Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir legen Ihnen heute einen Gesetzentwurf vor, der sich sehr wesentlich von dem früheren Zu- stand im Reich und dem Zustand, den wir jetzt haben, entfernt. Die Reichsversicherungsordnung hatte den Versicherungsbehörden die Entscheidung von Streitigkeiten auf dem Gebiete der Sozialversicherung übertragen. Über den Versicherungs- und Oberversicherungsämtern stand als oberste Instanz das Reichsversicherungsamt. Die Zuständigkeit dieser Behörden wurde auf Streitfälle der Arbeitslosenversicherung ausgedehnt. Nach dem ersten Weltkrieg wurden für die Kriegsopferversorgung die Versorgungsgerichte und das Reichsversorgungsgericht geschaffen. Sie waren in ihrer Organisation eng mit den Versicherungsbehörden verbunden. Reichsversicherungsamt und Reichsversorgungsgericht waren in der Spitze in Personalunion vereinigt. Die Bedeutung der Rechtsprechung dieser Behörden ist auch heute noch allgemein anerkannt.
Nach dem 8. Mai 1945 setzten die Versicherungs-
und Oberversicherungsämter ihre Tätigkeit fort; dagegen konnten das Reichsversicherungsamt und das Reichsversorgungsgericht ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen. Nur in den Ländern Bayern und Baden-Württemberg wurden Landesversorgungsämter errichtet, denen für den Bereich der genannten Länder die Aufgaben des Reichsversicherungsamts und die letztinstanzliche Entscheidung von Streitigkeiten aus der Arbeitslosenversicherung und der Kriegsopferversorgung zugewiesen wurden. Im allgemeinen war damit aber jede Möglichkeit genommen, Streitfälle aus den bisher den Versicherungsbehörden und Versorgungsbehörden zukommenden Gebieten höchstrichterlich entscheiden zu lassen.
Das Fehlen der obersten Spruchinstanz, wie sie bis 1945 im Reichsversicherungsamt und Reichsversorgungsgericht bestand, bedeutete einen immer fühlbarer werdenden Mangel. In Kreisen der Rechtsschutzsuchenden kam das Gefühl der Rechtsunsicherheit auf. Unter Berufung auf den Grundsatz der Gewaltentrennung, der die Wahrnehmung der Staatsgewalt durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt — das heißt der Verwaltung — und der Rechtsprechung verlangt und der in Art. 20 des Grundgesetzes aus-
drücklich niedergelegt ist, wurden. die Versicherungsämter und Oberversicherungsämter von den Verwaltungsgerichten, denen nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes eine umfassende Zuständigkeit auf dem Gebiet öffentlich-rechtlicher Ansprüche zukam, teilweise nicht mehr als Gerichte anerkannt.
Das Grundgesetz schreibt in Art. 96 in gleicher Weise wie für alle anderen Gerichtszweige auch für die Sozialgerichtsbarkeit die Errichtung eines oberen Bundesgerichts vor. Um den verfassungsrechtlichen Erfordernissen zu genügen und insbesondere den rechtsstaatlichen Grundsatz der Gewaltenteilung zu erfüllen, genügt es nicht, nur dieses obere Bundesgericht zu schaffen; vielmehr mußte der gesamte Gerichtsaufbau neu geordnet werden; dabei waren neue Wege zu beschreiten.
Der Begriff der Sozialgerichtsbarkeit ist nicht näher festgelegt. Jedoch kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Streitigkeiten aus der Sozialversicherung, der Kriegsopferversorgung und der Arbeitslosenversicherung, soweit sie bisher von den Versicherungsbehörden behandelt wurden, zukünftig zur Zuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit gehören müssen. Im Hinblick auf die Bedeutung dieser Sachgebiete und die Rechtsansprüche, über die gegebenenfalls richterlich zu entscheiden ist, soll der Rechtsschutz für alle Staatsbürger, die Ansprüche aus diesen Rechtsgebieten verfolgen wollen, so gestaltet werden, wie er auf anderen Rechtsgebieten besteht. Die Sozialgerichtsbarkeit soll in ihrem gesamten Aufbau und in ihrem Verfahren gleichwertig neben den ordentlichen, den Verwaltungs-, Finanz- und Arbeitsgerichten stehen.
Der heute dem Bundestag vorliegende Entwurf eines Sozialgerichtsgesetzes regelt ausschließlich die Verfassung der Gerichte, während über das Verfahren in einem weiteren Gesetz Näheres bestimmt werden soll. Entgegen dem bisherigen Zustand bei den Versicherungsbehörden, die neben der rechtsprechenden Tätigkeit Verwaltungs- und Aufsichtsaufgaben zu erfüllen hatten, werden die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit künftig nur die rechtsprechende Tätigkeit ausüben. Diese Zuständigkeitsregelung entspricht dem Grundsatz der Gewaltentrennung, der im Art. 20 des Grundgesetzes festgelegt ist. Er stellt die sachliche Unabhängigkeit des Richters sicher, der nicht, wie Verwaltungsbeamte, an Weisungen gebunden sein darf, sondern, außerdem unabsetzbar und unversetzbar, nur dem Gesetz unterworfen seine Tätigkeit ausüben muß.
Die Sozialgerichtsbarkeit wird an die Richter hohe Anforderungen stellen. Die Ansprüche, über welche sie zu entscheiden haben, sind immer an Rechtsvoraussetzungen geknüpft, die im öffentlichen Recht ihre Grundlage haben. In aller Regel kommt es daher nicht darauf an, in sozialgerichtlichen Verfahren einen Streit schiedsrichterlich zu schlichten und im Vergleichsverfahren zu beenden. Die Bundesregierung hat sich deshalb für das Berufsrichtertum entschieden und die Tradition der bisherigen Spruchbehörden der Sozialversicherungsordnung aufgenommen, bei denen fast ausschließlich Berufsrichter tätig waren. Zu umfassenden Rechtskenntnissen müssen aber Erfahrungen auf den Gebieten des sozialen Lebens treten, um beim Urteilsspruch die Lage des Rechtsschutzsuchenden erfassen und würdigen zu können.
Die Gleichwertigkeit der Gerichte wird durch die Schaffung eines dreistufigen Rechtszuges betont. Während die Sozial-. und Landessozialgerichte in den Ländern rechtliche und tatsächliche Fragen zu prüfen haben, wird der dritten Instanz, dem Bundessozialgericht, die Nachprüfung der richtigen Rechtsanwendung obliegen. Das Bundessozialgericht wird damit jene Aufgabe erhalten, die auch jedem anderen oberen Bundesgericht zukommt, nämlich die Rechtseinheit zu wahren und das Recht fortzuentwickeln.
Der innere Gerichtsaufbau, insbesondere die Besetzung der Spruchkörper, muß nach der Aufgabe der Gerichte ausgerichtet werden. Der Sozialgerichtsbarkeit obliegt die Rechtskontrolle der Sozialverwaltung als eines Teils der öffentlichen Verwaltung, mag diese durch Behörden, wie in der Kriegsopferversorgung, oder in den Formen der Selbstverwaltung, wie in der Sozial- und Arbeitslosenversicherung, durchgeführt werden. Die Sozialgerichtsbarkeit ist darum eine besondere Erscheinungsform der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Es bedeutet also keine Wertung im Verhältnis zur Arbeitsgerichtsbarkeit, wenn die Besetzung der Spruchkörper in stärkerer Anlehnung an die Verwaltungsgerichtsbarkeit gestaltet wird. Bei den Sozialgerichten sollen Kammern mit einem Berufsrichter als Vorsitzendem tätig sein, während die Landessozialgerichte und auch das Bundessozialgericht mit Senaten arbeiten werden, in denen drei Berufsrichter mitwirken.
Die Landessozialgerichte werden unbedingt den Schwerpunkt der Sozialgerichtsbarkeit bilden müssen. Vor diesen Gerichten soll nicht nur das Verfahren, das vor dem Sozialgericht als der ersten Instanz durchgeführt worden ist, wiederholt werden. Eine qualifizierte Besetzung soll vielmehr dem Rechtsschutzsuchenden die Sicherheit geben, eine sorgsam abgewogene Entscheidung zu erhalten. Darin liegt zudem für die rechtsuchenden Versicherten und Versorgungsberechtigten die Gewähr, daß ihre Ansprüche in der gleichen Weise im Rechtszug verfolgt werden können, wie dies bei anderen öffentlich-rechtlichen Ansprüchen der Fall ist, die vor allgemeinen Verwaltungsgerichten anhängig gemacht werden können.
Es ist dabei entscheidend, daß die möglichen Ansprüche ihrer Natur nach in den meisten Fällen für den einzelnen Lebensfragen darstellen, so daß jede Minderbewertung dieses Gerichtszweiges und auch nur der Eindruck einer solchen ausgeschlossen sein muß.
Auf dem Gebiete der Sozialverwaltung, insbesondere in der Sozial- und Arbeitslosenversicherung, wirken die Versicherten und ihre Arbeitgeber eigenverantwortlich mit. Der gleiche Gedanke rechtfertigt die Beteiligung dieser Kreise bei der Rechtsfindung. Es geht nicht darum, durch den ehrenamtlichen Beisitzer die Interessen eines an dem Streit Beteiligten wahrzunehmen; vielmehr ist es die Aufgabe des Laienelements, das Wohl der Versichertengemeinschaft beim Urteilsspruch zu beachten und die alltäglichen Erfahrungen aus dem sozialen Bereich der Rechtsprechung dienstbar zu machen.
Der Regierungsentwurf hat darum den bewährten Grundsatz aufgenommen, der bei den Versicherungsbehörden und Versorgungsgerichten galt. Für die Gerichte aller Rechtsstufen bis hinauf zum Bundessozialgericht ist die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter vorgesehen. Wenn die ehrenamtlich tätigen Richter mit die Verantwortung für den Urteilsspruch tragen sollen, dann ist es unbedingt erforderlich, besonders geeignete Per-
sönlichkeiten für diese Aufgabe heranzuziehen. Ein Vorschlagsrecht derselben Stellen, die auch im Rahmen der Selbstverwaltung die Vertreter namhaft machen, bietet am ehesten die Gewähr, dieses Ziel zu erreichen. Die Gewerkschaften, die Arbeitnehmervereinigungen mit berufs- und sozialpolitischer Zwecksetzung, die Arbeitgeberverbände und die Verbände der Kriegsopfer stehen damit vor einer bedeutenden Aufgabe, deren befriedigende Lösung erheblich dazu beitragen wird, das Vertrauen des einzelnen in die Gerichte und damit ihr Ansehen bei der Allgemeinheit zu stärken.
Für die Regelung des Verfahrens vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit wird dem Deutschen Bundestag in Kürze ein besonderes Gesetz, die Sozialgerichtsordnung, vorgelegt werden. Der Regierungsentwurf dieses Gesetzes ist bereits vom Bundesrat in seiner Sitzung vom 24. April 1953 behandelt worden. Es wird also mit Sicherheit zu erreichen sein, daß beide Entwürfe in einem Gesetz vereinigt werden und den Versicherten und Versorgungsberechtigten ein Gesetzwerk in die Hand gegeben wird, das der bestehenden Rechtsnot entgegenwirkt. Die baldige Verabschiedung dieser Gesetze wird einen Beitrag zur sozialen Sicherheit im sozialen Rechtsstaat darstellen.