Rede von
Dr.
Max
Becker
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Meine Damen und Herren! Ich bin überzeugt, Sie erwarten nicht, daß ich auf die Rede des Herrn Loritz oder auch auf die der Frau Wessel antworte. Ich möchte mich mit den Argumenten der Opposition beschäftigen. Herr Ollenhauer hat vorgetragen, daß die Sowjetunion jetzt vermutlich eine andere Politik einschlage, und daß man warten solle, bis man Klarheit über diese neue Politik habe. Verehrter Herr Kollege Ollenhauer, wenn Sie die Verträge in wochenlangen Diskussionen schon mit der Lupe oder mit dem Mikroskop betrachten, müssen Sie doch bedenken, daß man nicht die ganze auswärtige Politik nur unter dem Gesichtspunkt des Tages ansehen kann. Sie müssen sich, wenn Sie die Politik der Sowjetunion richtig betrachten wollen, folgendes vor Augen führen. Die Sowjetunion hat nach 1945 in den klassischen Wehrmachtteilen — Landmacht, Luftmacht, Seemacht — weiter gerüstet, während der Westen abgerüstet hat. Der Westen hatte einen Vorsprung nur in der Atomwaffe; darin waren die Ostvölker, war die Sowjetunion zurückgeblieben, und sie hat jetzt ein Interesse daran, Zeit zu gewinnen, damit sie in der Atomwaffe mit dem Westen gleichkommt.
Sie hat aus den . gleichen Gründen ein Interesse daran, daß in dieser Zeit der Westen mit der Aufrüstung in den klassischen Waffen, in der Landmacht, in der Luftmacht und in der Seemacht, nicht nachkommt. Deshalb ist sie sehr daran interessiert, daß der Westen zu keinem Entschluß kommt. Wer glaubt, daß wir dadurch, daß wir zu keinem Entschluß kommen, der Sache dienen, und wer sich durch diese oder jene vorübergehenden Äußerungen zu der Meinung verleiten läßt, wir sollten das nicht tun, was die Stunde von uns fordert, der hilft — natürlich unbewußt — praktisch der Sowjetunion in ihrem Kalkül.
Nun zu der Frage des Friedensfühlers, der vom Osten gekommen sei. Mir fällt da immer ein Spruch ein, den der französische Staatsmann Paul Reynaud schon mehrfach zitiert hat, ein Spruch, der Lenin in den Mund gelegt wird und der heißt: Der Weg von Moskau nach Paris geht über Peking und Kalkutta. Und was finden wir, wenn wir uns die Geschichte der letzten Jahre ansehen? Da finden wir, daß die Sowjetunion, in der die Männer, die heute an der Regierung sind, auch schon damals leitende Stellungen hatten, von den baltischen Staaten über Polen und Ungarn, über Bulgarien und Rumänien die Satellitenvölker unterworfen und in China geholfen hat, das prophetische Wort, daß der Weg von Moskau nach Paris über Peking und Kalkutta geht, in seinem ersten Teile in einem für den Westen geradezu gefährlichen und lebensbedrohenden Maße schon wahrzumachen.
Wir sehen also diese Taten und wollen uns in unserer Politik nach Taten und nicht nach Worten, die in irgendeinem Interview gesagt werden, richten. Aber wenn der Wille zu einer Friedensgarantie besteht, können wir verhandeln; warum nicht? Dann können sich die vier Großmächte zusammensetzen; aber unsere Bewaffnung, unsere Mitwirkung an der Verteidigungsbereitschaft darf darunter nicht leiden; denn ich habe lieber zwei Friedensgarantien als keine.
Der Herr Kollege Ollenhauer hat zum Schluß seiner Ausführungen ein neues Projekt, das Projekt einer Art Allianz vorgetragen zwischen — ja, zwischen wem? — nationalen Staaten doch wohl. Alle diese nationalen Staaten sollen sich selbst bewaffnen und sich dann in einer Allianz zusammenfinden; d. h. auf deutsch: jeder dieser Nationalstaaten, auch die Bundesrepublik, muß eine Nationalarmee haben. Ich weiß nicht, wie Herr Kollege Ollenhauer sich mit dem Herrn Kollegen Carlo Schmid darüber verständigt hat; denn ich habe noch gut den Klang seiner Worte in den Ohren, als er in Straßburg- im August 1950 erklärte: Deutschland will und wird nie wieder eine nationale Armee haben! — Wie stimmt das zusammen?
Und weiter: wenn Herr Ollenhauer sich jetzt mit den Mächten Europas in einer Allianz zum Zwecke einer gemeinsamen Verteidigung zusammenfinden will, warum hat der gleiche Herr Ollenhauer im November 1950 anläßlich der großen Verteidigungsdebatte im Europarat in Straßburg für sich und seine Freunde mehrfach ein wiederholtes Nein ausgesprochen? Sogar mit der für einen international eingestellten Menschen merkwürdigen Begründung, daß der Europarat für solche Dinge nicht zuständig sei!
Und nun noch ein drittes Wort darüber, was Sie an den Verträgen vermissen, wenn Sie sie mit der Lupe und dem Mikroskop beobachtet haben! Vielleicht die Durchführung der demokratischen Kontrolle bis zum letzten? Die Koordinierung der europäischen Außenpolitik, die es uns Deutschen gewährleistet, bei der gemeinsamen Außenpolitik auch ein Wort mitzureden? Das finden Sie jetzt alles in dem am 10. März dieses Jahres fertiggestellten Entwurf einer europäischen Verfassung.
Ich sage es ganz offen: Ich habe es außerordentlich bedauert, meine Herren von der SPD — ich habe dieses Bedauern schon mehrfach Ihnen gegenüber zum Ausdruck gebracht —, daß Sie sich dieser Aufgabe, zu der Sie schließlich auch vom deutschen Volk gewählt waren, entzogen haben. Sie haben nicht mitgewirkt und Sie hätten gut mitwirken können; denn Sie hätten das, was Sie vielleicht noch vermissen, in einer anderen Form, als wir es geschaffen haben, bringen können. Dieses Bedauern wird nicht nur von uns empfunden, es wird geteilt von den Sozialisten aller europäischen Länder, die einfach nicht verstehen können, warum sich die deutsche Sozialdemokratie an diesem europäischen Werk nicht beteiligt. Wie haben sich die Zeiten verändert: Idealisten von vorgestern — Revolutionäre von gestern — und heute?!
Meine Damen und Herren! Am Schluß der Verhandlungen in der verfassunggebenden europäischen Versammlung hat sich eine sehr bezeichnende Szene abgespielt, die ich Ihnen am Schluß meiner Ausführungen vortragen möchte.
— Warten Sie doch erst einmal ab, bis ich sie erzählt habe! Dann können Sie immer noch sagen, ob sie amüsant ist! — Ein französischer Abgeordneter, übrigens ein sehr charmanter Kollege, hat sein Votum — es lautete auf Stimmenthaltung — begründet mit einer explication de vote, mit einer Erläuterung seiner Abstimmung, die 20 Minuten dauerte.
In dieser Erläuterung hat er so in dem Moder der Vergangenheit herumgestochert und hat Erinnerungen an Friedrich den Großen und Gott was weiß ich alles vorgebracht. Es war eine Erklärung, die so ewig gestrig, so verstaubt und so verwelkt klang.
Und sie wissen ja: Wir haben in Straßburg einen anderen Stil als hier. Wir sind etwas zurückhaltender; wir sind vielleicht noch etwas — wenn mir das Wort gestattet ist — taktvoller. Man hat bei diesen Worten des französischen Kollegen, der so seine Ewig-Gestrigkeit an den Tag legte, erst verstohlen gelächelt, dann hat man offen gelächelt, und schließlich ging die Rede in einem allgemeinen Lachen unter.
Dieses Lachen, diese Lächerlichkeit, war ein Beweis dafür, daß die Gedankenwelt des Ewiggestrigen, des übersteigerten Nationalismus zugrunde gegangen ist und daß der Weg zu einem einigen Europa, der Ihnen auch die demokratische Kontrolle der Verteidigungsbereitschaft bringt, von niemand mehr versperrt werden kann.
Meine Damen und Herren von der SPD! Ich wiederhole noch einmal: Ich bedaure aufrichtig, daß Sie nicht dabei waren. Sie befinden sich heute in einem Zustand der Zurückgezogenheit und der Unentschlossenheit. Sorgen Sie dafür, daß man nicht auch einmal über Sie lächelt!