Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Auftrage der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion beantrage ich, den Punkt 1 von der heutigen Tagesordnung abzusetzen.
— Sie lachen! Offenbar ist Ihnen nicht ganz bekannt, daß Sie heute aufgerufen worden sind, Ihr letztes Wort zu einem Vertragswerk zu sagen, dessen wirklichen Inhalt niemand zur Stunde überhaupt kennen kann.
Eine ganze Reihe von internationalen Verhandlungen sind im Gange. Ich möchte Ihnen nur einige wenige nennen, damit Sie wissen, was hier unter anderem zu entscheiden ist.
Zunächst handelt es sich um das Schicksal der von der französischen Regierung vorgelegten sogenannten Zusatzprotokolle. Ob diese französischen Zusatzwünsche nun die Form von unterzeichneten und eventuell den Parlamenten vorzulegenden echten Zusatzprotokollen annehmen, oder ob, wie es den Anschein hat, die Regierungen sich darauf beschränken, miteinander verbindliche Auslegungen der Vertragstexte zu verabreden, oder ob es schließlich sogar noch zu einer dritten Lösung kommt, die etwa dahin geht, daß die sechs Minister des künftigen Ministerrats miteinander verabreden, dem künftigen Kommissariat verbindliche Anweisungen zu geben, wie gewisse Bestimmungen der Verträge auszulegen sind wozu sie ja nach dem Vertragstext befugt wären —, das alles will ich dahingestellt sein lassen.
Die Gefahr ist ganz offenkundig. Der französische Außenminister Bidault hat es doch jedem von uns klar vor Augen geführt,
daß die französische Regierung darauf beharren
wird, den wesentlichen Inhalt ihrer Zusatzwünsche
praktisch auch zum Inhalt des Vertrags zu machen.
Es nützt doch gar nichts, wenn der eine Partner dann sagt: ich lese das nicht hinein, und der andere Partner liest in diesen Vertrag etwas ganz anderes hinein; oder aber wenn - auch diese Gefahr wollen wir ins Auge fassen — vielleicht sogar die eine Regierung, nachdem sie den Vertrag in der vorliegenden Form durch ihr Parlament hat ratifizieren lassen, um nun das Werk endlich doch noch abzuschließen, dann in der Zeit zwischen der deutschen und der französischen Ratifizierung sehr gewichtige Konzessionen dem französischen Verhandlungspartner gegenüber macht. Das sind doch Dinge, die wir ins Auge fassen müssen.
Damit Sie auch wissen, wovon die Rede ist, will ich Ihnen nur ein paar dieser Wünsche, die Sie ja alle in den Zeitungen haben lesen können, hier aufzählen, damit Sie begreifen, daß damit der Vertrag ganz wesentlich anders zu interpretieren ist, als mancher von Ihnen vielleicht bisher geglaubt hat.
Da ist der eine Punkt, wonach die französische Regierung sich vorbehalten will, jederzeit ohne Zustimmung der anderen Vertragspartner und ohne Zustimmung des Oberbefehlshabers der Atlantikpakt-Organisation ihre Kontingente nach eigenem Ermessen aus dem europäischen Raum zu entfernen und nach den Bedürfnissen der französischen
überseeischen Interessen einzusetzen. Wie soll dann überhaupt noch eine Sicherheitsplanung für Europa möglich sein, die doch angeblich der Kernpunkt des Vertrags über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft sein soll,
wenn das stärkste Kontingent im Zweifel nicht zur Verfügung der Gemeinschaft, sondern zur Verfügung einer Regierung für ihre überseeischen Bedürfnisse steht?! Das ist der eine Punkt.
Nun der zweite Punkt — sie ergeben sich alle logisch auseinander —: Die französische Regierung hat gefordert, daß sie die Hoheit über das Personal in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, soweit es die französischen Kontingente angeht, in ihrer Hand behält. Ich habe in der Nacht zu heute eine sehr interessante Drucksache durchgearbeitet, nämlich den dritten Band der Begründung, die die französische Regierung dem Vertragswerk in ihrem Parlament gegeben hat. Darin steht glasklar, daß die französische Regierung darauf besteht und den Vertrag heute schon so auslegt, daß die gesamten Laufbahnbestimmungen, die Schulen, die Ausbildung für das französische Kontingent in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft identisch sein müssen mit dem, was für die national verbleibenden französischen Streitkräfte gilt. Das bedeutet also, daß Sie, wenn Sie den Vertrag jetzt in Kenntnis all dieser Dinge ratifizieren, eines Tages erleben werden, daß es zwar ein deutsches Kontingent in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, aber kein französisches Kontingent, sondern eine französische Nationalarmee nebenher geben wird, aus der eventuell gelegentlich, wenn sie nicht woanders gebraucht werden, auch der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft Truppen zur Verfügung gestellt werden. Der Charakter der Gemeinschaft ist damit gesprengt.
Und zum dritten: Trotz des Abzugs französischer Streitkräfte, die nach dem Vertrage in die Gemeinschaft eingebaut werden sollten, will die französische Regierung das volle Stimmgewicht im Ministerrat der Verteidigungsgemeinschaft bewahren. Das bedeutet also, daß ein Partner, wenn seine effektiven militärischen Leistungen erheblich gemindert werden, trotzdem sein volles Mitbestimmungsrecht über die voll zur Verfügung stehenden Kontingente der anderen Partner bewahren will.
— Gut, Herr Euler, greifen wir Ihren Einwand auf! Nach der französischen Version ist es so, daß man den Vertrag heut e schon so interpretieren könne. Nun, ich will gar nicht untersuchen, welche der beiden Versionen gerechtfertigt ist, die der Bundesregierung oder die der französischen Regierung. Das Entscheidende ist, daß Sie jetzt in die Ratifizierung hineingehen, ohne zu wissen, welche Version letzten Endes die geltende sein wird. Darauf kommt es doch an.
Nur in aller Kürze, damit Sie wissen, ob es gut ist, diesen Punkt heute auszudiskutieren, oder ob es nicht doch besser ist, ihn zunächst einmal von der Tagesordnung abzusetzen, zwei weitere Probleme. Das eine ist die Stellung der Saar. Die französische Regierung hat unmißverständlich als Voraussetzung für die Ratifizierung des Vertragswerks
in ihrem Parlament gefordert, daß vorher eine
Definition des künftigen Status der Saar gegeben
wird, und zwar des europäischen Status der Saar.
Es hat nie einen Zweifel daran gegeben, daß die französische Politik unter dem europäischen Status der Saar auf alle Fälle zwei Dinge begreift: die politische Trennung der Saar von Deutschland und die wirtschaftliche Vereinigung der Saar mit Frankreich.
Jetzt handelt es sich nur noch um die europäische Visitenkarte, die diesem Tatbestand gegeben werden soll. Wir sind gar nicht mehr in einem Stadium, in dem noch über einen möglichen deutschen und über einen möglichen französischen Standpunkt gesprochen wird, sondern in dem es sich lediglich noch um die Formel für die sogenannte Europäisierung der Saar dreht. Das ist auch etwas, was ich zu bedenken bitte: ob Sie in dieser Stunde ratifizieren wollen, obwohl Sie nicht wissen, was an politischen Gefahren auch aus diesem Winkel her für einen Teil des deutschen Volkes, nämlich für die Deutschen an der Saar quillt.
Als letztes schließlich noch zwei kleine Kontroversen. Sie mögen sie nicht für sehr wichtig halten, aber sie sind entscheidend für das Funktionieren des ganzen Vertragssystems überhaupt. Einmal die Kontroverse, die der Herr Bundesfinanzminister mit dem Vorsitzenden der alliierten Hohen Kommission in der Frage der Stationierungskosten gehabt hat. Sie müssen doch schließlich wissen, ob es nach einem bestimmten Stichtag nach diesen Verträgen außer dem Beitrag der Deutschen an die Europäische Verteidigungsgemeinschaft noch Leistungen geben wird, die dem Unterhalt der Besatzungstruppen oder der künftigen Stationierungstruppe, wie Sie sie nennen wollen, in Deutschland zu dienen bestimmt sind. Der Herr Finanzminister - hat versichert, und sein Haushaltsplan weist das aus: er rechne nicht mit derartigen Stationierungskosten. Die Hohe Kommission hat im Auftrag aller drei Regierungen — das sind doch Ihre Partner, die wissen doch auch, was in den Verträgen steht — geschrieben, diese Ansicht sei völlig irrig.
Der Herr Bundesfinanzminister solle nicht das Ergebnis künftiger Verhandlungen vorwegzunehmen versuchen. Zunächst stehe fest, daß über dieses Thema verhandelt werden müsse, also auch die Bundesregierung verpflichtet sei — und so steht es auch in der Begründung für die französische Kammer —, über den 30. Juni 1953 hinaus einen Barbeitrag zum Unterhalt der Stationierungstruppen der nicht der EVG angehörenden angelsächsischen Mächte in Deutschland zu leisten.
Das ist doch einigermaßen wichtig. Ich will mich hier nicht zum Fürsprech der alliierten Auffassung machen.
Ich will auch nicht den Herrn Bundesfinanzminister irgendwie angreifen,
weil er vielleicht glaubt, in dieser Frage im Recht
zu sein, obwohl der Vertragstext gewisse Zweifel
andeutet. Das Entscheidende ist, daß in dieser Frage bis zum heutigen Tage unter denen, die die Verträge abgeschlossen haben, selbst keine einheitliche Meinung über das, was sie unterschrieben haben, besteht. Das ist doch wohl das mindeste, was wir wissen müssen.
Ein letztes, das den Herrn Bundeskanzler selber angeht. Der Herr Bundeskanzler hat an dieser Stelle einmal versichert, daß ihm die amerikanische Regierung die Zusicherung gegeben habe, das schwere Material, die schweren Waffen für das deutsche Kontingent in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in diesem Wert — und vorher war von einem Wert von 40 Milliarden die Rede — zu liefern. Er hat sich dann nach der Bundestagssitzung selber dementiert, diese Meldung im Bulletin der Bundesregierung wieder geradegebogen und gemeint, man müsse seine Rede etwas anders lesen.
Aber das Entscheidende zu diesem Punkt ist doch folgendes. Erst vor kurzer Zeit hat Herr Draper eine interessante Erklärung abgegeben: daß nämlich über die Ausstattung eines künftigen deutschen Kontingents noch nicht entschieden sei und daß die Amerikaner bereit seien, darüber zu verhandeln. Da sehen Sie, wie verschiedenartig die Auslegungen der Hauptbeteiligten zu einem wesentlichen Punkt sind, von dem letzten Endes doch auch das Funktionieren der Organisation, wie Sie sie sich vorgestellt haben, abhängt.
Ich meine, wir würden fahrlässig handeln, meine Damen und Herren, wenn wir in dieser Situation ein Vertragswerk ratifizierten, das mit Fragezeichen von einem Ende bis zum andern versehen ist Vielleicht ist es gar kein Fehler, wenn wir daran denken, daß in einer ähnlichen Situation sogar der französische Außenminister die Meinung soeben erst vertreten hat — Sie haben es heute sicher gelesen —, daß es zweckmäßig sei, in einer Frage, in der das Volk in seinen Auffassungen so zerrissen sei, zunächst durch Wahlen den Willen des Volkes zu ergründen, bevor man sich endgültig entscheide.