Rede von
Dr.
Carlo
Schmid
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist erfreulich, daß sich heute in Deutschland alle Verantwortlichen in einem Ziele einig sind, nämlich der Wiedervereinigung Deutschlands. Was die Geltendmachung der Vordringlichkeit, mit der man dieses Ziel anstreben will, konkret bedeutet, das kann nur von einer Rangordnung der politischen Ziele her bestimmt werden. Diese Rangordnung kann nicht nach Prestigegesichtspunkten aufgestellt werden. Sie kann nur von der politischen Notwendigkeit her bestimmt werden. Und d'a sind wir der Meinung, daß die Wiedervereinigung Deutschlands das schlechthin erste Ziel jeder deutschen Außenpolitik sein muß, schon deswegen, weil ohne seine Verwirklichung vor anderen Zielen sehr entscheidende andere Ziele nicht realistisch verwirklicht werden können, jedenfalls nicht mit Aussicht auf Dauer, z. B. die Ordnung Europas.
Man hat uns gesagt, man müsse beide Ziele gemeinsam angehen. Ich glaube, daß das richtig ist. Bei keinem darf man das andere aus dem Auge lassen. Aber das gilt doch im Grunde immer nur für den Ausgangspunkt und für das Allgemeine. Immer wenn man vor konkreten Entscheidungen steht, wird man vor dem Dilemma stehen: welcher Maßnahme gehört denn im einzelnen und konkret die Priorität, einer Maßnahme, die hier und jetzt auf Westintegration ausgeht, oder einer Maßnahme, die konkret — hier und jetzt — die Chancen für die Möglichkeit gesamtdeutscher Wahlen erhöhen könnte? Wir unterscheiden uns im wesentlichen, glaube ich, in der Methode. S i e glauben, die Westintegration schaffe überhaupt erst die Voraussetzungen für eine realistische Wiedervereinigungspolitik. Wir glauben, daß die Westintegration im Gegenteil gewisse Voraussetzungen, die anders geschaffen werden könnten, nicht zustande kommen läßt, 'daß sie also die Erreichung des gemeinsamen Zieles nicht fördert, sondern daß sie ihr im Wege steht.
Sie sagen, die Westintegration fördere die Erreichung des Ziels, denn sie gebe uns die Möglichkeit, eine stärkere Politik zu führen, als wir es ohne diese Westintegration könnten. Wenn aber nun die Westintegration von den Russen als das größere Übel gegenüber der Erhaltung des Status quo angesehen wird, wird dann diese „Politik der Stärke" irgendwelche Chance der Erfüllung haben? Wenn dem, wie wir meinen, nicht so ist, dann scheint uns gerade eine realistische Politik zu fordern, die Versuche, die Bundesrepublik in ein Europa der Sechs zu integrieren, aufzugeben.
Es wurde weiter gesagt, durch diese Politik hätten wir zum mindesten eine der notwendigen Voraussetzungen einer jeden Wiedervereinigungspolitik geschaffen: wir hätten damit das Vertrauen wenigstens der Westmächte gewonnen. Das ist gut und das ist sehr viel. Dieses Vertrauen ist notwendig. Aber, meine Damen und Herren, was nützt uns denn dieses Vertrauen konkret, wenn es mit Mitteln gewonnen worden ist, die den Russen das Interesse an Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands nehmen? In diesem Fall hebt eben einfach die Realität und Gegensätzlichlichkeit der Interessen die Wirkung dieses Vertrauens, von idem Sie sprachen, auf.
Wir glauben, daß die „Integrationspolitik" der Erreichung des Zieles hinderlich ist. Sie setzt doch im Grunde voraus, daß die Russen sich, e h e sie an den Verhandlungstisch gehen, damit einverstanden erklären, daß der Teil des deutschen Potentials, den sie heute noch kontrollieren, in einen politischen Block eingebracht wird — und zwar unlösbar —, den sie — ob mit Recht oder Unrecht, sei dahingestellt — nun einmal als feindlich gegen sich gerichtet betrachten. Unter diesen Voraussetzungen eine russische Bereitschaft anzunehmen, die Voraussetzungen für die Wiedervereinigung mitzuschaffen, scheint mir nicht sehr realistisch zu sein. Es sei denn, Sie gingen davon aus, daß es bei solchen Verhandlungen dazu kommen könnte, das Integrierte zurückzudifferenzieren. Das wollen Sie nicht, Herr von Brentano, und das werden höchstwahrscheinlich eine Reihe der Vertragspartner auch nicht wollen, die in dieser Integration ihre besonderen Interessen verwirklicht sehen.
Vielleicht wird die Deutschlandfrage nur gelöst werden können — ich sage „vielleicht" und empfinde es als schmerzlich, wenn es sich so verhalten sollte — durch eine Gesamtabrechnung Moskaus und Washingtons über die Gesamtheit ihrer wesentlichen Differenzpunkte. Dann wäre die Lösung des Deutschlandproblems nur ein Teilstück einer sehr viel größeren Rechnung. Ich weiß nicht, ob eine Bundesregierung die Möglichkeit hätte, aktiv durch eigene . politische Unternehmungen auf das Zustandekommen einer solchen Gesamtabrechnung im günstigen Sinne hinzuwirken. Aber eines kann sie auf jeden Fall tun: sie kann eine Politik betreiben, die es verhindert, daß vollendete Tatsachen geschaffen werden, die sich prohibitiv auswirken könnten. Ob das geschehen ist oder nicht — das, und nicht die guten Absichten —,
gibt den Maßstab für die politische Beurteilung der „europäischen" Teilmaßnahmen ab, von denen in der Regierungserklärung gesprochen worden ist — Montanunion, EVG-Vertrag usw. —.
Ich persönlich glaube nicht, daß man mit diesen Verträgen, daß man mit dieser Politik solche prohibitiv wirkenden vollendeten Tatsachen vermieden hat. Vor allem aber, glaube ich, sollte es keine deutsche Politik geben, die den Versuch macht, den politischen Status Deutschlands einseitig so bestimmen zu lassen, daß der andere kapituliert haben muß, e h e er sich an den Verhandlungstisch setzt.
Nun, wer kann denn den politischen Status Deutschlands bestimmen? Den kann weder der Westen für sich, noch kann es der Osten für sich bestimmen, noch können es der Westen und der Osten zusammen ohne die Deutschen.
Dieser Status kann nur bestimmt werden durch alle fünf. Man sollte doch endlich aufhören, die Wiedervereinigung Deutschlands etwa im Sinne des Art. 103 des Statuts für die Europäische Behörde als eine Art Eingemeindungsproblem zu sehen.
Die politische Einheit Deutschlands wird nicht dadurch hergestellt werden, daß man die Deutschen jenseits des Eisernen Vorhangs „heimführt", sondern dadurch, daß wir zusammen mit ihnen Inhalt und Formen der nationalen Existenz unseres Vaterlandes bestimmen.
Es ist also eine Notwendigkeit, zu einer VierMächte-Konferenz zu kommen, auf der zunächst die vier Mächte klären müssen, ob sie das Ergebnis freier Wahlen in ganz Deutschland riskieren wollen. Scheitert diese Vier-Mächte-Konferenz, nun, dann wird man auf Grund der dann vorliegenden Tatsachen Entscheidungen zu treffen haben. Aber man kann die Vier-Mächte-Konferenz nicht nur deswegen jetzt nicht wollen, weil nicht sicher ist, ob sie zu dem von uns gewünschten Ergebnis führen wird. Gelingt diese Konferenz, nun, dann werden wir freie Wahlen in Deutschland haben und eine Nationalversammlung erhalten, die eine Regierung produzieren wird, und dann wird man zu f ü n f en über einen deutschen Friedensvertrag verhandeln müssen.
Der Status Deutschlands und damit gleichzeitig die außenpolitische Bewegungsfreiheit Deutschlands werden aus diesem Friedensvertrag hervorgehen müssen. Sollte man von uns verlangen, einen Vertrag zu unterzeichnen, in dem Dinge stehen, die für uns nicht akzeptabel sind, dann wird eine deutsche Regierung eben nein sagen müssen. Dann wird auf Grund dieser Situation hüben und drüben entschieden werden müssen, was zu geschehen hat. Aber man muß auf dieses Ziel zugehen und muß darauf auf dem Wege der konkreten Maßnahmen zugehen. Nur wenn dieses Ziel erreicht sein wird, wird es möglich sein, realistisch eine Ordnung Europas zu schaffen, die dauerhaft und etwas anderes ist als eine Kampfposition.