Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf, der uns vorliegt, ist wahrhaftig nicht zu früh gekommen. Die Staatsangehörigkeitsfragen, die durch den Krieg und seine Folgen ausgelöst worden sind, hätten, wie ich meine, schon längst geregelt werden müssen, wenn auch sicher ist, daß die Schwierigkeiten sehr groß waren. So groß aber die Schwierigkeiten auch gewesen sein mögen, die Beseitigung der Verwirrung und des unendlichen Leids, die über so viele Menschen gekommen sind, die nicht wußten, welchem Staat sie nun eigentlich zugehörten, hätte man als eine der ersten Aufgaben der Bundesrepublik ansehen und anpacken müssen. Man hätte dann sehr viel vermeidbares Leid vermieden.
Der Entwurf findet im Grundsätzlichen unsere Zustimmung. Er entspricht im wesentlichen den Prinzipien, die dem Gesetz über den Erwerb der Reichs- und Staatsangehörigkeit von 1913 zugrunde liegen, das für seine Zeit kein schlechtes Gesetz gewesen ist und das durch den Entwurf in einigen Punkten in einer, wie ich gern anerkenne, fortschrittlichen Weise ergänzt wird. Insbesondere finde ich in diesem Entwurf einen recht wohltuenden Verzicht auf bürokratische „Vortrefflichkeit". Ich begrüße es, daß der Entwurf konsequent auf dem Willensprinzip aufbaut. Nur wer deutscher Staatsangehöriger sein will, soll es werden. Es ist auch gut, daß die Ehegatten ihren Willen unabhängig voneinander zum Ausdruck bringen können, so daß die Ehefrau nicht notwendig der Staatsangehörigkeit des Mannes zu folgen braucht.
Wie kompliziert die Situation durch die Sammeleinbürgerungen geworden ist, ist hier dargestellt worden. Ich glaube, daß man versuchen sollte, mit den Staaten, die mit sich reden lassen, zu zwischenstaatlichen Vereinbarungen zu kommen. Staats- und Individualinteressen liegen ja in engem Verein beieinander; oft gehen sie auch durcheinander. Die
Lösung, die der Entwurf vorschlägt, scheint uns gut. Daß man primär die Sammeleinbürgerung gelten läßt, aber jedem einzelnen das Recht gibt, zu erklären, daß er die unwillkommene deutsche Staatsangehörigkeit ausschlagen will, ist richtig. Gegen gewisse Bestimmungen scheinen mir Bedenken erlaubt zu sein und Zweifel, ob die beste Lösung gefunden worden ist. Aber darüber wird man sich in den Ausschüssen unterhalten können.
Bei der Lektüre des Entwurfs drängt sich einem die Frage auf, ob dann nicht überhaupt an die Schaffung eines neuen Staatsangehörigkeitsgesetzes gegangen werden sollte. Es liegen Entwürfe für ein solches Gesetz vor. Warum werden diese Entwürfe dem Parlament nicht vorgelegt? Sie sind — ich kenne sie zum Teil — so weit vorgetrieben, daß sie mir parlamentsreif erscheinen.
Wir halten ein neues Staatsangehörigkeitsgesetz für eine Notwendigkeit. Das geltende Recht, das von 1913 stammt, war — ich sagte es schon — für die damalige Welt nicht schlecht. Aber dieses Gesetz wird den Schicksalen nicht mehr gerecht, die unsere verwirrte Zeit hat entstehen lassen.
Seit 1918 sind fast überall in der Welt neue Staatsangehörigkeitsgesetze erlassen worden, zum Teil im Geiste des Fortschritts, zum Teil aber in durchaus rückschrittlichem Geist. In sehr vielen Staaten hat man in das neue Staatsangehörigkeitsgesetz das Verbot der Doppelstaatsangehörigkeit aufgenommen: man könne nur einem Herrn dienen, es gebe nur eine Loyalität, und in Kriegsläuften rufe die Doppelstaatsangehörigkeit verwirrte Situationen herauf. In anderen Staaten aber hat man in die neuen Gesetze fortschrittlichere Bestimmungen aufgenommen, als unser Recht sie kennt, z. B. das Recht der Ehefrau auf eine eigene Staatsangehörigkeit. Doch scheint es mir ein Rückschritt zu sein, wenn nanche Staaten der ausländischen Ehefrau, die einen Inländer heiratet, die Staatsangehörigkeit grundsätzlich verweigern und sie auf späteren Erwerb verweisen.
Wie sollte nun ein solches neues deutsches Staatsangehörigkeitsgesetz aussehen? Der Gesetzgeber wird hier immer vor dem Dilemma stehen: wie soll sich der Wille des einzelnen zum Interesse des Staates verhalten? Und er wird vor dem Dilemma stehen, daß die Staaten ihr Staatsangehörigkeitsrecht nach verschiedenen Grundsätzen aufbauen, so daß man in dem einen Staat die Staatsangehörigkeit bei Vorliegen dieser Voraussetzungen, im anderen Staat bei Vorliegen anderer Vorausetzungen erwirbt.
Wir meinen, daß unser Staatsangehörigkeitsrecht so individualistisch wie möglich und darum so weltbürgerlich wie möglich gestaltet werden sollte. Jeder Mensch sollte die Möglichkeit haben, mehr als nur eine Staatsangehörigkeit zu besitzen, die seines Heimatlandes und die seines Aufenthaltsstaates, wenn dessen Gesetze es zulassen. Zwar wird es dann gewisse Schwierigkeiten geben, und die Situationen werden dann nicht immer bürokratisch einfach liegen. Aber schließlich kann man ja mit solchen Schwierigkeiten fertig werden, und man ist mit ihnen schon fertig geworden. Wenn die Gesetze des Aufenthaltsstaates das Weiterbestehen etwa der deutschen Statsangehörigkeit nicht zulassen sollten, dann sollte ein Deutscher wenigstens dann, wenn er nach Hause zurückkommt, in Deutschland so behandelt werden, als habe er seine Staatsangehörigkeit nie verloren — wenn er das will.
Nun gibt es in Fragen der Staatsangehörigkeit besondere und legitime Interessen der Staaten. Es scheint mir ganz unmöglich zu sein, daß man auf die Staatsangehörigkeit soll verzichten können, solange man den Schutz des Staates, dem man angehört, noch in Anspruch nimmt. Aber ein Deutscher, der im Ausland lebt, sollte nach deutschem Recht die Möglichkeit haben, auf seine deutsche Staatsangehörigkeit zu verzichten. Wir wollen doch keine Zwangs-Deutschen, keine Muß-Deutschen haben! Und wer seit geraumer Zeit in Deutschland lebt, sollte die Möglichkeit haben, die deutsche Staatsangehörigkeit ohne allzugroße Schwierigkeiten zu erwerben. Er sollte sie leichter erwerben können als bisher.
Die ausländische Ehefrau eines Mannes, der Deutscher werden will, sollte nur dann Deutsche werden, wenn sie diesen Willen ausdrücklich erklärt. Die Ausländerin, die einen Deutschen heiratet, sollte die deutsche Staatsangehörigkeit nur dann erwerben, wenn sie das will. Umgekehrt soll eine Deutsche, die einen Ausländer heiratet, die deutsche Staatsangehörigkeit behalten, es sei denn, daß sie ausdrücklich darauf verzichtet. Im letzteren Falle sollte sie einen Rechtsanspruch auf Wiedereinbürgerung haben.
Sollten wir nicht auch in unserem Staatsangehörigkeitsgesetz das angelsächsische Prinzip einführen, daß, wer auf deutschem Boden geboren ist, die deutsche Staatsangehörigkeit mit der Geburt erwirbt und behält, wenn er sie nicht bei Eintritt der Volljährigkeit ausschlägt?
Es wird sich nicht vermeiden lassen, daß gewisse Kollisionen eintreten, denn die Staaten haben sehr verschiedenartige Staatsangehörigkeitsgesetze. So kann es sein, daß jemand nach dem Recht seines Heimatstaates eine bestimmte Staatsangehörigkeit hat und nach dem Recht des Aufenthaltsstaates eine andere. Ich habe eine merkwürdige Situation erlebt: Der einstige Direktor der Bibliothek Warburg, Professor Windsheim, wurde in Berlin als Sohn von Eltern argentinischer Staatsangehörigkeit geboren. Nach deutschem Recht war er Argentinier, nach argentinischem Recht war er Deutscher. Der argentinische Konsul in Berlin gab ihm keinen Paß, die deutschen Behörden gaben ihm auch keinen Paß. Der Mann war staatenlos, obwohl seine Eltern eine genau bestimmte Staatsangehörigkeit hatten.
Situationen dieser Art können vermieden werden, wenn die Staaten untereinander ein System von Kollisionsnormen vereinbaren. Man sollte das versuchen, und es stünde unserer Bundesregierung gut an, wenn sie die Initiative dazu ergriffe. Solche Kollisionsnormen sind auf den verschiedensten Sachgebieten schon vereinbart worden. Ich erinnere an die Staatsverträge zur Verhinderung der Doppelbesteuerung und an die Staatsverträge, die sich auf das internationale Privatrecht beziehen. Ich glaube, man könnte versuchen, daneben etwas wie ein internationales Staatsangehörigkeitsrecht zu schaffen
mit Normen und Verfahren, die es möglich machen, im Einzelfall zu bestimmen, welche effektive Staatsangehörigkeit ein Mann hat. Es sollte nicht mehr möglich sein, daß es nur wegen der Verschiedenheit der Prinzipien, auf denen die einzelnen Staaten ihre Staatsangehörigkeitsrechte aufbauen, Menschen gibt, die nicht wissen, wo sie hingehören, und die darum keinen staatlichen Schutz auf dieser Welt genießen.
Es handelt sich bei diesen Dingen nicht um Federfuchsereien. Wenn wir ein enges, ein etatistisches, nur vom Staate aus gesehenes Staatsangehörigkeitsrecht haben, werden wir versucht sein, auch in den Beziehungen von Staat zu Staat und von Volk zu Volk exklusiv zu denken. Haben wir aber ein individualistisches, das heißt weltbürgerliches Staatsangehörigkeitsrecht, dann werden wir auch in den Beziehungen von Staat zu Staat leichter gesinnt sein, weltbürgerlich zu denken. Und fängt nicht jedes weltbürgerliche Denken — und das heißt doch auf unserem Kontinent: europäisches Denken — damit an, daß man es für möglich hält, daß einer mehrere Staatsangehörigkeiten besitzen kann? Könnte nicht die Bundesregierung damit anfangen, wenigstens mit den Staaten der Montanunion über ein zu vereinbarendes zwischenstaatliches Staatsangehörigkeitsrecht zu verhandeln, das weniger monopolistisch und etatistisch wäre als die Gesetze, die heute in den sechs Staaten gelten? Vielleicht könnte man dann schrittweise zu einem gemeineuropäischen Indigenat kommen. Ich möchte hier an das Angebot Churchills an Frankreich vom Mai 1940 erinnern, daß fortan jeder Engländer die Rechte französischer Staatsangehörigkeit und jeder Franzose die Rechte eines englischen Staatsangehörigen haben sollte. Natürlich wird man dazu nicht kommen; zu solchen großherzigen Angeboten entschließt man sich — leider — nur in der letzten Not. Aber es sollte sich doch erreichen lassen, schrittweise in Richtung auf dieses Ziel voranzugehen. Warum sollte denn so etwas nur im Kriege und unter Kriegsverbündeten möglich sein? Warum sollte dieser Weg nicht im Frieden möglich sein, nicht dann, wenn man sich zum Frieden verbinden will?