Rede von
Herbert
Wehner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem der Herr Bundeskanzler in einer Erklärung dazu angesetzt
hat, die Ereignisse, die Mitte dieses Monats in der sowjetisch besetzten Zone und im Ostsektor Berlins zum Ausbruch gekommen sind, zum Anlaß eines Rückblicks auf die Außenpolitik der Bundesregierung zu machen, läge es — wenn es nur darauf ankäme, in diesem Hause in Rede und Gegenrede abzumessen, was getan oder versucht worden ist — nahe, auf diesen Versuch einzugehen. Ich vermisse allerdings, daß der Herr Bundeskanzler den Versuch, den er weit zurückgreifend begonnen hat, auch weitergeführt hat. Ich muß sagen, der Versuch wirkte doch mehr als eine Bekundung dessen, was der Chef der Bundesregierung im Lichte der gegenwärtigen Ereignisse über seine bisherige Politik sagen wollte,
damit es in dem Zusammenhang gesehen werden möge. Der Sprung hin zu Erklärungen, die der Herr Bundeskanzler hier über die innere Vorbereitung und Bereitschaft auf den Tag nach der Wiedervereinigung gegeben hat, scheint mir ein wenig sehr weit zu sein.
Die Erklärung, daß die Pläne für die Wiedervereinigung festgesetz und festgestellt, die Pläne für die Versorgung fertig seien und daß es eigentlich nur noch darauf ankomme, den Tag zu erleben, müßte bei ernster Betrachtung wesentlichen Korrekturen unterzogen werden.
— Bitte, wenn Sie der Meinung sind — —
— Nein, nein, Herr Strauß! Ich habe z. B. in dem Forschungsbeirat für Fragen der Wirtschaft und Finanzen zur Wiedervereinigung mitgearbeitet und tue das noch. Ich möchte nicht, daß über solche Fragen in einer Weise, wie Sie sie jetzt schon am Beginn dieser Debatte anzuschlagen belieben, gesprochen wird. Ich nehme sie furchtbar ernst. Ich denke, das sollten alle Seiten tun. Es ist keineswegs so, daß man sagen könnte, diese Dinge seien abgeschlossen. Ich teile auch nicht die Meinung des Staatssekretärs vom Ministerium für gesamtdeutsche Fragen, der trotz der Geheimhaltungspflicht, die bisher allen Teilnehmern dieser Arbeit auferlegt gewesen war,
vor einigen Tagen in einem Artikel im „Bulletin" und in einer Rede vor Unternehmerverbänden Dinge darüber geäußert hat, über die es keineswegs schon abschließende Erklärungen und Thesen gibt, sondern die noch im Stadium der Forschung sind. Wir haben ja auch keinen Grund, uns dessen zu schämen. Jetzt werden wir aber hier mit Erklärungen und auch mit Behauptungen konfrontiert, die eben, wenn man sie so gebraucht, nicht unwidersprochen bleiben können. Der Herr Bundeskanzler hat noch kürzlich in einem Interview mit dem Hauptinterpreten seiner Politik auf dem journalistischen und dem Rundfunkgebiet gesagt, er meine zwar, daß die bevorstehenden Wahlen einem Plebiszit über die Außenpolitik dieser Regierung gleichkämen; er möchte aber die Frage der Wiedervereinigung ausgeklammert wissen. Ich frage mich: wie kann man denn beides gemeinsam wollen?
Derselbe Herr Bundeskanzler hat es für richtig gehalten, schon am Anfang zu erklären, die Opposition sei in den Fragen seiner Europapolitik einen anderen Weg gegangen und habe lediglich negative Kritik geübt, um am Schluß diese Art der Europapolitik, die Politik der Integration mit den Ländern — auch mit den beiden Ländern, die die stärksten kommunistischen Parteien in Westeuropa und die die am wenigsten stabilen Regierungen haben —
als das notwendige Begleitstück zur Politik der Wiedervereinigung hinzustellen.
Herr Bundeskanzler, wir haben in unserem Antrag, den wir allerdings schon am 9. Juni ein-. gereicht haben, Vorschläge gemacht, von denen wir annehmen, daß sie auch durch die seit dieser Zeit eingetretenen Ereignisse in ihrer Bedeutung in keiner Weise abgeschwächt oder inaktuell geworden sind. Seit der Einreichung dieses Antrags sind bedeutende Ereignisse geschehen. Aber das Anliegen des Antrags ist unserer Meinung nach durch diese Ereignisse nur noch verstärkt worden. Wir meinen, heute kann man weniger denn je mit Entschließungen, mit Bekundungen und mit symbolischen Gesten etwas erreichen. Als solche muß ich das betrachten, was wir hier aus dem Munde des Herrn Bundeskanzlers hörten, daß man dem kommenden Bundestag nahelegen sollte, Vertreter — wie er sagt — der sowjetzonalen Bevölkerung zu kooptieren, damit sie mitberaten könnten. Das ist doch wirklich nur eine symbolische Geste; denn es geht um gesamtdeutsche freie Wahlen und um eine gesamtdeutsche verfassunggebende Nationalversammlung und nicht um eine solche Vertretung.
Ich wollte damit gesagt haben, daß heute weniger denn je etwas getan ist mit Entschließungen und Bekenntnissen solcher Art. Es kommt nicht nur uns, sondern es kommt geschichtlich auf konkrete Schritte an. Diese sind uns als Verpflichtung durch den Freiheitskampf der Arbeiter der sowjetisch besetzten Zone und Ost-Berlins auferlegt. Damit muß ich mich diesem wichtigsten Ereignis zuwenden, das seit der Einreichung unseres Antrages eingetreten ist.
Wir meinen, daß mit dem Aufstand der Arbeiter der meisten Betriebe der Großindustrie fast aller Städte der sowjetisch besetzten Zone und OstBerlins ein neues Stadium im Ringen um die Wiedervereinigung Deutschlands begonnen worden ist. Die Arbeiter der sowjetisch besetzten Zone haben mit ihrem Freiheitsmarsch, mit ihren Streiks in einem waffenlosen Aufstand gegen ein ihnen unerträglich gewordenes Regime im Ringen um die Wiedervereinigung diesen neuen Abschnitt eingeleitet.
Alle neigen sich in Ehrfurcht vor den Opfern. Darüber dürfte es keine Meinungsverschiedenheiten geben. Aber man muß in Sachlichkeit über die politischen und diplomatischen Folgerungen sprechen können, die sich aus diesem gewaltigen Ereignis, sicher dem gewaltigsten seit vielen Jahren, ergeben.
— Man sollte, verehrter Herr Zwischenrufer, etwas
Respekt haben vor den Anschauungen anderer, vor
den Anschauungen einer politischen Partei — auch wenn sie zu Ihnen in Opposition steht —, die doch Fleisch vom Fleisch der mitteldeutschen Arbeiter ist.
Ich verlange ja gar nicht, daß Sie einfach unseren Vorschlägen und Forderungen zustimmen. Wenn Sie aber schon in dieser saloppen Weise die Diskussion beginnen wollen, muß man für das, was eigentlich wirklich ernst zu erörtern wäre, schwarz sehen.
Die Einheit Deutschlands — und ich meine, das ist das Wesentliche, was durch diesen Aufstand manifestiert wurde — ist ein elementares Anliegen, das nicht durch Konstruktionen und Pläne nach mehr oder weniger fremden Interessen verschoben werden kann.
Diese Pläne beruhten auf der Vorstellung — ich will damit nicht sagen, daß alle, die solche Pläne gemacht haben, die Teilung Deutschlands wünschten — als sei diese Teilung für lange Zeit unabänderlich.
Diese Pläne sind heute nicht nur gefährlich, sondern wirklichkeitsfremd. Das haben die Arbeiter mit ihrem Aufstand in der sowjetisch besetzten Zone gezeigt.
Einige Tage nach den Ereignissen haben in der Montanversammlung belgische, holländische und französische Kollegen gesagt: „Nachdem wir jetzt wissen, was sich ereignet hat, sind wir davon überzeugt, daß es sich um eine elementare Kraft und um ein elementares Anliegen handelt." Wir sollten alle miteinander froh sein, wenn sich eine solche Ansicht allgemein ausbreitet, nachdem man es bisher — das wissen Sie doch auch, die Sie mit diesen Gremien zu tun haben — neben der allgemeinen, mit Ressentiments geladenen Zurückhaltung doch auch mit der Auffassung zu tun hatte, diese Teilung sei etwas, womit man sich — unter verschiedenen Vorzeichen und mit verschiedenen Vorstellungen — für geraume Zeit abzufinden hätte.
Zweitens: Die deutsche Politik und die Politik des ganzen Westens müssen unserer Meinung nach auf Grund des Aufstands der Arbeiter in Mitteldeutschland und in Ost-Berlin zum Ausgangspunkt ihrer Bemühungen und Handlungen das unbestreitbare Bedürfnis und den Willen der Bevölkerung dieser besetzten Teile Deutschlands nehmen. Das heißt, das sind die Kräfte, die uns antreiben müssen, das Äußerste mit den Mitteln der Politik und Diplomatie zu versuchen, damit wir die Leidenszeit dieser unserer Mitmenschen abkürzen und damit ihrem Anliegen gerecht werden.
Und drittens: Mit Bezug auf Deutschlands Teilung oder Einheit kann in Zukunft nicht mehr über Deutschland, sondern muß mit Deutschland verhandelt werden. Ich glaube, daß diesem gemeinsamen Anliegen die gewaltigen Aktionen der arbeitenden Menschen der sowjetisch besetzten Zone und Berlins einen entscheidenden Dienst getan haben.
— Nun, Herr Schäfer, ich sage ja nicht Dinge, über die unbedingt Meinungsverschiedenheiten bestehen sollen. Ich hoffe, daß das eine oder andere uns in Übereinstimmung finden kann. Man diskutiert doch nicht darum, um immer nur das Gegenteilige zu sagen. Aber bitte, das ist Ihre Sache. —
Die Arbeiter der sowjetisch besetzten Zone — das kann man nicht nur erraten, sondern das sagen sie, das schreiben sie, und sie wünschen, daß es bekannt wird — wollen nicht beklagt sein und bedauert werden, sondern was sie wollen, ist eine deutsche Politik, auf die das, was sie getan haben und trotz Standrecht noch weiter tun, Einfluß ausübt.
Ich möchte in diesem Zusammenhang — entschuldigen Sie — sozusagen nebenbei sagen, daß es unser Anliegen sein muß — und ich hoffe, es ist das Gesamtanliegen des Hauses —, daß die Regierung in absehbarer Zeit Gesetzesvorlagen vorlegt, durch die die Sorge für die Opfer und die Hinterbliebenen in Anlehnung, wie wir es in anderen Fällen gehabt haben, an die Gesetze für die Kriegsopfer und Hinterbliebenen geregelt wird. Ich wollte das nur bei der Gelegenheit mit vorgebracht haben.
Die Träger der deutschen Politik, wir alle, schulden den Arbeitern der sowjetisch besetzten Zone und Ost-Berlins Dank dafür, daß sie es uns — sogar mit viel Blut — bestätigt haben, daß wir ein Mandat haben, die Besatzungsmächte zu drängen und immer wieder zu drängen, jede sich bietende Chance zur Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit auszunutzen.
Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit und an dieser Stelle ein Wort zu dem Antrag der Fraktion der SPD sagen, der in der Form eines Gesetzentwurfs in drei Paragraphen gefaßt ist:
§ 1
Der 17. Juni ist der deutsche Nationalfeiertag.
§2
Der 17. Juni ist Feiertag im Sinne des Gesetzes zur Regelung der Lohnzahlung an Feiertagen vom 2. August 1951.
§3
Das Gesetz tritt am Tage nach seiner Verkündung in Kraft.
Ich war dankbar dafür, daß ein politisch durchaus auf anderem Boden stehender bedeutender Industrieleiter unseres Landes nach den ersten großen Ereignissen in der sowjetisch besetzten Zone in einem Brief, den wahrscheinlich auch andere Kollegen des Hauses erhalten haben, seiner Auffassung Ausdruck geben wollte, nämlich:
Uns alle'
— so schrieb er mir —
hat die Volkserhebung jenseits des Eisernen Vorhangs aufgerüttelt, wobei mir ganz besonderen Eindruck gemacht hat, daß und unter weichen Umständen die deutschen Arbeiter die Bundesflagge auf dem Brandenburger Tor gehißt haben.
In einem Brief an den Herrn Bundespräsidenten, den er zur Information beigelegt hat, betont er:
Ich glaube, daß für uns Deutsche dabei eines weit über die politischen Folgen hinaus erregend, ja erschütternd gewesen ist: die Tatsache nämlich, daß sich hier deutsche Arbeiter in aggressiver revolutionärer Form spontan und in dramatischer Weise zu unseren nationalen Symbolen bekannt haben.
Zum erstenmal hat die schwarz-rot-goldene Flagge, die uns zweimal
— so schreibt er —
nach Niederlagen gegeben worden ist, in einer
echten Kampfsituation ihre Weihe erhalten, eine
Weihe, die alle Deutschen anerkennen werden.
Ich glaube, daß aus solchen Stimmen, die sicherlich nicht vorübergehenden Stimmungen entsprechen, wirklich auch schwerwiegende politische und psychologische Schlußfolgerungen über das und für das Verhältnis dieses Staates und seiner Symbole zur Arbeiterschaft in diesem Staate gezogen werden müssen und können und. sollen.
Ein Wort, meine Damen und Herren, zu den gewiß verständlichen, aber, so meinen wir, nachdem die Ereignisse mit solcher Wucht hereingebrochen sind, doch schmählich dementierten Versuchen, mit Klügeleien im Hintergrund über den Ursprung der Ereignisse in der sowjetisch besetzten Zone herumzuraten. Es hat da Versuche gegeben, die eigentlich diejenigen beschämen sollten, die sie angestellt haben. Ich denke an die erste Meldung der bedeutendsten amerikanischen Nachrichtenagentur, die darauf aufgebaut war, daß die Ereignisse nichts anderes gewesen seien als ein von der sowjetischen Macht und von dem sowjetzonalen Besatzungswerkzeug bestelltes Spiel, bei dem die Arbeiter nichts anderes gewesen seien als sozusagen Marionetten.
Solche Vorstellungen entsprechen dier Auffassung, als sei in einem totalitären System alles, auch die letzte freiheitliche Regung, sozusagen gelenkt zum Schutze dieses totalitären Systems. Die tollste Pervertierung dieser Vorstellung fanden wir kürzlich im Bulletin des Presse- und Informationsamtes im Rahmen eines Interviews mit dem eigentlich längst vergessenen früheren russischen Ministerpräsidenten Kerenski. Wir bedauern, daß man durch solche Argumente aus der Steinzeit die Diskussionen um das Notwendige noch mehr erschwert, als sie es an sich schon sind.
Wir sollten aber vor allem — und das wollte ich hier als unser Anliegen angebracht haben — nicht in Erscheinung treten, als hätten wir es hier mit einem Wettbewerb um das Finden der Gründe und Ursachen zu tun. Wir stehen da auch nicht im Wettbewerb mit Pankow, das die lächerliche Erklärung zu lancieren versucht hat, das Ganze sei ein Werk ausländischer Agenten und Provokateure.
Hier handelt es sich — wie es bei solch großen historischen Situationen eben der Fall ist — um ein Zusammentreffen verschiedener Umstände und Faktoren, und man sollte sich nicht zu sehr in Einzelheiten ergehen.
— Zusammengetroffen ist die Verzweiflung der arbeitenden Menschen, in einer solchen Lage nicht mehr so weiterleben zu können,
mit einer gewissen Unsicherheit des Regimes von Gnaden der Besatzungsmacht. Denn es war ja eben erst kompromittiert und desavouiert worden wegen einer Politik, die mit Pauken und Trompeten seit Juni vergangenen Jahres als angeblicher „Aufbau des Sozialismus in beschleunigtem Tempo" angekündigt und eingepeitscht worden war und deren Krönung eben in diesen Tagen die unerhörte 10 %ige allgemeine Normenerhöhung, d. h. eine Akkordschinderei sonst in kapitalistischen Verhältnissen nicht bekannter Art war. Das war das zweite. Das dritte, was dazukam, war der Anfang mit gewissen Zugeständnissen, hinsichtlich derer die Arbeiter sich Gewißheit schaffen wollten, was es denn damit auf sich habe, weil sie aus Erfahrung heraus mit einem gesunden Mißtrauen und mit dem Verlangen begabt sind, zu wissen, ob es wenigstens in Teilfragen ernst ist oder nicht.
Im übrigen sollte festgehalten werden, was der bankrotte Ministerpräsident eines bankrotten Pankower Regimes vor den Arbeitern im Transformatorenwerk gesagt hat, als er sich eine Woche nach dier Verhängung dieses Belagerungszustandes und des Standrechts mit ihnen auseinandersetzen wollte. Er sagte wörtlich:
Die gegenwärtige Situation ist das Ergebnis einer fehlerhaften Politik unserer Partei
— d. h. der SED —
und der daraus resultierenden falschen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Maßnahmen durch die Regierung. Das ist
— so betont er — vollkommen klar.
Und weil es noch nicht genügend klar war, wurde auch noch betont, mit dieser Politik der SED und ihrer Blocksatellitenparteien habe man zu den bereits gegebenen neue Hindernisse gegen die Wiedervereinigung Deutschlands errichtet.
Diese Kluft
— so sagt Herr Grotewohl —
bildete eine Trennung zwischen den deutschen Menschen, so daß in der Tat ein praktisches Ergebnis in der wichtigsten Frage unserer Politik, nämlich in der Herstellung der Einheit Deutschlands, unterbrochen und geschädigt wurde.
Das ist immerhin wert, festgehalten zu werden, wenn es um die Feststellung historischer Tatbestände geht.
Die Frage ist: Wofür zogen denn die Arbeiter in einer für normale Berechnungen aussichtslos erscheinenden Lage und Kräfteverteilung in den Kampf? Aus zahlreichen Berichten, die ich von einzelnen und von Gruppen aus Ost-Berlin und aus der Zone bekommen habe, habe ich die Forderungen herausgezogen, für die die Arbeiter marschiert sind,. nachdem sie es in ihren Betriebsversammlungen beschlossen hatten, so, wie mans sie ge-
lehrt hat, z. B.: „Wir brauchen keine SED-Stadtverwaltung mehr!" — „Weg mit dem Spitzbart", mit Ulbricht, das war überall die Forderung. Dieses Regime ist für sie einfach nicht mehr diskutabel und erträglich. Und dann die schweren wirtschaftlichen Sorgen! „HO macht uns k. o."
Uns genügt nicht, so sagten die Arbeiter in Kirchmöser und forderten es schriftlich, die Abschaffung der Normen. Wir wollen mehr. Wir wollen freie, geheime Wahlen. Wir wollen die Abschaffung der Zonengrenzen. Wir wollen einen höheren Lebensstandard und Abzug der Besatzungsmächte. Wir fordern die Freilassung — das kehrt in fast allen Entschließungen wieder — der verhafteten Kollegen.
Zu den erschütterndsten Erlebnissen gehört ja doch wohl, wie die Arbeiter von Magdeburg, nachdem sie gehört hatten, in Berlin sei man in den Ausstand getreten, erklärten: Wir dürfen sie nicht im Stich lassen. Und sie traten ebenfalls in den Streik in einer Situation, in der sie seit sechs Wochen durch besondere Abgesandte des Politbüros der SED geknebelt und geplagt worden waren wegen ihres angeblichen Sozialdemokratismus, wegen angeblicher Sabotage am Aufbauwerk. Und die erste Tat der Magdeburger war die Befreiung von 150 politischen Gefangenen aus dem Gefängnis
und das Einsperren der Wachmannschaften.
Wer es erlebt hat, wird es nicht vergessen, wie die Arbeiter des Henningsdorfer Stahlwerks in einer Weise, die darauf schließen läßt, daß sie sich der Ungewöhnlichkeit der Situation und ihrer Schritte wohlbewußt waren, Arm in Arm mit entblößter Brust, die meisten in Arbeitskleidung, den langen Marsch von ihrem Werk aus der Zone durch den französischen Sektor bis in den Ostsektor gemacht haben und als es wegen des Standrechts am Nachmittag nicht mehr möglich war, ihre Demonstrationen vor den Regierungsgebäuden fortzusetzen, geschlossen in den Betrieb zurückgegangen sind und dort noch drei Tage unter Standrecht den Sitzstreik durchgeführt haben.
Das machen doch Menschen nur aus dem Mute der Verzweiflung, gepaart mit einer Kühnheit, die eine Hoffnung in ihnen erweckt hat. Daß es gerade die Arbeiter waren, die in dieser Weise ihren Willen manifestierten, wundert uns nicht. Das ist die Fortsetzung, wenn auch auf Arbeiterart, des Protestes von Hundert- und aber Hunderttausenden, die seit dem Herbst vergangenen Jahres auf ihre Weise — Mittelschichten, Gewerbetreibende —, weil sie der Würgegriff gepackt hat, davongegangen sind, die Unsicherheit eines Flüchtlingsdaseins vorgezogen haben der „Sicherheit" dort, wirtschaftlich und menschlich kaputtgemacht zu werden. Nun ist diese neue Phase im Arbeiterkampf dazugekommen, wie ihn eben nur diese Schicht der Bevölkerung zur Förderung einer politischen und gesellschaftlichen Entwicklung beitragen kann.
Lassen Sie mich nun noch — und das ist ein Beispiel für viele, denn es ist natürlich so, daß man sich in den erschütternden Einzelheiten zu
verlieren Gefahr läuft — ein Wort von einem großen staatlichen Betrieb in Köpenick berichten, wo die Arbeiter mit 90% der Belegschaft beschlossen haben: Forderung Nr. 1: Garantierung der verfassungsmäßigen Bestimmungen und Absetzung der Regierungsfunktionäre, die sie verletzt haben. Forderung Nr. 2: Rechtssicherheit. Forderung Nr. 3: Wiedervereinigung durch freie Wahlen.
Meine Damen und Herren, es fing an mit dem Kampf gegen die Normenschinderei, mit einem Ausbruch gegen den Hunger. Es verband sich sofort mit dem Eintreten für verfassungsmäßige Verhältnisse gegen eine Regierung, die diese eigene Verfassung. verletzt und mit Füßen getreten hat. Und das alles mündete in dieses glühende Bekenntnis, für das in Berlin an einem Tag ein fast hundertprozentiger Generalstreik war und für das in der Zone Hunderttausende unter Lebensgefahr gestreikt haben; in dieses glühende Bekenntnis: Wir wollen nicht mehr in einem gespaltenen Deutschland leben, wir wollen Wiedervereinigung! Das mag etwas sein, das uns berechtigt, mit einem Wort von Karl Marx zum Gedenken an die JuniKämpfer von Paris des Jahres 1848 zu sagen: Die Arbeiter sind zwar geschlagen worden, aber sie sind nicht besiegt!
Besiegt sind ganz andere, das wird die Geschichte lehren!
Sehen Sie, meine Damen und Herren: Ich fand es erschütternd, daß immer wieder der Ruf erklang: Wir sind Arbeiter und keine Sklaven ! Welches Bewußtsein der menschlichen Würde, der Würde ihrer Schicht! Und das in welchem System! Hier habe ich ein Urteil vor mir, gefällt gegen einen Teilnehmer an den Aufmärschen nach den Tagen des Generalstreiks. Der bekam außer- der Freiheitsstrafe unter den sogenannten Sühnemaßnahmen diese aufoktroyiert: Es ist ihm für die Dauer von fünf Jahren nach seiner Freilassung verboten, in einem freien Beruf oder selbständig in irgendeinem gewerblichen Betrieb tätig zu sein, sich an einem solchen zu beteiligen oder dessen Aufsicht oder Kontrolle auszuüben, in nichtselbständiger Stellung anders als ein gewöhnlicher Arbeiter tätig zu sein. Dies das Urteil eines sowjetsektoralen Gerichts: Es ist eine Strafe, als gewöhnlicher Arbeiter tätig sein zu müssen! Das ist die Demaskierung eines Systems, das angab, für die Arbeiter wirken zu wollen! Um so erschütternder dieser Ruf: Wir sind doch Arbeiter und keine Sklaven!
Aber welches sind nun die Schlußfolgerungen? Wir haben aus vielen Ländern gehört — und können es noch täglich lesen — Bekundungen der Erschütterung, der Verwunderung und der Bewunderung. Überall klingt die Erkenntnis durch: Es handelt sich um eine elementare Kraft! Man muß eine neue Politik — so heißt es auch in einem seriösen amerikanischen Artikel. — inaugurieren, die die Spaltung zu überwinden 'sucht! Die Kürze der Zeit erlaubt mir leider nicht, Ihnen diese Dinge im einzelnen zu zitieren. Aber leider haben wir nicht nur solche Bemerkungen und Schlußfolgerungen zu verzeichnen. Wir haben in diesen letzten Wochen auch Ansichten gehört, und zwar nicht zufällige oder irgendwelche, die dahin gehen, die von diesen Leuten vertretene bisher zögernde
Politik im Hinblick auf Vier-Mächte-Verhandlungen mit dem Ziel der Wiedervereinigung jetzt sogar noch zu versteifen. Man erklärt: Das System der Sowjets ist ja im Wanken, laßt sie eine Weile im eigenen Saft schmoren, jetzt nicht verhandeln! Wir meinen: das ist es nicht, was diesen Blutopfern und dieser grandiosen Tat gerecht wird. Es müßte genau umgekehrt sein! Von uns werden jetzt nicht Bekundungen unserer Stärke auf Kosten derer, die das Risiko auf sich genommen haben, gewünscht,
sondern von uns wird eine Politik der Festigkeit und Zähigkeit, die die Stärke des Freiheitswillens unserer Brüder und Schwestern in der Zone und in Ost-Berlin mit einspannt und ihr Rechnung trägt, gewünscht und verlangt!
Ich kann nicht umhin, hier darauf hinzuweisen, daß der journalistische Hauptinterpret des Herrn Bundeskanzlers in einem Artikel, der einige Tage nach dem offenen Aufstand erschienen ist, geschrieben hat: Die Einheit in Freiheit war im vorigen Jahr unmöglich; sie ist es auch heute noch.
Sie wird erst erreichbar sein in der Stunde einer Gesamtbereinigung des Ost-West-Konflikts, und dafür — wörtlich — „ist es noch zu früh".
Weiter heißt es, eine solche Konferenz enthalte heute größte Gefahren. Wir haben diese Auffassung — und sicher wird mein Freund Brandt darauf noch zurückkommen, weil meine Redezeit es nicht mehr erlaubt — in einer besorgniserregenden Weise vor allem in einem Organ wie „United States News" gefunden, in dem der Bundeskanzler sozusagen als Zeuge für eine solche Haltung angerufen wird. Wir meinen, es wäre Sache des Bundeskanzlers, sich in aller Eindeutigkeit gegen solche Verbündete abzugrenzen
und zu sagen, was er im Gegensatz zu diesen für uns indiskutablen Auffassungen zu tun gedenkt.
Ich muß auch — das kann ich nur stichwortartig — auf die aufsehenerregenden Enthüllungen hinweisen, die im „Wallstreet Journal" in der letzten Woche gestanden haben. In dem Blatt, in dem gleichzeitig im Leitartikel positiv und konstruktiv eine neue amerikanische Europapolitik im Hinblick auf die baldige Herbeiführung der Einheit Deutschlands gefordert wurde, wurde festgestellt, daß im amerikanischen State Department die zur Zeit noch überwiegende Auffassung die sei, zunächst einmal bis zu den Bundestagswahlen die Bevölkerung Westdeutschlands nicht durch Wiedervereinigungsschritte zu beunruhigen,
und zwar im Hinblick auf die gegenwärtige Position der Bundesregierung. Wir meinen, die gegenwärtige Regierung sollte zu erkennen geben, ob sie damit identifiziert werden darf oder nicht, und das mit aller Deutlichkeit. Oder denken Sie an den hier schon so häufig unlieb zitierten Sender Free Europe auf deutschem Boden, der klar sagt: Unter den gegebenen Umständen können die Westmächte
nicht erwarten, daß eine Konferenz mit den Moskauer Diktatoren irgendeinen Erfolg bringen kann.
Dieser Chor ist zwar nicht ein Ausdruck für das, was im Volk vor sich geht, aber ein Ausdruck für das, was in einer gewissen Politiker-, Diplomaten- und Publizistenschicht gewünscht wird oder, anders gesehen, nicht gewünscht wird.
Deswegen möchte ich auf jenen Punkt unseres Antrags kommen, der unter 1 von der Bundesregierung verlangt, den Regierungen der drei westlichen Besatzungsmächte das dringende Anliegen der Bundesrepublik in aller Form mitzuteilen, nach der in Aussicht genommenen Konferenz der drei Westmächte s o f o r t zwischen den vier Besatzungsmächten unmittelbare Verhandlungen aufzunehmen, die der Herbeiführung einer Übereinkunft zur Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit dienen. Wir meinen, die Annahme dieses Antrags wäre das beste und eindrucksvollste Dementi der Unterstellungen, die in den von mir angedeuteten Publikationen der Politik Westdeutschlands gegenüber gemacht werden.
In unserm Antrag fordern wir von der Bundesregierung zweitens, den Hohen Kommissaren der drei westlichen Besatzungsmächte Vorschläge zu unterbreiten, in Verhandlungen mit dem sowjetischen Hohen Kommissar Erleichterungen im Verkehr über die Zonengrenze zu bewirken, die zunächst eine wirkungsvolle Hilfe für die unter Ernährungsschwierigkeiten leidende Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone ermöglichen und schließlich zu einer Aufhebung der Sperrmaßnahmen und weitgehenden Normalisierung im innerdeutschen Personen- und Güterverkehr führen.
Dazu haben wir einige konkrete Vorschläge. Wir sind der Meinung, die Bundesregierung müsse gegenüber den drei westlichen Hohen Kommissaren Vorschläge solcher Art, die beliebig erweitert werden können und um deren Erweiterung wir uns in gemeinsamer Denk- und Planungsarbeit bemühen sollten, machen.
Erstens ist alles in Bewegung zu setzen, um die Hilfe und die guten Dienste dritter Mächte und Kräfte für den Schutz der von Repressalien betroffenen und bedrohten Bevölkerungsteile der sow etisch besetzten Zone und Ost-Berlins zu bekommen. Das ist schwer, das ist mühselig. Aber alle können dazu etwas beitragen; denn es ist unser aller Anliegen. Wir sollten jedoch versuchen, das in einer Weise zu machen, daß es ohne großen Zeitverlust so effektiv wie möglich geschieht. Bei dem Schutz gegen Repressalien sollte man auch die Einflußmöglichkeiten der Hohen Kommissare einschalten.
Zweitens ist eine Nahrungsmittelhilfe in jeder erdenklichen Form — ich betone: in j e der erdenklichen Form — notwendig. Das heißt, daß versucht werden muß, vom sowjetischen Kommissar die Genehmigung genereller Empfangsberechtigung von Nahrungsmittel-, Medikamenten- und Starkungsmittelhilfe für alle Bevölkerungsteile der sowjetisch besetzten Zone zu erwirken,
ferner Möglichkeiten der Hilfe durch Speisungen in Schulen und Altersheimen durch die Vermittlung ausländischer, nichtdeutscher, internationaler Hilfsorganisationen zu erreichen. Ferner kann die Bundesregierung — das möchte ich hier einschalten
- auf einem Gebiet, auf dem sie schon nicht mehr durch die Hohen Kommissare beengt ist, etwas tun, was systematisch und impulsiv weiter betrieben werden müßte: eine Erweiterung des Interzonenhandels auf den Sektoren, die in irgendeiner Weise mit der Ernährung im Zusammenhang stehen.
Ein offenes Wort. Es ist oft darüber gesprochen worden, daß man auf diese Weise ja schließlich dem Regime eine gewisse Stütze geben würde. Wir sollten das in dieser Stunde nicht weiter zu erörtern suchen. Einem 'Regime, das von seiner eigenen Schutzmacht und Auftraggeberin und in erschütternder Weise von denen, die ihm unterworfen worden sind, so bloßgestellt worden ist, kann man durch solche Lebensmittelsendungen nicht auf die Beine helfen, aber man kann den Menschen auf die Beine helfen, ihren Mut, ihre Stärke und ihre Kraft zum Weiterertragen und Weiterringen mit den ihnen gemäßen Mitteln fördern.
Dritter Vorschlag: Auflockerung und Aufhebung der Sperren an der Zonengrenze entsprechend den Forderungen, die auch der - Herr Bundeskanzler kundgegeben hat, und Versuche, zu einem ungehinderten Reise- und Güterverkehr zu kommen. Dazugehört die Erhöhung der Zahl der Kraftfahrzeug-Übergangsstellen über die Zahl von drei hinaus. Dazu gehören entsprechende Erweiterungen für Eisenbahn und Binnenschiffahrt. Dazu gehört, beim Personenverkehr die Beschränkung nur noch auf die Einhaltung der politischen Meldevorschriften zu legen, statt, wie es heute der Fall ist, durch ein kompliziertes System über den Interzonenpaß hinaus die Reisemöglichkeiten beinahe zu zerstören. Wir sind ja in unserem Gebiet auch nicht frei davon. Etwas, was ursprünglich zur Abwehr von Agenteneinschleusungsversuchen geschehen ist, bleibt nun in einer Zeit bestehen, in der man umschalten müßte.
Viertens: Versuche, zu Aufgliederungen und Teillösungen von Komplexen zu kommen. Was verstehen wir darunter? Wir möchten, daß z. B. in bezug- auf die Gefangenen nicht nur die selbstverständliche und sicher allen gemeinsame Forderung nach Freilassung gestellt wird, sondern daß man durch Aufgliederung und Teilforderungen an die Gesamtlösung heranzukommen versucht, und zwar unter Einschaltung der Kommissare und ihres Einflusses. Ich nehme ein Beispiel heraus: die sogenannten Altinternierten, eine Gruppe von rund 12 000 Personen, die seit dem Jahre 1945/46 sitzen und die im achten und neunten Jahr ihrer Haft freigelassen werden müßten. Sie sind zum großen Teil nur noch Wracks. Das wäre ein Beitrag zu dem Versuch, das große Problem der Gefangenen, Internierten und politischen Gefangenen aufzugliedern, nicht um auf die anderen zu verzichten, sondern um zunächst zu versuchen, zu gewissen Teilresultaten zu kommen.
Dasselbe scheint uns in bezug auf die Kriegsgefangenen richtig zu sein. Warum sollte es nicht möglich sein, durch die westlichen Hohen Kommissare dem Kommissar der sowjetischen Besatzungsmacht vorzuschlagen, daß, damit die Vorwürfe über die Bestände, Listen und Register einmal aufhören — soweit das gewünscht wird —, z. B. die sowjetzonalen Stellen mit den bundesrepublikanischen Stellen an der Durchkämmung der Register der Wehrmachtsauskunftstellen mitwirken? Dann wäre es möglich, daß man die eliminiert, die auf beiden Seiten als tot erkannt sind, etwas, was wir heute allein tun, wozu die andere Seite zwar Propaagandaverleumdungen liefert, aber nicht dazu beiträgt, daß diese Verzeichnisse ordnungsgemäß auf den Tag geführt werden.
Eine zweite Forderung, die dieses Problem aufgliedert, wäre, uns die Namen der verurteilten und angeklagten deutschen Kriegsgefangenen zu geben, die im Bericht der Sowjetregierung vom September 1951 an die Vereinten Nationen zahlenmäßig als dort befindlich bekanntgegeben worden sind, damit wir wenigstens wissen: diese Zahl deckt den und den lebenden Personenkreis.
Gewiß, Sie werden sagen: Das sind ja alles keine gewaltigen Dinge. Uns kommt es hier darauf an, zu versuchen, Kontakte herzustellen und zu sehen, ob es- Chancen gibt, die allmählich zur allgemeinen Entspannung führen.
Dazu gehören sechstens politische Schritte. Wir meinen a), daß man durch die Hohen Kommissare das Problem, das schon einmal in einem Angebot im September 1951 akut gewesen ist — das Angebot des Berliner Abgeordnetenhauses, das hier unterstützt worden ist, in allen vier Sektoren Berlins freie Wahlen auf der Grundlage der Wahlordnung von Oktober 1946 abzuhalten, was ohne kostspielige und umständliche Apparaturen und Kontrollen möglich wäre —, jetzt wieder aufgreifen und akut machen sollte, damit man zu einer einheitlichen Verwaltung unter demokratischer Kontrolle kommt.
Wir meinen b) eine Einwirkung, die — wenn man so will — als eine sowjetisch-sowjetzonale Vorleistung 'auf die notwendigen nächsten, größeren Leistungen betrachtet werden muß. Es geht darum, daß die von der SED und ihren Blockparteien diktatorisch und bürokratisch verhängte Verwaltungsreform, durch die die Länder aufgelöst und die Selbstverwaltung der Gemeinden, auch wenn sie nur noch eine Farce war, unter diesem 'Regime völlig liquidiert wurde, rückgängig gemacht wird. Denn sie fällt ja unter das, was angeblich am Kurs der SED durch die sowjetische Besatzungsmacht hat desavouiert werden sollen. Wir fordern also die Einführung der Selbstverwaltung in den Gemeinden und Kreisen als die Vorbereitung einer anderen Atmosphäre, in der es möglich sein wird, über Viermächtevereinbarungen zu einer Wahl in den vier Zonen und in Berlin zu kommen.
Alles das soll diesem Ziele dienen: auf das Viermächteabkommen hinzuarbeiten durch schrittweise Erleichterung, Lockerung und schließlich Normalisierung. Wir erwarten das und wir betonen, daß die 'Bundesregierung gegenüber den Hohen Kommissaren in dieser Weise aktiv werden soll, besonders nachdem wir in den letzten Tagen von dem Herrn amerikanischen 'Hohen Kommissar, Mr. Conant, Kommentare zur Lage statt Maßnahmen und Vorschläge zur Lösung und Änderung der Lage gehört haben.
Der Herr amerikanische Hohe Kommissar hat, wenn man das in großen Intervallen einmal überprüft, als 'er in Washington zu einem mehrwöchigen Besuch ankam, erklärt, nach seiner Meinung werde die Sowjetisierung der Ostzone weiter fortgesetzt werden. Er wurde unmittelbar darauf durch gewisse Ereignisse jedenfalls dementiert. Er kam zurück und erklärte noch nach dem Aufstand, es sei eigentlich nichts Wesentliches geändert. Schließlid haben wir die gestrigen Äußerungen, die uns befürchten lassen, daß neue und immer neue Voraussetzungen aufgetürmt werden, ehe man das Not-
wendige tut, um zu Viermächteverhandlungen und
zu einer damit zusammenhängenden Aktivierung
der Kommissare der Besatzungsmächte zu kommen.
In Punkt 3 unseres Antrags fordern wir schließlich, daß dem Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten über das Verhandlungsprogramm der Bundesregierung für die vorgesehenen Konferenzen und die bei den Hohen Kommissaren unternommenen Schritte berichtet wird. Wir verstehen unter internem Verhandlungsprogramm das Entscheidende, was in dieser Stunde und in dieser Situation getan werden muß, nämlich eine Ausarbeitung — und das kann nur, wenn es nicht falsch gemacht werden soll, ein gemeinsames Werk von Regierung und Opposition sein —, die alle Gegebenheiten analysiert, die den Versuch macht, Alternativmöglichkeiten durchzudenken, festzulegen und 'darüber zu beraten. Das ist keine Angelegenheit, die man sozusagen aus dem Handgelenk und von Rednertribünen herunter erledigen kann. Das ist etwas, das wirklich zum Teil mühselig erarbeitet werden muß. Dieses interne Verhandlungsprogramm ist der Prüfstein dafür, ob es wirklich eine Gemeinsamkeit in dieser gemeinsamsten aller deutschen Fragen gibt.
Meine Damen und Herren, da muß man ein offenes Wort sagen können: wir stehen vor Bundestagswahlen. In Ländern mit einer eingewurzelten demokratisch-parlamentarischen Tradition ist es üblich — denken Sie an das, was am Ende des Krieges einige Länder 'als selbstverständlich gemacht haben —, daß auf Konferenzen antritt im Hinblick auf die Wahlen sozusagen eine doppelte Garnitur. Wir haben solche Forderungen hier nicht gestellt. Aber die Forderung, daß man das interne Verhandlungsprogramm und alles, was dazu gehört, gemeinsam ausarbeitet, ist für uns der Prüfstein dafür, ob es überhaupt ernst gemeint ist mit der Forderung nach sofortiger, unverzüglicher Viermächteverhandlung zum Zwecke der Vorbereitung der Wiedervereinigung Deutschlands unter gewährleisteten Bedingungen.
Um diese Frage wird die Regierung nicht herumkommen, auch wenn sie der Meinung sein sollte — wie es aus der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers hervorging —, es sei 'eigentlich schon 'alles in Ordnung. In Ordnung ist es nur, wenn diese Seite der Arbeit gemeinsam gemacht wird und wenn nicht mehr von einer Seite befürchtet werden muß, daß zwar etwas deklariert und deklamiert, aber nicht in allen Konsequenzen weitergeführt wird. Das ist unser Anliegen, das ich zur Begründung dieses Antrags vorzutragen habe.