Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Die im vorliegenden Gesetzentwurf behandelte Angelegenheit hat bereits den ersten Bundestag in mehreren Sitzungen beschäftigt. Es handelte sich darum, einen § 4 in das Gesetz über die Erhöhung der Einkommensgrenzen in der Sozialversicherung aufzunehmen. Ich erinnere die Mitglieder des ersten Bundestages, die die Sitzung mitgemacht haben, daran, wie nach sehr temperamentvoller Debatte in später Abendstunde am 19. Juli 1952 bei der dritten Lesung des Gesetzes dieser Teil zurückgezogen worden ist. Es hatte sich herausgestellt, wie ungeheuer schwierig es war, auf der einen Seite die Sicherung der Versicherten für den Fall der Krankheit und auf der anderen Seite die berechtigten Wünsche der Ärzte unter einen Hut zu bringen.
Ich will nun gerne zugeben, daß der jetzt vorliegende Gesetzentwurf besser durchgearbeitet ist, als es seinerzeit der § 4 des genannten Gesetzes war. Es sind auch einige Wünsche, die wir damals bei der Beratung ausgesprochen haben, berücksich-
tigt worden. Aber auf der anderen Seite enthält der jetzt vorliegende Gesetzentwurf auch eine Verschlechterung. Wir hatten damals in der Ausschußberatung — ich erinnere an den Bericht des Herrn Kollegen Horn — erreicht, daß die Grenze für die Versicherungsberechtigung generell von 8400 auf 9000 DM heraufgesetzt wurde. Jetzt hat die Regierung wieder den Betrag von 8400 DM eingesetzt, allerdings einen Zuschlag für die Ehefrau und die Kinder vorgesehen. Aber das kann uns in keiner Weise beruhigen. Ich muß offen sagen, daß uns auch die Verbesserung, die darin liegt, daß die freiwillige Versicherung wieder aufgenommen werden kann, wenn innerhalb von fünf Jahren nach dem Erlöschen der Versicherungsberechtigung das regelmäßige Einkommen die genannte Einkommensgrenze unterschreitet, nicht bestimmen kann, dem Gesetzentwurf, so wie er uns heute vorliegt, zuzustimmen. Wir verlangen deshalb, daß der Gesetzentwurf in all seinen Teilen bei der Ausschußberatung ganz energisch durchgearbeitet wird.
Was ist denn der Grund für die Vorlage dieses Gesetzentwurfs? Abgesehen davon, daß die Regierung die Erwägung aus der Reichstags-Legislaturperiode von 1910/11, d. h. vor dem 1. Weltkrieg, anführt, wonach der Wunsch der Ärzte, wohlhabende Leute nicht als Kassenpatienten behandeln zu müssen, durchaus berechtigt sei — ich bedaure das —, abgesehen davon also bestreiten wir keineswegs, daß sich heute viele Ärzte zumindest nicht in rosigen materiellen Verhältnissen befinden, und wir bestreiten auch nicht, daß die Honorarsätze — dann allerdings für a 11 e Versicherten — nicht ausreichen, um die notwendige materielle Sicherung für die Ärzte zu erreichen. Aber ob das durch dieses Gesetz überhaupt und zu welchem Teil geändert werden kann, das muß zumindest bezweifelt werden.
Ich erinnere hier daran, daß wahrscheinlich die jungen Ärzte materiell am schlechtesten gestellt sind, die nicht in der Lage sind, sich eine Praxis aufzubauen, und die heute in Krankenhäusern als Assistenzärzte zum Teil voll beschäftigt sind, ohne eine wirkliche Entschädigung dafür zu bekommen; dadurch aber, daß sie nicht in ein tarifliches Angestelltenverhältnis eingestuft sind, haben sie selber diese notwendige soziale Sicherung für den Fall der Krankheit oder der Arbeitsunfähigkeit oder für ihre Familie im Falle des Todes nicht erworben.
Das sind alles Fragen, die vollkommen aus diesem Gesetz ausscheiden. Hier handelt es sich, wenn überhaupt um die Ärzte, lediglich um die Krankenkassenärzte, und da muß ich sagen: wir sind gern bereit, diese Frage zu prüfen, aber wir glauben, daß sie viel besser geprüft und eventuell geregelt werden kann bei dem Gesetz über das Recht des Kassenarztes, in dem dann die Honorarfrage von allen Seiten durchgesehen und für alle Behandlungen untersucht werden muß.
Nun noch ein Wort zu dem gegenwärtig zur Beratung stehenden Gesetzentwurf. Ich möchte darauf hinweisen, daß der Bundesrat dieses Gesetz abgelehnt hat, und zwar deshalb, weil er, wie der Bundesrat sagt, zu einem Unrecht gegen diejenigen führen würde, die sich nach Erreichung der Pflichtversicherungsgrenze in der Erwartung einer wirklichen Sicherung für den Fall der Krankheit freiwillig weiterversichert haben. Ich muß sagen: es ist aber auch ein Unrecht gegenüber denjenigen, die sich vielleicht seit Jahrzehnten in der Pflichtversicherung befinden, ihre Beiträge zur Krankenkasse bezahlt haben und dann, wenn sie einen bestimmten Betrag — nach diesem Gesetz sind es 8400 DM — überschritten haben, nun aus dieser Krankenkasse ausgeschlossen werden sollen.
Das, was die Bundesregierung in ihrer Antwort auf den Hinweis des Bundesrates sagt, ist nach meiner Ansicht in keiner Weise eine Entkräftung der Argumente des Bundesrats. Darin heißt es, daß in die deutsche Sozialversicherung nur solche Personen einbezogen werden sollen, die wegen ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage dieses Schutzes gegen die Wechselfälle des Lebens bedürfen. Nun frage ich Sie, meine Herren und Damen: wann ist man gegen die Wechselfälle dieses Lebens gesichert?
Wann ist man insbesondere unter d e n Verhältnissen gesichert, wie sie sich nach dem zweiten Weltkrieg entwickelt haben? Ich meine, man ist schon ganz bestimmt nicht „gesichert", wenn man ein Einkommen von über 700 DM monatlich hat. Wir wissen doch alle, welches Ausmaß heute die Teuerung angenommen hat. Wir wissen doch alle — wir haben ja vorhin auch von den Heimatvertriebenen gesprochen, ich erinnere Sie auch an die Heimkehrer —, wie Menschen jahrzehntelang oder viele Jahre lang überhaupt kein Einkommen gehabt haben. Wenn es einem solchen Menschen einmal gelingt, eine Stellung mit einem Einkommen von monatlich 800 oder 900 DM zu bekommen, ist er bestimmt noch nicht gegen die Wechselfälle des Lebens gesichert. Ich erinnere aber auch daran, daß es sich um selbständige Geschäftsleute handelt, um Handwerker, um einen über diese Einkommensgrenze gelangenden Angestellten. Die Erfahrung hat uns doch gelehrt, daß eine hundertprozentige Sicherheit in der Erhaltung einer solchen Existenz in dieser Form nicht vorhanden ist. Ich erinnere besonders an die wirtschaftlich schwachen Gebiete in der Bundesrepublik. Ich will gar nicht von Berlin sprechen; die dortigen Verhältnisse sind vollkommen bekannt. Ich erinnere aber an Schleswig-Holstein, an Niedersachsen, an große Teile von Bayern. Vielleicht ist es mal möglich, daß jemand zu einem diese Einkommensgrenze übersteigenden Gehalt kommt; aber wer ist gesichert gegen Konjunkturschwankungen? Wer ist gegen eine Verlagerung des Betriebes, in dem er beschäftigt ist, gesichert? Wir wissen, daß solche Verlagerungen immer noch vorkommen. Und wer ist in dem Falle einer zeitweiligen Erhöhung des Einkommens gesichert?
Wer kommt denn überhaupt dafür ganz besonders in Frage? Das sind doch die älteren Menschen, die alten Menschen. Bei der Beratung des § 4 des seinerzeitigen Gesetzentwurfs, von dem ich schon sprach, haben wir gefordert, daß diese Bestimmungen nicht für Personen, die das 45. Lebensjahr überschritten haben, in Frage kommen dürfen. Dieser Antrag ist abgelehnt worden. Nun schreibt man in die Begründung des Gesetzes hinein, dieser Einwand sei gegenstandslos; denn die Ausscheidenden hätten j a den Versicherungsschutz in der privaten Krankenkasse, die bereit sei, die Ausscheidenden ohne Rücksicht auf Alter oder Vorerkrankung aufzunehmen. Meine verehrten Kollegen und Kolleginnen, ich glaube, daß das für jemanden, der jahrzehntelang einer Ortskrankenkasse angehört hat, gar keine Beruhigung sein kann. Wir wissen doch alle, daß das eine mündliche Verpflichtung ist, von der wir nicht wissen, wie sie in der Praxis
erfüllt wird. Wir wissen doch alle, daß die unbedingt festen Bestimmungen der Sozialversicherung auf diese private Krankenversicherung nicht zutreffen, und ich sage noch einmal: Welchen Schutz haben in Wahrheit die Alten, und welchen Schutz haben die Kranken?
So sehr wir deshalb bereit sind, alle Schwierigkeiten der Ärzte zu berücksichtigen, und so sehr wir bereit sind, dieses Gesetz im Ausschuß sorgfältigst durchzuarbeiten und dafür zu sorgen, daß jedem Teil, der hier in Frage kommt, sein Recht geschieht, muß ich doch sagen: Mit der Beseitigung eines Unrechts durch ein neues Unrecht wird niemals ein Recht geschaffen werden.
Für uns ist es ganz unmöglich — das möchte ich klar und deutlich sagen —, eine Grenze von 700 DM monatlich anzuerkennen, so sehr wir zur Durcharbeitung des Gesetzes bereit sind. Für uns sind das Interesse des Versicherten und die Volksgesundheit das Wichtigste. Wir wissen, daß wir dazu der Ärzte nicht entbehren können. Wir schätzen ihre Arbeit im Interesse der Volksgesundheit ungeheuer hoch, aber wir können nicht das Recht des Versicherten auf die Weise, wie es dieser Gesetzentwurf vorsieht, untergraben. Deshalb noch einmal: sorgfältigste Beratung im Ausschuß!