Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als der Punkt 4 der heutigen Tagesordnung aufgerufen wurde, war ich der Meinung, daß es sich um eine Wahlrechtsdebatte handelt. Aber die Rede, die Herr Kollege Mellies vorhin gehalten hat, war weniger eine Wahlrechtsrede als eine Wahlrede, und dazu, glaube ich, ist es jetzt noch zu früh. Wir sollten nicht dort, wo man sachliche Argumente vorzubringen hat, mit persönlichen Beschimpfungen aufwarten.
Man kann gegen den Entwurf der Bundesregierung manches einwenden — und ich selbst werde gegen seine Hilfsstimme beträchliche Gründe vorzubringen haben —, aber man soll nicht damit argumentieren, daß man dem Chef dieses Ressorts Sünden vorwirft, die erstens lange zurückliegen und die er zweitens gar nicht begangen hat.
— Ich glaube, das werden Sie, Herr Renner, einmal in Anspruch nehmen müssen!
Wir sind der Meinung, daß es sich hier um ein objektives Wahlgesetz handeln muß, das zu schaffen ist, und wir glauben, daß alle drei Gruppen, die hier Wahlgesetzentwürfe eingebracht haben, dies aus einer lauteren Gesinnung und aus staatspolitischen Gründen getan haben und nicht aus anderen Gründen, die man ihnen nicht unterstellen soll. Mag neben der staatspolitischen Hauptabsicht nebenbei auch einmal eine parteipolitische Nebenabsicht mitspielen — wieweit das der Fall ist, weiß ich nicht, weil ich in die Herzen derer, die den sozialdemokratischen Antrag eingebracht haben, nicht hineinzuschauen vermag —, es wäre immerhin eine menschliche Nebenabsicht, die eben nicht im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen steht.
Vor allem aber vertreten wir die Auffassung, daß das Wahlgesetz ein Grundgesetz des demokratischen Staates ist, daß es, materiell wenigstens, zu den Verfassungsgesetzen gehört. Deshalb ist es nach unserer Auffassung notwendig, daß dieser erste Deutsche Bundestag ein endgültiges Wahlgesetz schafft, das das, was man die Spielregeln oder die Grundsätze der Demokratie nennt, nun für Jahrzehnte hinaus festlegt, weil ja das Wahlgesetz die politische Führungsschicht unseres Volkes und die Methode ihrer Auswahl prägen wird. Ein dauernder Wechsel des Wahlrechts wäre ein Mittel, die Demokratie in Deutschland in Verruf zu bringen. Wir verstehen nicht, daß die sozialdemokratische Fraktion einem solchen Wechsel das Wort redet und jetzt nur ein vorläufiges Gesetz beschließen, aber im nächsten Bundestag bereit sein will, ein endgültiges Gesetz zu schaffen. Das Gute, das man tun kann, soll man bald und man soll es endgültig tun!
Man kann auch nicht sagen, daß der Gesetzentwurf der Bundesregierung zu spät eingebracht worden ist; denn es liegt ja an uns, jetzt das Gesetz noch zu schaffen, das schlicht und einfach ist — so einfach wie der Entwurf Wuermeling, der sogar vier Wochen vor der Wahl noch angenommen werden kann und durchführbar ist, weil er für jedermann einsichtig und verständlich ist.
Im übrigen darf ich bemerken, daß der Entwurf Wuermeling vom 16. Juli vorigen Jahres stammt und daß es nur am Ältestenrat dieses Hauses, dem auch die SPD-Fraktion angehört, liegt, daß er nicht schon im September oder Oktober behandelt wurde, wodurch wir weitaus mehr Zeit gehabt hätten. Aber auch die Herren von der Sozialdemokratie wollten wohl erst selbst einen Entwurf einbringen, und das haben sie eben erst vor wenigen Wochen getan — genau so spät wie die Bundesregierung.
Ich möchte keinen Zweifel darüber lassen, daß meine Freunde, vor allem meine Freunde aus Bayern, einig und geschlossen hinter dem Entwurf Wuermeling, Strauß und Genossen stehen, also hinter dem Entwurf des Mehrheitswahlrechts. Ich glaube, nichts stützt unseren Standpunkt mehr als die Feststellung, daß es in diesem Hohen Hause auch seitens anderer Parteien niemand gibt — es sei denn der Redner der Kommunistischen Partei —, der sich eindeutig und klar für ein offenes Verhältniswahlrecht ausspricht. Wer praktisch noch ein Verhältniswahlrecht will, wie die SPD, tut es, wie bei dem bisherigen Wahlgesetz, hinter der scheinbaren Mehrheitswahlfassade.
Es sind die Fehler von Weimar, es ist das Unglück der französischen Vierten Republik, die uns daran mahnen, nicht wieder zum Verhältniswahlrecht zurückzukehren. Die knappe Redezeit hindert mich daran, die unglückseligen Folgen des Proporzes und auch die Vorteile der Mehrheitswahl so ausführlich darzulegen, wie es an sich notwendig wäre. Ich kann hier auch auf einige Ausführungen meiner Vorredner Bezug nehmen. Aber es scheint mir doch notwendig, klarzustellen, daß das Verhältniswahlrecht der Weimarer Republik vielleicht nicht der einzige Grund der Machtergreifung Hitlers, aber eine wesentliche Voraussetzung seiner Machtergreifung
war.
Denn dieses Verhältniswahlrecht führte eben zu jener Zersetzung der Demokratie, die einmal die Regierungsunfähigkeit des Reichstags bedingte und dann im Volk eben die Demokratie so in Verruf brachte, daß sich ein großer Teil dieses Volkes radikalen Parteien zugewandt hat.
Ich habe es nicht nötig zu betonen, daß ich nicht dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt habe; denn da ich 40 Jahre alt bin, wird das ja sowieso von mir niemand annehmen.
Ich kann auch hinzufügen, daß ich niemals einer Partei angehört habe, die dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt hat. Ich bin mit Ihnen einig, daß die Annahme jenes Gesetzes ein Fehler war. Aber dieser Fehler war doch für die Machtergreifung des Nationalsozialismus durchaus nebensächlich, eine Angelegenheit, die erst post festum, erst nachträglich erfolgt ist. Vorher war erfolgt, daß im November 1932 Nationalsozialisten und Kommunisten zusammen 296 von 584 Mandaten errungen hatten, also die Mehrheit, und im März 1933 369 von 647 Mandaten, also wiederum die Mehrheit, daß also dieser Deutsche Reichstag zweimal arbeitsunfähig geworden war, weil Sie, meine Herren von der Kommunistischen Partei, zusammen mit den Nationalsozialisten die Mehrheit des Reichstags bildeten.
— Von Eichstätt verstehen Sie gar nichts, meine Herren von der Kommunistischen Partei! Dort haben Sie nicht einmal beim Verhältniswahlrecht ein Mandat im Stadtrat bekommen! —
Im übrigen darf ich noch auf folgendes hinweisen. Zur Machtergreifung des Nationalsozialismus hat auch wesentlich der Umstand beigetragen, daß diese Partei es eben nicht nötig hatte, in Einzelwahlkreisen Kandidaten herauszustellen, sondern in 36 Wahlkreisen den einen Kandidaten Hitler, der, mit dem Führermythos umgeben, das Volk davor bewahrte, die weiteren Kandidaten sich anzuschauen. Wenn bei dem miserablen Führerkorps der NSDAP in Einmannwahlkreisen hätte gewählt werden müssen, wären von vornherein die Chancen der NSDAP wesentlich geringer gewesen, ganz abgesehen davon, daß die demokratischen Parteien sich gegen sie hätten verbünden können.
Was wir im Jahre 1933 erlebt haben, erleben wir auch nachher, erleben wir auch im kleinen; denn auch die WAV des Herrn Loritz ist nur auf dem Boden des Verhältniswahlrechts denkbar. Und um von der kleinen Politik auf die große zu kommen: Herr Molotow hat auf der Moskauer Konferenz für Bund und Länder in Deutschland gefordert, daß in ihnen nach dem Proportionalwahlsystem gewählt werde. Er weiß, daß es das System ist, die Demokratie zu zersetzen; er weiß, daß bei diesem System am Ende wieder eine radikale Partei herauskommt.
Meine Damen und Herren, man mag formell beide Systeme, Mehrheits- und Verhältniswahl, als zwei demokratische Wahlsysteme bezeichnen. In Wirklichkeit ist der Majorz das Wahlsystem der Demokratie und der Proporz das Wahlsystem der Anarchie.
Für die Mehrheitswahl, die wir vertreten, spricht in erster Linie der Zwang zur politischen Konzentration. Denn durch die Mehrheitswahl überwinden Sie die Zersplitterung der Parteien, beseitigen Sie die Splitterparteien restlos, was durch eine Fünfprozentklausel, wie dieses Hohe Haus leider beweist, nicht völlig gelungen ist, und Sie beseitigen damit auch die Möglichkeit, daß eine kleine Gruppe ein Zünglein an der Waage bildet und eine Bedeutung erlangt, die ihr nicht zukommt. Allerdings: dieser Zwang zur Konzentration, diese Beseitigung der kleinen Parteien wird nur erreicht, wenn ich das angelsächsische, das relative Mehrheitswahlsystem habe; es wird nicht mit dem absoluten Mehrheitswahlsystem mit Stichwahl erreicht, das zwar einen Teil der kleinen Parteien beseitigt, sie aber, wie der kaiserliche Reichstag vor 1914 gezeigt hat, nicht völlig beseitigen kann. Wir sprechen uns deshalb für eine relative Mehrheitswahl aus und hoffen auch, daß im Ausschuß aus dem Entwurf Dr. Wuermeling, auf dessen Annahme wir vertrauen, jener § 13 gestrichen wird, der für gewisse Fälle eine Stichwahl vorsieht.
Für die Mehrheitswahl spricht zweitens der Umstand, daß die Mehrheitsbildung und damit die Regierungsbildung erleichtert wird. Das konstruktive Mißtrauensvotum, das heute die Folgen der Verhältniswahl beseitigen soll, ist doch nur ein Laborieren an Symptomen. Man soll den demokratischen Staat an der Wurzel gesund machen. Mit der Mehrheitswahl erhalten Sie nach menschlichem Ermessen immer die klaren Mehrheiten, die wir brauchen, um zu regieren.
Das dritte Argument ist die klare Scheidung zwischen Regierung und Opposition. Koalitionen sind immer ein Übel, weil jeder der Partner dabei etwas abgeben muß. Das Ziel ist, daß eine große Partei regiert und eine andere große Partei kontrolliert. Darin, meine Damen und Herren von der SPD, liegt ja die Chance der Opposition. Wer heute Opposition macht, kann nach der Mehrheitswahl schon bei einer kleinen Stimmenverschiebung draußen im Volk zu einer klaren Mehrheit im Parlament und damit zu der ersehnten Macht und Verantwortung kommen. Immer ist ein Koalitionssystem ein schwaches System, in dem sich die Demokratie leicht verschleißt, zumal dann, wenn, wie in der Weimarer Republik, die Demokraten von links bis rechts, also sozusagen von Mellies bis Dr. Lehr, zusammenstehen müssen, um die Demokratie zu retten, weil eben dann die Gefahr besteht, daß sich alle demokratischen Parteien verschleißen
und eine antidemokratische Opposition — Ihre nämlich, Herr Renner! — das Rennen macht.
Der vierte Vorzug der Mehrheitswahl sind die kleinen Wahlkreise mit je einem einzigen Abgeordneten, die es ermöglichen, daß Abgeordnete und Wähler in einer engen Verbindung leben. Hier haben wir die persönliche Verantwortung, die Rechenschaft, der jeder Abgeordnete unterzogen wird, und damit auch die Voraussetzung einer innerparteilichen Demokratisierung.
Damit kommen wir zu dem fünften Vorzug: daß die Person im Mittelpunkt des politischen Lebens stehen wird, nicht mehr die Partei. Die Partei ist zwar eine Dienerin und eine Notwendigkeit des politischen Lebens, sie kann aber nicht Hauptträgerin dieses Lebens sein. Die Minderung des Einflusses der Generalsekretariate, der anonymen Mächte, der kapitalistischen und proletarischen Interessenorganisationen wird eben damit erreicht, daß Personen aufgestellt werden, die in der Lage sein müssen, in ihrem Wahlkreis Vertrauen zu erwerben, die also nicht bloß einer Interessengruppe angehören dürfen, und daß man die Kandidaten nicht auf Listen unter dem Einfluß dieser Verbände zusammenstellt.
Der Fortfall des Fraktionszwanges, der mit dem Mehrheitswahlrecht erreicht wird, scheint uns einer seiner größten Gewinne zu sein, ist allerdings vielleicht auch ein Grund, aus dem sich die sozialdemokratische Opposition so sehr gegen das Mehrheitswahlrecht sträubt; sie fürchtet wohl, ihre Schäflein nicht mehr fest im Stall zu haben, wenn das Mehrheitswahlrecht durchgeführt würde.
Wenn ein sehr geschätzter Redner dieses Hauses vorhin sagte: wenn die Abgeordneten nur noch Wahlkreise verträten, so wäre das Parlament ein amorpher Haufen, so muß ich dieser Meinung doch stark widersprechen. Meine Damen und Herren, die Wahlkreisgesichtspunkte sind doch nur ein Teil der Gesichtspunkte, die politisch formend wirken. Die weltanschaulichen, kulturpolitischen, wirtschaftlichen, außen- und innenpolitischen Formkräfte überwiegen ja weitaus, und England und Amerika zeigen doch, daß sich dort zwei Parteien und zwei Fraktionen gebildet haben. Wer will die Parlamente Englands und Amerikas, die uns Deutschen manchmal haben zum Vorbild dienen können, als amorphen Haufen bezeichnen?!
Der sechste Vorzug der Mehrheitswahl scheint uns eine Verbesserung des politischen Klimas zu sein, ein Zwang zur Mäßigung. Es gibt todsichere Wahlkreise; aber in den umstrittenen Wahlkreisen — und das sind heute wohl die meisten — sind alle Parteien, die sich darum bemühen, das Mandat zu erhalten, gezwungen, gemäßigte Kandidaten und keine Radikalinskis aufzustellen, während doch im Verhältniswahlrecht jede kleine Partei davon lebt, daß sie noch radikaler, noch grundsätzlicher und noch prinzipieller ist als die anderen, ihr sonst gleichartigen Parteien. Wenn wir uns für die Mehrheitswahl entscheiden, werden wir also auch zu einem besseren politischen Klima kommen.
Ich kann nicht alle Gesichtspunkte anführen, die hier als Einwände gegen die Mehrheitswahl gebracht werden, aber einige wenige will ich nennen:
Es ist nicht wahr, daß das Mehrheitswahlrecht gegen die Gerechtigkeit verstößt! Gerechtigkeit ist keine Sache der Mathematik, ja, die arithmetische Ungerechtigkeit ist ein Vorzug der Mehrheitswahl, weil auf diese Weise eben klare Mehrheiten geschaffen werden und die Regierungsfähigkeit gesichert wird. Regierungsbildung und Gesetzgebung ist aber die Aufgabe des Parlaments, was Sie vielleicht nicht einsehen, weil Sie sich daran nicht beteiligen. Demokratie ist kein Spiel mit Zahlen, sondern Persönlichkeitsauslese von unten nach oben. Der Gerechtigkeitsfimmel der „Proporzer" ist nichts als eine gesetzlich sanktionierte politische Sentimentalität; und Sentimentalität ist Dummheit, mindestens in der Politik. Im übrigen scheint mir gerade das Verhältniswahlrecht mit seiner Forderung der arithmetischen, formalen Gerechtigkeit nach dem Spiegelbild der öffentlichen Meinung Ausdruck einer mechanischen Staatsauffassung zu sein, während die Mehrheitswahl als Auswahl einer Person in einem Wahlkreis Ausfluß einer organischen Staatsauffassung ist.
Wenn man uns weiter sagt, gerade Deutschland sei nicht reif für das Mehrheitswahlrecht, so muß ich sagen: Gerade weil bei uns die Gefahr der Zersplitterung größer ist als in England und Amerika, ist das Mehrheitswahlrecht bei uns noch notwendiger als dort. In England würde man mit dem Verhältniswahlrecht vielleicht noch ein arbeitsfähiges Parlament bekommen; wir werden es nicht bekommen.
Man sagt uns weiter: wenn die Mehrheitswahl durchkommt, werden keine Frauen ins Parlament einziehen. Darauf kann ich nur erwidern, daß von uns 24 Abgeordneten der CSU mit absoluter Mehrheit als einziger Kandidat die Frau Kollegin Dr. Probst ins Parlament eingezogen ist. Frau Kollegin Döhring hat den Herrn Bundestagskandidaten Theodor Heuß, den heutigen Bundespräsidenten, geschlagen. Bei der bayerischen Landtagswahl hat eine 32jährige Studienassessorin der SPD einen so routinierten Politiker wie den Justizminister Dr. Müller geschlagen. Sie sehen also, daß die Frauen, wenn sie die notwendige Energie, vielleicht
auch den notwendigen Charme haben,
durchaus in der Lage sind, sich auch bei Mehrheitswahl durchzusetzen.
Das nächste Argument heißt, es kämen keine Fachleute ins Parlament. Ja, meine Damen und Herren, sind denn wir, die wir in Wahlkreisen gewählt wurden, so viel dümmer als die Kollegen, die auf der Liste gewählt worden sind? Ich glaube,
gerade die Wahlkreise führen dazu, daß keine Theoretiker, aber eben bewährte Männer der öffentlichen Verwaltung, der Kommunalverwaltung usw., in die Parlamente hineinkommen. Man soll auch nicht sagen, wir brauchten auch Fachleute, die nicht reden könnten. Parlament kommt von „parlare". Wer nicht reden kann, gehört so wenig in ein Parlament, wie ein Blinder in ein Kino gehen soll!
Fachleute, die die Fähigkeit, aufzutreten, nicht besitzen, sollen Ministerialdirektoren, Bankdirektoren oder Gewerkschaftssekretäre werden, aber sie brauchen nicht ins Parlament zu gehen.
Man sagt uns jetzt: Nun gut, vereinigen wir die Vorzüge beider Systeme und schaffen wir ein Mischsystem! Dazu darf ich sagen, daß Majorz und Proporz strukturell antithetisch sind und eine Mischung deshalb prinzipiell gar nicht möglich ist. Eine Synthese ist nicht möglich; denn in dem Maße, in dem die Gesichtspunkte des einen Systems mit denen des andern vermischt werden, werden die Ziele des einen Systems zunichte gemacht. Es gibt keinen optimalen Kompromiß, es gibt keinen Goldenen Schnitt zwischen beiden Systemen. Es kann sich stets nur um ein faules Kompromiß und um ein kleineres Übel handeln. Wer meint, die wirklichen Vorteile der Mehrheitswahl mit den vermeintlichen des Proporzes zu vereinen und beider Nachteile auszuschalten, hat den Sinn des Mehrheitswahlrechts nicht begriffen. Denn der innere Sinn des Mehrheitswahlrechts wird aufgegeben, je mehr man Gedanken des Proporzes mit ihm vermengt. Man kann eine stabile Mehrheit nur dann erhalten, wenn man das Mehrheitswahlrecht hundertprozentig verwirklicht, und die lebendige Wechselwirkung zwischen Wählern und Gewählten auch nur dann, wenn man kleine Wahlkreise hat und nicht solche mit 200 und 300 politischen Gemeinden, wie wir sie heute besitzen.
Es gibt unter den Mischsystemen, die uns vorgeschlagen werden, echte und unechte. Ein unechtes haben Sie uns vorgeschlagen insofern, als bei Ihrem System am Ende die direkt errungenen Mandate angerechnet werden, so daß bei diesem System das Ergebnis so ist, als wenn wir nach dem Proporz gewählt hätten. Ein echtes hat uns die Bundesregierung vorgeschlagen, ein System, bei dem ein Graben gezogen wird: 50 : 50. Deshalb ist der Regierungsentwurf prinzipiell um einige Grade besser als der Ihrige, wenn er praktisch auch durch die Hilfsstimme wieder verschlechtert worden ist. Dieses unechte System, das Sie uns vorschlagen, führt letztlich zu nichts anderem als dazu, daß dieses Parlament wieder so aussieht, wie es ausgesehen hätte, wenn nach dem System der Weimarer Zeit gewählt worden wäre. Wir möchten uns klar und deutlich gegen jedes Tarnsystem, gegen jedes unechte Mischsystem wenden, zugleich aber betonen, daß wir uns auch mit dem echten Mischsystem nicht zufrieden geben können, vielmehr die volle Verwirklichung des Mehrheitswahlrechts fordern und uns nur im äußersten Fall danach richten können, daß ein echtes Mischsystem in dem Grade den Vorzug gegenüber dem proportionalen System oder dem jetzt von der SPD vorgeschlagenen System verdient, als der Graben zwischen den in direkter Wahl gewählten Abgeordneten und den Listenabgeordneten tief und unüberbrückbar gemacht wird.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist mit sehr großem Fleiß gemacht worden. So hat man wohl das komplizierteste Gesetzesgebäude hingestellt, das es im Wahlrecht in Deutschland je gegeben hat.
Das Ministerium Lehr ist überhaupt ein fleißiges
Ministerium. Wenn es hier wie auch in anderen
Fällen nicht vom Genius geküßt worden ist, dann
ist das vielleicht nicht Schuld, sondern Schicksal;
aber dieses Schicksal, Herr Schoettle, teilt das Ministerium ja mit Ihnen, denn Ihr Entwurf für die Bundestagswahlen ist bestimmt nicht genial und nicht einmal mit sehr viel Fleiß gemacht. Sie haben bloß ein altes System abgeschrieben, und das das hat schon in der Schule nicht gezählt.
Ich darf noch einmal wiederholen, daß eben das SPD-System in seinem Ergebnis zu nichts anderem führt als das Proporzsystem, das wir früher hatten, und daß, abgesehen von der 5-%-Klausel, auch dieses Hohe Haus nicht anders aussieht, als es aussehen würde, wenn es nach dem Weimarer System gewählt worden wäre. Damit, daß 60 % direkt gewählt werden und 40 % indirekt, daß aber die direkten Mandate angerechnet werden, kommt jede Partei gleichmäßig zum Zuge, ganz gleich, ob sie sich im Wahlkreis durchgesetzt hat oder nicht. Das hat zur Folge, daß die Mehrheitswahl gar keine echte Mehrheitswahl mehr ist, sondern allein ein Zuteilungsprinzip für Mandate innerhalb der großen Parteien. Für die kleinen Parteien spielt es überhaupt keine Rolle. Folglich ist das von Ihnen vorgelegte Wahlrecht in seinen mehrheitswahlrechtlichen Bestandteilen nur eine Potemkinsche Kulisse, denn die Wahl im Wahlkreis bringt eben nicht die Entscheidung, sondern ist nur die Methode des Auswählens und der Zuteilung der Mandate. Außerdem bringt dieses Ihr System zwei Sorten von Abgeordneten: die, die dem Volk bekannt und durch die Vordertür in dieses Haus hineingewählt worden sind, und diejenigen, die dem Volk nicht bekannt sind und durch die Hintertür einer Landesliste ins Parlament gekommen sind. Das, meine Damen und Herren, scheint uns vom Standpunkt des Wählers aus nicht erfreulich. Wir lehnen also Ihren Entwurf mit voller Entschiedenheit ab.
Ich darf mich jetzt zu dem Regierungsentwurf äußern. Meine Freunde von der CSU haben zunächst Bedenken dagegen, die Zahl der Mandate von 400 auf 480 zu erhöhen. Wir sind der Auffassung, daß die Qualität eines Parlaments nicht mit seiner Quantität steigt und daß man die Frage der Schaffung eines europäischen Parlaments ebenso wie die Frage der Doppelmandate in Bundesparlament und Länderparlamenten dadurch regeln sollte, daß man Doppelmandate nicht zuläßt. Im übrigen anerkennen wir den guten Gedanken der Bundesregierung, keine Anrechnung der Mandate, die direkt errungen worden sind, vorzunehmen und damit einen tiefen Graben zwischen den beiden Methoden der Auslese von Kandidaten zu schaffen. Wir bedauern aber, daß damit die großen Wahlkreise, die kaum zu bewältigen sind, bleiben. Wir haben auch Bedenken gegen jeden internen Proporzausgleich, der praktisch doch wieder den kleinen Parteien das Tor dieses Hauses öffnet.
Unser eigentliches, unser Hauptbedenken richtet sich aber gegen die Hilfsstimme, die dieses System so kompliziert und so undurchschaubar macht, daß niemand in der Lage ist, zumindest niemand, der nicht Jurist oder Versicherungsmathematiker ist, zu beurteilen, wie die Dinge schließlich und endlich aussehen werden. Wir vertreten die Auffassung — und ich glaube, das läßt sich nicht leugnen —, daß für die große Mehrheit unseres Volkes jede Wahl die Wahl eines kleinsten Übels ist, daß man aber den Wähler nicht dazu bringen kann, sowohl das kleinste Übel zu wählen, gleichzeitig aber auch ein größeres. Es ist einfach nicht denkbar, daß der Wähler einen Mann ankreuzt, den er wählen will, und zugleich einen andern, den er nicht wählen will. Das scheint uns eine Spekulation auf eine Art Schizophrenie des Wählers.
Meine Damen und Herren, Geisteskranke sind ja nach § 3 des gleichen Wahlgesetzentwurfs von der Wahl ausgeschlossen.
Man kann auch nicht sagen, daß das bayerische Kommunalwahlrecht ein schwierigeres System kennt. Sie haben in einer bayerischen Stadt die Möglichkeit, etwa 20 Leute zu wählen. Das sind noch mehr Stimmen. Aber Sie wählen 20 Leute, die Sie wollen und nicht einen, den Sie wollen, und einen, den Sie nicht wollen.
Außerdem haben wir Bedenken dagegen, daß nach diesem System der Hilfsstimme am Ende auch ein Mann gewählt werden kann und als gewählt gilt, der von den Hauptstimmen nur die dritt- oder viertmeisten hat, der also zweimal oder dreimal geschlagen worden ist. Das scheint uns ein undemokratischer Gedanke zu sein. Eine Vorverlegung der Stichwahl ist nicht möglich, weil niemand weiß, wer unter den beispielsweise sechs Kandidaten schließlich im Rennen bleiben wird. Der Wähler muß wissen, wen er wählt. Über die Hauptstimme verfügt er in Kenntnis der Verhältnisse, über die Hilfsstimme in Unkenntnis der Verhältnisse. Eine Wahl ins Ungewisse ist keine echte Wahl. Deshalb lehnen wir von der CSU die Hilfsstimme als ausgefallenste und unglückseligste Idee der deutschen Wahlrechtsgeschichte ab.
Wenn man den Entwurf der Bundesregierung konsequent zu Ende durchdenkt, bleibt nichts anderes übrig als eine Stichwahl. Auch gegen sie sprechen viele Bedenken, aber sie ist wenigstens verfassungsmäßig und demokratisch unangreifbar. Im übrigen vertreten w'r die Meinung. daß auch hier statt der Stichwahl die relative Mehrheitswahl das beste wäre, denn die eigentliche Integration, von der man heute so gern spricht, erfolgt ja nicht dadurch, daß eine Auswahl in der Stichwahl vorgenommen wird, sondern dadurch, daß man sich vorher in der Stichwahl innerhalb der Parteien zu großen Blöcken einigt, damit auf diese Weise ein Wenigparteiensystem in Deutschland entsteht.
Ich muß zum Schluß kommen. Ich weiß, daß die Freie Demokratische Partei und die Sozialdemokratische Partei den Entwurf Dr. Wuermeling nicht zu billigen vermögen. Ich möchte mich deshalb nicht an sie wenden, aber ich möchte mich an ihre Abgeordneten wenden, an ihr staatspolitisches Gewissen, an die einzelnen Abgeordneten der Freien Demokratischen Partei und der Sozialdemokratischen Partei. Ungefähr 150 Abgeordnete dieses Hauses haben sich vor ihrer Wahl schriftlich zum Mehrheitswahlrecht bekannt, darunter 9 aus der Freien
Demokratischen Partei und 29 aus der Sozialdemokratischen Partei. Wir werden Ihnen Ihr Bekenntnis zu den Grundsätzen, die Sie Ihren Wählern versprochen haben, dadurch erleichtern, daß wir Sie in der zweiten Lesung zu einer namentlichen Abstimmung auffordern. Dann können Sie ja zeigen, ob Sie Ihrem Gewissen oder einer höheren Order folgen.
Jemand hat gesagt, wir Anhänger des Mehrheitswahlrechts seien nicht nur Idealisten, sondern sozusagen weltfremde Ideologen. Ich möchte das bestreiten. Ich glaube, wir sind die wahren Realisten, weil wir die Wirklichkeit, die sehr schwierigen Verhältnisse unseres Volkes, kennen und sie mit der Mehrheitswahl meistern wollen, und zwar heute und nicht morgen. Wir können die Dinge nicht verschieben, wie es Herr Dr. Menzel meint; wir müssen uns heute und hier entscheiden. Hic Rhodus, hic salta!
Dieser Bundestag hat die Verantwortung. Die Frage: Mehrheitswahl oder Verhältniswahl ist für uns nicht eine Frage der graduellen Unterschiede, nicht ein Weg, den man beliebig so oder so zu gehen vermag. Die Frage: Mehrheitswahl oder Verhältniswahl ist die entscheidende Frage für Zukunft oder Untergang der deutschen Demokratie!