Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Sitzung am 5. März habe ich im Namen meiner Freunde wegen der neuerlichen Verschiebung der dritten Lesung Bedenken erhoben. Damals fragte ich die Koalitionsparteien nach den Gründen der Vertagung. Wir waren der Auffassung, daß die Zwischenzeit benutzt werden sollte, um für die Änderungsanträge eine Mehrheit zu gewinnen. Das hat ihren Unwillen erregt. Heute ist meine Behauptung vom 5. März bewiesen; man wollte in Wahrheit Zeit gewinnen, um den Widerständlern vom Norden bis zum Süden eine Mehrheit zu verschaffen.
Soweit ich im Augenblick — es war nur einige Minuten möglich — die Änderungsanträge beurteilen kann, möchte ich sagen, daß wir nicht in der Lage sind, für diese sogenannten Kompromißvorschläge zu stimmen. Diese Änderungsanträge sind in Wahrheit gar kein Kompromiß; sie verwässern das Gesetz, machen es unwirksam, und die Profilierung, die das Gesetz durch die Ausschußvorlage hatte, wird hier verzerrt. Ich glaube, meine Damen und Herren, daß über diesem Gesetz ungeschrieben der Geist der kollektivistischen Ethik, der gemeinsamen Verantwortung walten sollte.
— Das ist genau das, was der Herr Finanzminister
Schäffer gesagt hat. Ich kann Ihnen aus dem
Protokoll vorlesen, was er am 18. Januar verlangt
hat. Ich komme noch auf diese Rede zu sprechen. — Das ist es, was wir brauchen: die gemeinsame Verantwortung. Der Geist dieser gemeinsamen Verantwortung fehlt den Änderungsanträgen.
Es ist ohnedies schon spät. Die dritte Lesung in der 254. Sitzung ist ein bedenkliches Zeichen. Aber es ist trotzdem noch nicht zu spät. Dieses Gesetz könnte ein bedeutsames und wirksames Gesetz sein, wenn die Ausschußvorlage wiederhergestellt würde. Es könnte ein rascher und wertvoller Beitrag zur Eingliederung der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen sein und dazu beitragen, die wirtschaftlichen und sozialen Spannungen zu lindern und die Entstehung neuer politischer Probleme und Spannungen zu verhindern. Durch die Änderungsanträge, die wohl noch begründet werden und zu denen wir noch im einzelnen Stellung nehmen werden, wird das Gesetz verschlechtert. Die SPD wird daher für die Ausschußvorlage stimmen. Wir tun das nicht frei von Bedenken, aber in der Überzeugung, daß eine neue Vertagung oder Verzögerung untragbar ist und nicht gebilligt werden kann.
Die großen Ereignisse unserer Zeit sind in ihrem Umfang und ihrer Wucht oft schwer zu übersehen. Die alten Normen gelten nicht mehr. Was heißt es denn und wer faßt es noch, wenn wir sagen: 20 Millionen sind vertrieben worden!? Erst wenn wir versuchen, dieses Massenunheil in Einzelfälle aufzugliedern, dann sehen wir die Tragödie. Spricht man beispielsweise in Bayern mit einem bayerischen Landwirt über die Notlage der heimatvertriebenen Landwirte, dann findet man fast überall Verständnis, Einsicht und die Bereitschaft, Opfer zu bringen und zu helfen. Hört man aber einen bayerischen Anwalt etwa aus den Reihen der Bayernpartei, wenn er sich auf politischer Fahrt befindet, über dieses Problem sprechen, dann erkennt man, wie den Dingen auf einmal eine Schablone übergestülpt wird. Der Mensch Flüchtling wird eine Drohne, wie Dr. Fischbacher behauptete, der Mensch Flüchtling wird ein Gegner, wird ein Feind.
Es ist ja nicht gleichgültig, in welchem Ton wir über dieses Problem sprechen, ob wir ernstlich den Versuch unternehmen, es zu objektivieren, oder ob wir uns von egoistischen Sonderinteressen leiten lassen. Was übers Wochenende mancherorts zu dem Thema gesagt wurde, ist menschlich unverantwortlich und politisch und wirtschaftlich untragbar. Ich habe am letzten Wochenende — um nur ein Beispiel zu nennen — in Erding in Oberbayern hören müssen und es dann in der Presse bestätigt gefunden, wie auf einer Bezirksversammlung der Bayernpartei zu dem Problem der Flüchtlinge aus der Sowjetzone und zu dem Problem des Bundesvertriebenengesetzes von maßgeblicher Seite gesprochen wurde. Der Herr Präsident wird gestatten, daß ich, um korrekt zu bleiben, wörtlich zitiere. Der Herr Abgeordnete Simon Weinhuber der Bayernpartei hat zu dem Problem der Massenauswanderung aus der Sowjetzone gesprochen und hat gesagt, daß „die Propaganda des Ministers für gesamtdeutsche Fragen schuld an der Lage" ist, „denn Minister Kaiser rief ja: Kommt in Massen!"
— Von Weinhuber?
— Ach so, mag sein. Das sagen Sie in Erding, nicht hier!
Dann hat der Herr Abgeordneter Weinhuber zum Vertriebenengesetz gesprochen und mußte, einmal
in politischer Fahrt, natürlich zu Worten greifen, die hier niemand billigen wird. Er sagte mit Bezug auf das Bundesvertriebenengesetz: „Wenn das so weitergeht, haben wir bayerischen Bauern bald keine Existenzberechtigung mehr; am besten, wir besorgen uns heute schon einen Auswanderungsschein, damit die anderen Platz haben."
Das ist verantwortungslos und steht im Widerspruch mit der Wahrheit und mit den Tatsachen. Natürlich gibt es Interessengegensätze; die hat niemand geleugnet. Die Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge kann ja nicht im luftleeren Raum geschehen. Das wissen wir alle. Es geht eben darum, in ein halb zerstörtes Gesellschaftsgefüge ein fast ganz zerstörtes einzuordnen oder es wieder aufzubauen.
Dabei ergeben sich zwangsläufig Schwierigkeiten. Wir sehen hier drei fundamentale Schwierigkeiten vor uns. Die Eingliederung befindet sich ohne Zweifel sehr oft in einem echten Wettbewerb mit den Interessen gewisser Kreise einheimischer Bevölkerungsschichten. Dem Lastenausgleich, der ein Start für die Eingliederung sein sollte, fehlt jede soziale Basis.
— Die breite soziale Basis fehlt dem Lastenausgleich! — Ferner darf man die Schwierigkeiten der Verwaltung nicht übersehen, die oft für die Betreuung einer zusätzlichen Bevölkerungsschicht unvollständig eingerichtet ist. Das sind sicher subjektive und objektive Schwierigkeiten, mit denen wir alle zu rechnen haben.
Ich möchte hier nicht selber Mitleid kultivieren; aber das Vertriebenenschicksal ist doch das Schicksal einer Gruppe, die wegen ihrer Volkszugehörigkeit und wegen des verlorenen Hitler-Krieges haftbar gemacht wurde. Blinde Zufälligkeit hat gewütet und blinde Zufälligkeit hat entwurzelt. Ein sozialer Sturz wie selten in der Geschichte ist unleugbar eine Folge dieser Vertreibung. Keine Legendenbildung kann die bittere Tatsache dieses sozialen Sturzes übertönen. Ich möchte doch gern einmal wissen — wenn man die Kraft der Vorstellung hätte, sich ein Bild zu machen —, was beispielsweise die Herren von Dr. Besold bis Tobaben machen würden, wie sie sich verhalten, wie sie reagieren und denken würden, wenn das Unheil der Vertreibung in die Slowakei sie betroffen hätte Dieses geographische Mißgeschick hätte ja auch andere treffen können, dieser furchtbare Sturm hätte ja auch vom Westen nach dem Osten toben können. Ich will damit sagen, hier herrscht das Gesetz der Relativität. Viele unserer einheimischen Mitbürger sehen die Dinge anders als derjenige, der im Kreise steht.
Ich möchte mich vor allem gegen eine Legendenbildung wenden, die darin besteht, daß man aus dem Singular verallgemeinert, daß man von dem Flüchtling spricht, der schon saturiert ist. Gewiß gibt es Heimatvertriebene, die gut saturiert sind, die ausgezeichnete Positionen einnehmen. Aber die überwiegende Mehrheit der Heimatvertriebenen lebt noch in bedauernswerten Verhältnissen. Nicht jeder hat ein Häuschen oder eine neue Wohnung. Ich kenne Heimatvertriebenenwohnungen, in die es in Wahrheit noch hineinregnet.
— Auch, gut! Wir wollen ja auch den Einheimischen nichts nehmen. Wir wenden uns nur gegen die Legendenbildung, die stellenweise sichtbar wird. Das ähnelt der Geschichte der Schulbuben, der einen Aufsatz mit der Überschrift zu schreiben hatte: „Was willst du einmal werden, wenn du groß bist?" Da schreibt der Bub: „Ich möchte Flüchtling werden, der geht den ganzen Tag spazieren und arbeitet nicht." Eine solche Legendenbildung finden wir sogar bei führenden Männern der bayerischen und deutschen Politik. Ich muß noch einmal Dr. Fischbacher zitieren, der gesagt hat: „Die Zugewanderten leben hier wie Drohnen, für die die Einheimischen arbeiten müssen."
— Das hat er selber gesagt. Das hat er zugegeben und in der Presse nicht dementiert. Gegen eine derartige Entstellung wenden wir uns.
Hier ist also nicht nur ein Problem vom Standpunkt der Heimatvertriebenen zu lösen, es ist wirtschaftlich und sozial gesehen eine gesamtdeutsche Aufgabe zu lösen. Denn mit der zunehmenden Eingliederung der Heimatvertriebenen wird auch die soziale Struktur der Gesamtbevölkerung günstig beeinflußt. Daher glauben wir, daß das Heimatvertriebenenproblem kein Problem ist, das man in die Schublade legen und von den anderen Problemen Westdeutschlands hermetisch absondern kann. Das Problem muß vielmehr gemeinsam mit allen unseren sozialen Aufgaben, mit allen unseren wirtschaftlichen Aufgaben, die vor uns liegen, gesehen werden. Die Unobjektivität haben wir ja auch in diesem Hause und nicht nur außerhalb des Hauses erfahren. Herr Abgeordneter Dr. Frey hat in der 251. Sitzung folgendes gesagt — ich gestatte mir wieder, Herr Präsident, wörtlich vorzulesen —:
Bei diesem Punkte
— Mitwirkung der Siedlungsbehörde —
setzt eben die Sache mit dem Vertrauen ein. Wie sind diese Siedlungsbehörden zusammengesetzt? Es hat sich aus der Natur der Verhältnisse ergeben, daß sich der Beamten- und Angestelltenkörper nahezu ausschließlich aus Heimatvertriebenen und Flüchtlingen zusammensetzt.
„Nahezu ausschließlich" ! In der Zwischenzeit hatten wir die Möglichkeit, die Richtigkeit der Angaben und Behauptungen des Herrn Kollegen Dr. Frey nachzuprüfen. Das „ausschließlich" ist weit von den wirklichen Tatsachen entfernt. Die bayerische Landessiedlungsbehörde hat 256 Angestellte und Beamten; davon sind 47 Heimatvertriebene. Heißt das wirklich: ausschließlich von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen besetzt? Dabei untersuche ich noch gar nicht den Rang der 47 beschäftigten Heimatvertriebenen. So etwas kann man also nicht unwidersprochen sagen, und daher glaube ich, daß wir uns bemühen sollten, so objektiv wie möglich zu sein; auch ich möchte das hier tun.
Wir haben wenn wir solche Stimmen hören. oft den Eindruck, daß es am guten Willen fehlt, das Problem sachlich und objektiv zu beurteilen. Wie können wir Deutschen hoffen, im Ausland gehört zu werden, wenn wir den Anruf, der sich aus dem Vertriebenen- und Flüchtlingsproblem ergibt, nicht damit beantworten, daß wir dort, wo wir selbst Verfügungsgewalt haben, sozial gesunde Verhältnisse schaffen und alles tun, um krisenfester zu werden! So liegen doch die Dinge. Das ist ja auch nur ein Teil der sozialen Verpflichtungen. Ohne
Zweifel, das Vertriebenenproblem ist nicht das einzige Problem. Es ist ein wichtiges Problem; aber daneben gibt es eine Reihe anderer Verpflichtungen, denen wir uns nicht entziehen können. Die Lage breiter Massen der einheimischen Bevölkerung ist gar nicht beneidenswert. Sie ist sozial gesehen genau so schlimm wie die der Flüchtlingsmassen. Die Lage der Rentner, der Kriegsversehrten, der Arbeitslosen und auch der Kurzarbeiter und vieler Arbeiter ist schlimm genug. Wir sehen hier auch Schichten, die noch um die elementarsten Lebensbedingungen kämpfen. Noch haben wir 1 800 000 Arbeitslose. Hier zeigt sich wiederum, daß der Lebenskreis der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge im Lebenskreis des deutschen Volkes liegt. Der Kampf um eine echte soziale Ordnung sollte ja auch das erste Anliegen aller Heimatvertriebenen sein, weniger das geistige Hängenbleiben an alten Vorstellungen und alten Zuständen in der Heimat.
Das alles — ich weiß es — ist nicht neu. Seit Jahr und Tag ist das Vertriebenenproblem bekannt. Nur hat es in den letzten Wochen durch den Flüchtlingsstrom aus der Ostzone eine Verschärfung erfahren. Es brennt jetzt unter den Nägeln, und wir fühlen die Unterlassungssünden, die auf uns liegen, wie eine Hypothek. Wären die Regierung und die Mehrheit dieses Bundestages diesem Problem rascher und energischer auf den Leib gerückt, so wäre die Eingliederung der Sowjetzonenflüchtlinge heute leichter. So müssen sich die Spannungen verschärfen, so müssen neue politische Probleme erwachsen, und so müssen sich die bisherigen Maßnahmen als nicht genügend erweisen. Sie können den Zustrom neuer Flüchtlinge einfach nicht mehr aufhalten und mit ihm nicht Schritt halten. Wir haben ja in Westdeutschland bisher eine Bevölkerung aufgenommen, die an Zahl der Bevölkerung Dänemarks und der Schweiz entspricht, und wir werden mit diesem Problem noch lange zu tun haben. Aber da nützen uns weder die unrealistischen Vorschläge des Herrn v. Cube in München noch nützt uns im Augenblick der Blick des Herrn Bundeskanzlers übers Meer nach Kanada. Wir selber müssen hier ein Höchstmaß von eigener Leistung und Anstrengung mobilisieren und planvoll dem Problem zu Leibe rücken.
Wie die Dinge oft oberflächlich oder optimistisch beurteilt werden, das zeigt die Äußerung des Herrn Finanzministers Schäffer, eines Mannes, der sonst ein kühler Rechner und überlegt ist. In der Sitzung vom 28. Jänner sagte er — ich zitiere wieder mit Genehmigung des Herrn Präsidenten—:
Wir müssen hoffen, daß das große ethische Ziel, das sich die Gesetzgebung ... gestellt hat, im Jahre 1955, zehn Jahre nach dem Kriegsende, im wesentlichen erreicht ist und daß die Eingliederung dieses Bevölkerungsteils in die deutsche Wirtschaft im großen und ganzen vollzogen ist, so daß wir dann wieder ein Volk geworden sind und unter gleichen Wettbewerbsbedingungen im Wirtschaftsleben einander gegenüberstehen.
Wohl dem, wenn dem so wäre. Aber es gehört wirklich der größte Optimismus dazu, bei dem Tempo und bei der Energie, mit denen diese Maßnahmen betrieben werden, zu hoffen, daß die Eingliederung der Heimatvertriebenen 1956 im großen und ganzen abgeschlossen sein wird. Es wäre nämlich schon lange erforderlich gewesen, den gesamten Bereich des politischen und wirtschaftlichen
Denkens und des sozialen Gewissens auf die Behebung dieses besonderen Notstandes einzustellen. Das ist nicht geschehen.
Gerade diese Woche, am 21. März, sind es zwei Jahre her, daß der Sonne-Plan der Bundesregierung vorgelegt wurde. Diese Frühlingssonne aber ist nie in Westdeutschland aufgegangen. Der Sonne-Plan liegt irgendwo im Dunkeln. Ich frage: haben die Regierung und die zuständigen Stellen einmal wirklich den ernsten Versuch unternommen, nachzudenken und Nachforschungen über die Mittel anzustellen, die es uns ermöglichen könnten, Teile des Sonne-Plans zu realisieren? Das ist nicht geschehen. Manche Folgerungen des SonnePlans klingen wahrscheinlich nicht gut in den Ohren der Regierung und der Mehrheit dieses Hauses, nämlich besonders die Empfehlung, die sagt, daß das Flüchtlingsprogramm jedem Verteidigungsprogramm mindestens gleichgesetzt werden sollte.
Das hat man nicht gern gehört, und deswegen ging diese Frühlingssonne des Herrn Sonne nicht auf. War es nicht ein guter und sachlich begründeter Ratschlag, zu sagen, die Berufskenntnisse und Erfahrungen der Heimatvertriebenen soll man nicht brach liegen lassen, sondern in die westdeutsche Wirtschaft einbauen, damit daraus ein wertvolles Aktivum entsteht? Das war vor zwei Jahren. Und wenn wir rückwärts blicken, den Verlauf der Binnenumsiedlung überschauen, dann ergibt sich ein schwarzumrandetes Bild. Die erste Umsiedlung vom Jahre 1949 — damals sollten 300 000 Flüchtlinge umgesiedelt werden — wurde mit dem Ende 1951 abgeschlossen. Das zweite Umsiedlungsgesetz läuft noch; es soll, so hören wir, bis Ende 1953 erfüllt sein. Das dritte Umsiedlungsgesetz wird wohl erst 1956 durchgeführt werden können. Das ist das Ergebnis dieser Umsiedlung.
Seit 1949 hat die SPD dem Hause gangbare Wege vorgeschlagen, um das Vertriebenenproblem als Ganzes zu sehen und den Versuch der Lösung zu unternehmen. Unwidersprochen haben wir immer wieder feststellen können, daß die Arbeitslosigkeit im Jahresdurchschnitt 11/2 Millionen Menschen erfaßt, daß aber auf der anderen Seite von der deutschen Wirtschaft 2 Milliarden DM für Oberstunden bezahlt wurden. Die SPD wollte ein Viertel des Überstundenentgelts vom Arbeitgeber als Steuer einziehen, wobei der Arbeitgeber die Wahl gehabt hätte, diese Abgabe zu zahlen oder sie durch Einstellung neuer Arbeitskräfte abzuwenden. Unsere Vorschläge sind nicht beachtet worden. Wir wollten weiter dort, wo die Besetzung von Arbeitsplätzen die Bereitstellung von Mitteln erforderlich macht, die Reserven der Arbeitsverwaltung, die über den heutigen Vermögensstand hinaus anlaufen, nicht für Notstandsarbeiten von zweifelhaftem volkswirtschaftlichem Wert, sondern als rückzahlbare Darlehen zur Schaffung von Dauerarbeitsplätzen verwendet wissen. Unsere Vorschläge sind nicht gehört worden. Kein ernster Versuch ist unternommen worden, hier mit diesem Finanzierungsplan Arbeit und Wohnung zu schaffen.
Dabei übersieht die SPD gar nicht die gewiß lebenswichtigen Fragen im landwirtschaftlichen Sektor und besonders die Fragen unserer Ernährung und der Versorgung. Gerade der Sog der Stadt und die Tatsache, daß die Verbundenheit
mit dem Boden anscheinend immer lockerer wird, drängt ja zu Überlegungen und Maßnahmen. Solche Überlegungen ernster Natur haben auch innerhalb der SPD stattgefunden. Es handelt sich bei dieser Landflucht nicht allein um eine konjunkturbedingte oder vorübergehende Erscheinung. In Deutschland ist eben ein allgemeiner Strukturwandel im Anmarsch. Das wird häufig noch übersehen. Eine der Ursachen der Landflucht liegt in dem Unterschied des Arbeitseinkommens zwischen Stadt und Land, zwischen Industrie und Landwirtschaft zuungunsten der Landarbeit.
In den Protokollen über die Reden und Äußerungen der Vertreter der sogenannten Grünen Front lese ich jetzt immer die Sorge um die Landarbeiter. Ich möchte mir erlauben, die Sprecher dieser sogenannten Grünen Front auf die Tatsache der Untertarifbezahlung breiter Kreise der Landarbeiter hinzuweisen.
— Ja, also, das stimmt. Ich habe mir hier eine Statistik von amtlicher Stelle geben lassen, nach der beispielsweise im Kreise Göttingen nur 70 % der Landarbeiter, im Kreise Duderstadt und Nienburg nur 30 bis 40 % der Landarbeiter nach dem Tarif bezahlt wurden.
— Auch in Bayern!
— Kommen Sie mal zu mir, Kollege Horlacher! Ich bringe Ihnen einige Landarbeiter aus meiner Umgebung, die werden Ihnen sagen, wie sie leben müssen und wie sie bezahlt werden. Das ist die Wahrheit. Wenn Sie also um die soziale Lage der Landarbeiter besorgt sind, — da ist noch ein Gebiet, auf dem man schaffen und Gutes tun könnte. Aber die Entlohnungen unter dem Tarif tragen ja dazu bei, daß die Landflucht immer stärker wird. Und weil beide Einkommensgruppen eben oft im selben Ort oder im selben Kreis gegeneinander stehen und miteinander betrachtet werden, kommt es zu diesen Erscheinungen, gar nicht zu reden von der Abhängigkeit der Landarbeiter, die heute noch sprichwörtlich ist. Hier, meine Herren, könnten Sie sozial wirken! Aber Ihre Kurzsichtigkeit Ihren eigenen wirklichen Interessen gegenüber gestattet Ihnen ja nicht, das zu tun, was auch für die Eingliederung und für die einheimische Landwirtschaft, für den einheimischen Landmann, am zweckmäßigsten wäre.
Denn wie steht es wirklich? Wenn die Eingliederung eines Teils der vertriebenen Landwirte erfolgt, dann ist doch das eingegliederte ostdeutsche Landvolk nicht nur aus dem Bannkreis der eigenen Verelendung befreit, dann vermag auch darüber hinaus die Stellung dieser eingegliederten Landwirte das Gewicht des Bauerntums im Rahmen des deutschen Volkes zu verstärken, und zwar wesentlich zu verstärken. Wir müssen uns immer fragen, wo denn die Verwirklichung der viel zitierten Forderung der Bewegung des Bodens zum besseren Wirt bleibt. Diese Forderung ist auf den Plakaten zu lesen, ist aber in Wahrheit nicht verwirklicht.
Nun möchte ich abschließend noch zu einem Problem sprechen, das in der Öffentlichkeit sehr
häufig diskutiert wird. Als in der Presse zu lesen war, daß jetzt, sieben Jahre nach der Vertreibung, ein Bundesvertriebenengesetz dem Deutschen Bundestag zur Diskussion und Beratung vorgelegt wird,
da fragte man sich: Ist denn überhaupt noch sieben Jahre nach der Vertreibung ein Vertriebenengesetz notwendig, oder kommt es nicht zu spät? Und die Frage wird erwogen: Wollt ihr denn ewig Flüchtlinge bleiben? Wollt ihr denn ewig Vertriebene bleiben? Das ist eine Frage, die man immer wieder hört und die natürlich beantwortet werden muß, Der § 13 des Gesetzes nimmt ja auch darauf Bezug: die Betreuung soll nämlich ein Ende finden, wenn der Heimatvertriebene in einem zumutbaren Maß — verglichen mit seinen früheren Verhältnissen — eingegliedert ist. Wenn das erreicht ist, muß nach unserer Auffassung die Inanspruchnahme von Rechten und Vergünstigungen aufhören. Aber der Heimatvertriebene bleibt weiter Vertriebener, weil er seine Heimat verloren hat und weil er selbstverständlich das Naturrecht auf die Rückkehr in seine Heimat — volkswirtschaftlich gesehen die Rückkehr an seinen alten Arbeitsplatz in seiner Heimat — nicht aufgeben will und auch nicht aufgeben kann. So liegen die Dinge. Aber solange die Erfüllung der Forderung nach der Rückkehr an den alten Arbeitsplatz in der Heimat noch in der Ferne liegt, ist unsere primäre Aufgabe die Erhaltung und Vermehrung der Substanz, und die Erfüllung dieser Aufgabe ist damit auch eine politische und soziale Forderung. Erst der Aufbau unseres äußeren wirtschaftlichen und sozialen Lebens wird jene geistigen und politischen Kräfte — ich meine hier den Sektor der Heimatvertriebenen, der Flüchtlinge — freimachen, ohne die es kein geordnetes demokratisches Staatsgebilde geben wird.
Wenn heute in der Presse mit großen Lettern von Naumann und Genossen und von dem Recht, von dem Anwalt gehört zu werden, gesprochen wird, und wenn wir dabei natürlich nicht unberechtigterweise an neonazistische Gefahren denken, dann möchte ich dazu folgendes sagen: Die Naumanns und Gesellen werden so lange Unteroffiziere oder Offiziere ohne Mannschaft-sein, solange es ihnen nicht gelingt, Fußvolk aus den breiten Massen der Heimatvertriebenen und Einheimischen zu rekrutieren.
Erst wenn diese Gefahr akut wird, ist der Neofaschismus eine wirkliche Gefahr. Bis dahin sind
die Naumanns nach meiner Meinung lächerliche
Schießbudenfiguren. Aber wenn es ihnen gelingt,
Heimatvertriebene zu gewinnen, entsteht die reale
Gefahr, mit der wir uns auseinanderzusetzen
haben. Die Bundesrepublik als demokratischer
Staat mit seiner kurzen Entwicklungszeit wird erst
dann krisenfest werden, wenn es uns gelingt, die
Massen der sozial schwachen Heimatvertriebenen
und Einheimischen in ein positives Verhältnis zur
Demokratie zu bringen; und dieses positive Verhältnis kann nur erzielt werden, wenn wir alle
Anstrengungen in Richtung auf Vollbeschäftigung,
Schaffung von Arbeitsplätzen und Wohnungen für
beide, Einheimische und Vertriebene, mobilisieren.
— Sie reden von Propaganda! Wenn ich die Sonntagsreden aus Ihrem Kreise lese, in denen man
nationale Hochziele verkündet oder europäische Verteidigungspläne propagiert, dann möchte ich sagen: man muß auch an den Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag und Samstag denken und vom Montag bis zum Sonntag für diese Ziele arbeiten.
— Das sind keine Phrasen. Das ist ein realer Tatbestand. Wollen wir einmal gelten lassen, daß es so etwas wie einen abendländischen Charakter gibt; ich weiß es nicht, es wird behauptet, daß es so etwas gibt.
— Nun, ich bin mir manchmal nicht klar, was Sie unter abendländischer Kultur verstehen.
Ich bekenne mich dazu. Ich weiß aber auch, was manche Ihrer Kreise wollen. Abendländische Kultur heißt für Sie: restaurative Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das ist die Wahrheit.
Aber wenn es so etwas wie einen abendländischen Charakter gibt, dann sollte sich dieser Charakter im Kampfe um die soziale Gerechtigkeit im deutschen Volke, im eigenen Hause betätigen.