhe dazu spricht, beantworte ich hiermit eine Frage, die heute hier ebenfalls gestellt worden ist —,
daß wir das nicht isoliert können, weder wir als Deutsche noch die Sozialdemokratie und die Menschen, die zu ihr stehen. Aber gerade deshalb haben wir ja versucht, unsere Auffassung von der Notwendigkeit der Verbindung unseres Strebens nach Erfüllung der vordringlichsten politischen Forderungen des ganzen deutschen Volkes mit dem nach Gemeinsamkeit mit den freien Nationen gegen die Verhärtung in eine Theorie vom stufenweisen Ablauf dieser Entwicklung zu verteidigen. Deswegen haben wir doch immer gesagt: Wir wollen nicht eine Reihenfolgetheorie. Herr von Brentano hat mich hier freundlicherweise aus dem September 1951 zitiert. Ich stehe nach wie vor zu dem, was ich im Jahre 1951 im Namen meiner Fraktion sagen durfte. Ich habe keinen Grund, davon ein Wort abzuhandeln. Wir könnten darüber reden — es ist heute hier versucht worden —, wann und wo man begonnen hat, sozusagen säuberlich eingeteilte Stufentheorien aufzustellen, daß erst die Integration und dann das andere kommen müsse; aber das führt wahrscheinlich zu nichts.
Noch ein Wort zu der Frage, wie es denn mit unserer Stellung gegenüber Entspannungstendenzen sei. Hier ist eine sehr böse Äußerung gefallen, so als wollten wir uns an den sowjetischen Machtblock anpassen. Wer ernsthaft dieser Meinung sein sollte, nun, der müßte es erst einmal unter Beweis stellen. Er müßte zum andern offen sagen, daß es dann keine Gemeinsamkeit, auch nicht in dieser einen zentralen Frage der deutschen Politik mehr geben kann. Dann soll er es aber offen sagen.
Es ging aber noch weiter. Wir haben heute hören müssen, daß sich seinerzeit in Korea die Dinge in einer Weise entwickelt hätten, wie wir sie uns für hier wünschten.
— Ungefähr gesagt, sehr hart gesagt. Ich wäre froh, wenn wir es im Protokoll nicht in dieser Schärfe fänden.
Dort, wurde gesagt, seien die Verhältnisse vorher auch säuberlich geteilt worden. Was wir zu Korea zu sagen haben, haben wir während dieser ganzen Tragödie hier gesagt. Das hat auch unsere Stellung zur deutschen Politik wesentlich mitbestimmt und bestimmt sie nach wie vor. Es ist nicht so, daß man ein Drängen der Sozialdemokraten auf maximale Ausnutzung jeder sich eventuell bietenden Möglichkeit zur Entspannung im Ost-West-Konflikt in
I der Richtung einer positiven Lösung der deutschen Frage abtun kann, indem man sich in die Zitate flüchtet. etwa in der Form von „Seid umschlungen, Millionen!". Auf dem Hintergrund nur so zu verstehender Äußerungen über die Enttäuschung, die unser Volk und besonders der Teil in der sowjetischen Zone über den Ausgang der Konferenz in der deutschen Frage empfindet, ist es einfach falsch, anzunehmen, der Versuch, zu dem wir raten, nämlich die deutsche Frage immer wieder ins Spiel, immer wieder ins Gespräch zu bringen, könne in irgendeiner Weise mit einer solchen, sozusagen lyrischen Haltung verniedlicht werden.
Herr von Brentano hat hier gefragt: Warum sollten wir – er meinte die Regierungsparteien — die Politik aufgeben, die uns bis hierher geführt hat? Sie haben die Mehrheit und Sie haben selbst zu entscheiden, was Sie mit dieser Politik weiter machen wollen. Aber es ist das legitime Recht der Opposition, ihre Meinung zu den schwachen Seiten dieser Politik so, wie sie sie versteht, zu sagen, und selbst wenn Sie diese Meinung der Opposition verwerfen — Sie können es ja, weil Sie die Mehrheit haben —, werden Sie, glaube ich, bei genauerem Nachdenken über die Lage manches finden, was, auch wenn Sie jetzt bei dem Versuch eines großen Aufwaschens nicht wünschen, daß es sichtbar wird, Ihnen des weiteren Nachdenkens wert erscheint.
Denn das Fortsetzen dieser Politik, meine Damen und Herren — und dabei kommt es ja hauptsächlich auf die Verträge an, um die hier so lange für und wider gestritten worden ist —, hängt doch zum allerwenigsten von Ihnen ab, so groß auch Ihre Mehrheit in diesem Hause ist. Das hängt doch von neuen Leistungen und von uns alle bedrückenden und Sorge bereitenden weiteren Vorleistungen ab, die man in anderen Ländern verlangt. Wir empfinden darüber keine Schadenfreude, daß nun auch noch über die Saar geredet werden soll; aber wir machen eben darauf aufmerksam. Von den Zusatzprotokollen ganz zu schweigen!
Aber nun muß ich noch ein Wort sagen zu der Schuldfrage, die heute hier angeklungen ist, soweit es sich um den Ausgang der Konferenz in der deutschen Frage handelt. Es ist ja ziemlich deutlich gesagt worden, in diesem Hause säßen diejenigen, die Schuld an diesem Ausgang hätten wegen der Verzögerung im Zustandekommen der Verträge. Darüber werden einmal andere urteilen müssen, darüber, was daran wahr ist und was daran verständliche Übertreibung und Entstellung im Eifer ist. Aber wenn man dann fortfährt und sagt, wir hätten ja viel Verständnis für Molotow gehabt und hätten wohl nun auch solches für die europafeindlichen Kräfte in Frankreich, so gehört das — entschuldigen Sie, Herr von Brentano — nicht mehr in die Kategorie von Meinungen, über die man wirklich sachlich und ernsthaft diskutieren muß.
— Das mag sein, daß Sie, Herr Kunze, das als Tatsachen empfinden. Wenn Sie sich über die Tatsachen informieren möchten, falls Sie dafür Zeit und Interesse haben, ich bin gern bereit, Ihnen unsere Verlautbarungen zu geben, die zu den Vorschlägen Molotows Punkt für Punkt ablehnend gewesen sind,
die sich aber nicht damit begnügt haben, sondern die den Versuch gemacht haben, aus einer Verhandlungs- und Konferenzsituation heraus, wenn in dieser Konferenz in der deutschen Frage etwas Positives geschehen konnte, mit darauf einzuwirken, nichts anderes. Da können Sie heute noch jedes Wort so nehmen, wie es damals geschrieben worden ist.
Herr Dr. Dehler hat hier gesagt, in der Außenpolitik gebe es am Ende nur einen Weg, und die Opposition habe, wenn sie ihren Standpunkt dargelegt habe, die verdammte Pflicht, sich einzuordnen.
In solchen Äußerungen liegt — ich will mich darüber gar nicht lustig machen — ein Symptom für eine Entwicklung in unserem gespaltenen Nachkriegsdeutschland, die niemanden ganz glücklich werden läßt, hoffentlich auch manchen in diesem Hause nicht.
— Was das soll, das will ich Ihnen ganz offen sagen. In einem Land, das in einer Lage wie der unseren ist und das sich aus Trümmern und Schutt und Dreck herausarbeiten muß, hätte von Anfang an ernster und immer wieder versucht werden müssen, in den großen, den zentralen Fragen der großen Politik, soweit es geht, Gemeinsamkeiten zu erzielen.
Ich weiß, daß ich diesen Beifall sehr entgegengesetzten Motiven zu verdanken habe.
Aber ich möchte Ihnen — über den Lärm der Sekunde hinaus — sagen: hier ist ein Reflex einer
tragischen Entwicklung in unserer Nachkriegszeit.
Es ist in Frage gestellt worden, ob meine Freunde und ich, die vom Vorstand der Sozialdemokratischen Partei beauftragt waren, während der Konferenz in Berlin zu sein, dazu legitimiert waren. Wir waren in Berlin, um — soweit das Deutschen möglich war — in Erfahrung zu bringen, was auf der Konferenz geschah, wie die Konferenz verlief, und um, wenn jemand unsere Meinung hören wollte, mit unserer Meinung zur Verfügung zu stehen. Die Sozialdemokratische Partei mußte
— auch wenn Herr Dr. Dehler das nachträglich sozusagen verboten haben möchte — schon deshalb ganz einfach dort sein, weil sie sich mit den Opfern der Spaltung Deutschlands verbunden fühlt,
mit denen wir in diesen Tagen, nachdem sie aus Bautzen und aus Brandenburg gekommen sind, in Berlin gesprochen haben.
— Ich hoffe, Herr Dr. Bucerius, daß Sie nicht auch noch dieses Interesse in Frage stellen wollen, das Interesse an denen, denen es in unserem Volke am schlimmsten geht und die dort zum Tode und zu 25jährigen Freiheitsstrafen verurteilt sitzen. Es ist Ihnen unangenehm, Herr Dr. Bucerius, daß man
darüber spricht; das gehört aber zu den Realitäten und zur Legitimation auch unseres Auftretens bei dieser Gelegenheit.
Wir haben in Berlin den Pressevertretern, die Interesse für unseren Standpunkt hatten, z. B. eine solche Schrift wie „Unser Weg zur Einheit Deutschlands" — sie steht jedem zur Einsicht offen — gegeben, in der die völlige Übereinstimmung der Sozialdemokratischen Partei und ihres Kampfes mit dem, was der Bundestag, seitdem er besteht, in diesen Fragen beschlossen hat, nachgewiesen ist. Zweitens haben wir etwas gemacht, von dem ich gewünscht hätte, andere hätten es mit den ihnen in viel stärkerem Maße zur Verfügung stehenden Mitteln ebenfalls gemacht. Wir haben „Die Sowjetzone im Zahlenspiegel" Hunderten und aber Hunderten ausländischer Journalisten gegeben, um einmal das wirtschaftliche und soziale Elend der Menschen, die 'am meisten unter der Teilung zu leiden haben, zu kennzeichnen und zugleich auch die wirtschaftlichen Aspekte bei dem Prozeß der Wiedervereinigung und Verschmelzung aufzuzeigen.
Die Auseinandersetzung darüber, was unserem Volk not tut und was ihm gut tut, wird mit dieser Debatte ja nicht zu Ende sein. Ich möchte aber noch einmal auf das zurückkommen, was ich mir eingangs meiner Bemerkungen zu sagen erlaubte, daß die Lage für keinen Teil einfach ist und daß keiner hingehen und behaupten kann, er habe dort sozusagen einen Triumph davongetragen.
Es gibt auch solche, und ich freue mich, daß Sie sich von solchen jetzt distanzieren. Ich hoffe, daß wir in dem Bestreben
— das kann man ja schriftlich sehen, wenn es Sie interessiert; das brauche ich Ihnen jetzt wohl nicht noch vorzulegen — um die zwei zentralen Punkte, die wir für die nächste deutsche Politik sehen, die Verhandlungssituation offenzuhalten und, soweit es in unseren Kräften steht, natürlich auch mit Hilfe der Besatzungsmächte, innerdeutsche Erleichterungen der Auswirkung der Spaltung zu erwirken, zu größerer Übereinstimmung und Gemeinsamkeit gelangen, als es bisher scheinen mag.