Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wäre Ihnen dankbar, meine verehrten Kollegen und Kolleginnen, wenn Sie diesem Punkte die gleiche Aufmerksamkeit widmen wollten, wie dem Bundeswahlgesetz; denn er ist nicht weniger wichtig als das eben genannte Wahlgesetz.
Der Bundestag hat in seiner 249. Plenarsitzung am 4. Februar 1953 die Verstärkung des Bundesgrenzschutzes von 10 000 auf 20 000 Mann mit 188 Stimmen gegen 144 Stimmen beschlossen. Auf Grund einer Abmachung, die sich außerhalb der Bestimmungen des Grundgesetzes hält, die jedoch ein Entgegenkommen des Herrn Bundesinnenministers und der Koalitionsparteien gegenüber der Opposition darstellt, ist seinerzeit in einem Antrag durch das Haus beschlossen worden, daß eine Vermehrung des Bundesgrenzschutzes nur mit der Mehrheit der Mitgliederzahl des Bundestags beschlossen werden sollte, d. h. mit mindestens 201 Stimmen.
Sie erinnern sich, daß seinerzeit infolge der Grippewelle, die unsere Heimat heimsuchte, eine große Anzahl von Abgeordneten nicht an der damaligen Sitzung teilnehmen konnte und daher die Zahl von 201 Stimmen in der namentlichen Abstimmung nicht erreicht wurde. Um nicht noch eine
weitere Verzögerung in der für die nationale Sicherheit so bedeutsamen Frage der Vermehrung des Bundesgrenzschutzes erleben zu müssen, haben die Fraktionen der Regierungskoalition Ihnen mit der Drucksache Nr. 4420 erneut einen Antrag betreffend die Stärke des Personals des Bundesgrenzschutzes vorgelegt mit der Bitte, heute ohne Verweisung in einen Ausschuß, sondern unmittelbar durch Ihre namentliche Abstimmung die 201 Stimmen aufzubringen, die leider damals aus den verschiedenen Gründen nicht erreicht werden konnten.
— Ich habe die Hoffnung, mit Hilfe meiner vier Mikrophone mich auch gegenüber den Abgeordneten des Hauses durchsetzen zu können, die leider dieser Frage trotz der Ereignisse in Ost-Berlin im Augenblick nicht die gebührende Aufmerksamkeit schenken,
sondern denen wahltaktische Besprechungen im Augenblick wichtiger zu sein scheinen als die Frage der nationalen Sicherheit der Bundesrepublik.
Darf ich Ihnen zur Begründung des Antrages noch einmal jene Angaben kurz wiederholen, die ich bereits am 4. Februar 1953 in der 249. Sitzung als Sprecher meiner Fraktion gemacht habe.
— Herr Kollege Becker, ich hoffe, daß meine Mikrophone und meine gute breite Figur in der r Lage sind, die Unruhepropaganda gegen diesen Antrag allmählich zu übertönen.
Meine Damen und Herren! Die allgemeine Polizei in der Sowjetzone hat nach unseren neuesten Informationen
einschließlich Schutz-, Verwaltungs-, Kommunal- und Transportpolizei eine Stärke von 97 000 Mann. Die entsprechende Zahl der Polizeiexekutive in den Ländern der Bundesrepublik einschließlich der Bahnpolizei beträgt 106 177 Mann. Die kasernierte Volkspolizei, die nicht mehr als Volkspolizei anzusprechen ist, sondern in ihrer Gliederung nach motorisierten, mechanisierten Schützendivisionen und Korps, in ihrer Ausrüstung mit Panzern und Artillerie und in ihrer Umkleidung in olivgrüne Uniform vom Schnitt der Uniform der Roten Armee eher als eine Volksarmee bezeichnet werden kann denn als eine Volkspolizei, besitzt nach dem neuesten Stand 133 000 Mann, die sich gliedern in 120 000 Mann Landstreitkräfte — also gegliedert in Infanterie- und mechanisierte Divisionen —, 6000 Mann Luftwaffe — die erste Fliegerdivision, die ihren Sitz in Cottbus hat, wird gegenwärtig von den alten sowjetischen Jagdflugzeugen auf MIG 15, den modernen Düsenjäger, umgerüstet — und 7000 Mann Seepolizei, über deren Einzelheiten wir durch die Flucht des Obersten Gerber, der noch nach seiner Flucht am 1. Mai zum Generalmajor befördert wurde, so gut orientiert sind, daß wir wissen, daß auch diese Seepolizei längst den Charakter einer Marine angenommen hat. Zu diesen eben genannten 133 000 Mann kommen noch hinzu 25 000 Mann Grenztruppe. Das sind insgesamt also 158 000 Mann. Nach den Plänen der Sowjetzonenregierung soll diese Volksarmee noch in diesem Jahre auf 200 000 Mann verstärkt werden. Ihre Gesamtausrüstung umfaßt bereits jetzt etwa 800 Geschütze, Sturmgeschütze und Panzer vom Muster T 34.
An der Spitze jener Volksarmee stehen die ehemaligen Wehrmachtsgenerale Vinzenz Müller, von Lenski, Lattmann. Es bemüht sich um fliegerischen Nachwuchs der ehemalige Oberst im Generalstab der Luftwaffe Lehwitz-Litzmann. Es bemüht sich um die Schulung eines Generalstabs für die Volksarmee der ehemalige Oberstleutnant im Generalstab von Frankenberg und Proschlitz. Die Majore Markgraf und Bechler, Schüler der höchsten sowjetischen Militärakademie, der Frunse-Akademie, haben sich die Ausbildung des Unteroffiziersnachwuchses zur Aufgabe gemacht.
Dieser zusammengefaßten und durch fanatische FDJ-Funktionäre immer wieder aufgefüllten Volksarmee stehen als Grenzschutz in der Bundesrepublik gegenüber die Bereitschaftspolizei der Länder und der Bundesgrenzschutz, beide zusammen mit einer Gesamtstärke von 18 168 Mann. Sie sehen, meine Damen und Herren, daß hier ein krasses Mißverhältnis vorliegt, das uns zwingt, endlich jene Verstärkung des Bundesgrenzschutzes nachzuholen, die bisher leider Gottes an parteipolitischen Streitigkeiten gescheitert ist. Nationale Sicherheitsfragen aber — ich wiederhole das, was ich in der Sitzung am 4. Februar gesagt habe — dürfen niemals Gegenstand parteipolitischen Streites sein, wenn wir nicht selbst unsere Freiheit strangulieren wollen.
Ich habe seinerzeit die Grenzzwischenfälle genannt, die in der Zeit bis zum Januar 1953 an der Zonengrenze stattgefunden haben. Es ist naturgemäß, daß die Zonengrenze und die Grenze zur Tschechoslowakischen Republik — insgesamt also 2200 km — nicht von dieser kleinen Zahl von 18 168 Mann überwacht werden kann. Selbst wenn man alle 18 000, wie es der Kollege Menzel seinerzeit vorschlug, unmittelbar an die Grenze legte, gewissermaßen in einer linearen Aufstellung, würden wir nur in der Lage sein, bei dreifachem Wechsel binnen 24 Stunden auf je 10 km einen Unteroffizier und acht Mann aufzustellen. Daß das kein wirksamer Schutz gegen Grenzüberfälle, Zwischenfälle, Infiltration ist, ja nicht einmal den Ausdruck „Schleier" verdient, leuchtet jedem ein. Abgesehen davon ist eine solche lineare Aufstellung wider jede moderne Polizeierfahrung.
Das Wesen moderner Bereitschaftspolizeien und Bundesgrenzschutzstellen ist eine schwerpunktmäßige Zusammenfassung von motorisierten, schnell beweglichen, mit Funk ausgestatteten Einheiten, um sie so schnell wie möglich an Brennpunkte unserer Grenze verlagern zu können. Die Zeiten sind vorbei, da man Polizeiaufgaben durch die Pickelhaube eines bärtigen Gendarmen lösen konnte, der auf dem Marktplatz schon kraft seiner martialischen Gestalt der Bevölkerung Respekt einflößte. Die modernen Polizeiaufgaben sind heute Bataillons-, Regiments-, vielleicht sogar Divisionsaufgaben geworden. Man braucht zu ihrer Ausführung sogar eine Überwachung aus der Luft durch Hubschrauber, wie das die modernen Polizeien anderer benachbarter Staaten uns ja so ausgezeichnet vormachen.
Die Grenzzwischenfälle seit dem 1. Januar bis zum 15. Mai dieses Jahres belaufen sich auf genau 50 Fälle. Ich will Ihnen einige Beispiele hier bekanntgeben.
Am 5. Januar wurde bei Wittingen eine Frau auf der Flucht 100 m diesseits der Grenze von Grenzsoldaten beschossen und anschließend gewaltsam zurückgeholt.
Am 12. Januar wurde bei Hötensleben eine Streife von 17 Grenzsoldaten auf Bundesgebiet angetroffen; sie zog sich auf Veranlassung einer Bundesgrenzschutzstreife zurück.
Am 20. Januar überschritten bei Hünfeld zwei Grenzsoldaten die Grenze; sie zogen sich auf Veranlassung einer Zollstreife zurück.
Am 23. Januar wurde bei Schöningen eine Zollstreife von Osten her von unbekannten Tätern beschossen.
Am 10. Februar schossen russische Soldaten ostwärts Wulfersdorf bei der Niederwildjagd auf deutsches Gebiet.
Am 16. Februar beschossen südlich Grafhorst sowjetrussische Soldaten eine Streife des Bundesgrenzschutzes, die sich auf Bundesgebiet befand.
Am 19. Februar stellte eine amerikanische Grenzstreife ein Kommando sowjetzonaler Grenzsoldaten 100 m diesseits der Zonengrenze.
Am 16. Februar beschossen sechs Russen und zwölf Grenzsoldaten einen Flüchtling bei Hötensleben, als dieser sich bereits auf Bundesgebiet befand.
Am 22. Februar wurde bei Bad Sooden-Allendorf der Heinrich Brill vom Bundesgebiet in die Ostzone verschleppt.
Am 24. Februar beschossen bei Hünfeld Grenzsoldaten das Bundesgebiet.
Am 1. März wurde ein landwirtschaftlicher Arbeiter bei Radenbeck auf Bundesgebiet von der Grenztruppe durch Schüsse schwer verwundet und anschließend in die sowjetische Besatzungszone verschleppt. Der Mann war Flüchtling aus der sowjetischen Besatzungszone und ehemaliger Angehöriger der Volkspolizei.
Am 25. Februar wurde ein Arbeiter der Braunschweigischen Kohlenbergwerke bei Neubüddenstedt von zwei russischen Soldaten auf westzonalem Gebiet angehalten.
Am 7. März wurde Franz Spiller aus Bad Sooden-
Allendorf, der sich 30 m •diesseits der Zonengrenze befand, von Grenzsoldaten in die sowjetische Besatzungszone verschleppt.
Ich könnte diese Beispiele noch fortsetzen. Den Mitgliedern des Hauses steht die Aufstellung der 50 Fälle — es handelt sich um eine amtliche Aufstellung — zur Einsicht zur Verfügung.
Durch diese Grenzzwischenfälle hat sich der Bevölkerung an der sowjetischen Zonengrenze eine tiefe Unsicherheit und Unruhe bemächtigt. Die Aufforderungen um Schutzmaßnahmen seitens des Bundesgrenzschutzes belaufen sich daher allein vom 1. Januar dieses Jahres bis zum 19. Mai auf 32 Anforderungen. Auch hier einige Beispiele:
Am 24. Januar 1953 forderte die Betriebsleitung der Braunschweigischen Kohlenbergwerke neben der ständigen Stützpunktbesatzung im Grubengelände eine Gruppe zur Abschirmung von Arbeiten im Grubengelände direkt an der Grenze an.
Die Gemeinde Nienbergen machte am 19. und 24. Januar 1953 die Durchführung von landwirtschaftlichen Bestellungsarbeiten von der Zuweisung einer Sicherungseinheit des Bundesgrenzschutzes abhängig.
Am 9. März 1953 forderte das Zollgrenzkommissariat Hof die Besetzung einer Sperrlinie durch Bundesgrenzschutz zum Abfangen von Agenten.
Am 16. März 1953 forderte die Gemeinde Ullitz im Raume Hof Bundesgrenzschutz zum Schutze der Feldbestellung an; usw. usw.
Meine Damen und Herren, als letztes noch: Das Mißtrauen außerhalb der deutschen Grenzen gegen jede Verstärkung des Bundesgrenzschutzes beruht — das ist vor Jahren schon behauptet worden — auf der Sorge vor einer Remilitarisierung durch die Hintertür. Wer das behauptet, verrät angesichts der Ausrüstung, der Ausbildung und Stationierung des Bundesgrenzschutzes ausgesprochen dilettantisches militärisches Wissen, wenn er jenen 10 000 oder 20 000 Mann etwa militärischen Charakter unterstellen wollte. Ich glaube, daß es auch im Interesse der Nachbarländer Deutschlands liegen sollte, die Zonengrenzen zu schützen, die Infiltration von Agenten zum mindesten zu erschweren und die Überfälle abzuwehren. Ich kann mir daher selbst bei den besonders mißtrauischen Nachbarn im Westen nicht vorstellen, daß sie berechtigte Einwände gegen die Verstärkung des Bundesgrenzschutzes vorbringen können.
Aber wer immer noch bis vor wenigen Tagen Bedenken haben konnte, der sollte sich nach den Ereignissen in Ost-Berlin und dem, was die Kommunisten uns morgen auch hier bescheren könnten, heute endlich durch seine namentliche Abstimmung für die Verstärkung des Bundesgrenzschutzes und damit für die Erhöhung unserer nationalen Sicherheit entscheiden.