Rede von
Dr.
Bernhard
Reismann
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FU)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man die Rede des Herrn Ministers und die Reden der bisherigen Sprecher anhört, kann man fast den Eindruck gewinnen, daß es sich beim Wahlrecht um ein eigentliches Recht der Parteien handelt. Es ist etwas merkwürdig. Die Parteien haben, da sie im Saatsleben wichtig sind und ihre Funktion in der Verfassung anerkannt ist — man muß, nebenbei bemerkt, auch anerkennen, daß sie die Träger des politischen Willens der Nation sind —, ein Recht darauf, gebührend berücksichtigt zu werden. Bei dem Recht auf die Wahl aber handelt es sich um ein Recht des Wählers. Darauf kommt es an. Deswegen kann das Wahlrecht nicht nach der Frage ausgerichtet werden, die der Herr Präsident als Privatmann, als Politiker angesprochen hat: Wem nutzt das Wahlrecht? Dem Wähler muß es nutzen; seinen Willen muß es möglichst weitgehend zur Geltung bringen.
Aber noch eines fällt bei den Reden auf. Wenn die CDU hier so tut, als ob sie eine Einheit wäre und als ob ihr Sprecher den Willen der ganzen Partei wiedergäbe, die einheitlich hinter dem Regierungsentwurf stünde, so setzt es einen einigermaßen in Erstaunen, daß dieselbe Partei in Straßburg in der Ad-hoc-Versammlung einen genau entgegensetzten Standpunkt eingenommen hat.
Ich verweise auf den Art. 95 des Vertragsentwurfs für die Satzung der europäischen Gemeinschaft, der unter hervorragender Mitwirkung des Fraktionsvorsitzenden der CDU, des Herrn von Brentano, zustande gekommen ist; er ist mit ihm einverstanden gewesen. Hier zeigt es sich, wie man auch in deutschen Kreisen, auch in Kreisen der Regierungsparteien dann Stellung nimmt, wenn es sich nicht um den eigenen Parteivorteil, sondern um die Frage der gerechten Berücksichtigung aller und dort der gerechten Berücksichtigung unserer eigenen deutschen Belange handelt.
Im Zusammenhang hiermit kann es nicht ohne Bedeutung sein, daß wir aus der gemeinsamen Linie aller europäischen Demokratien ausscheren würden, daß wir uns ausschalten würden, wenn wir einen andern Weg beschritten, als er in den
westeuropäischen Demokratien sonst Sitte ist. Es ist festzustellen, daß sich der Weg des Wahlrechts in den westeuropäischen Demokratien nach eingehenden und gründlichen Überlegungen vom Mehrheitswahlrecht entfernt hat. Man ist ausdrücklich zu der eben verdonnerten Spiegelbildtheorie zurückgekommen, weil man gesagt hat: Die theoretischen Überlegungen wie auch die Praxis, namentlich die englische Praxis, lehren, daß das Mehrheitswahlrecht zu einer Minderheitsregierung führt. Sehen Sie sich doch die Geschichte des englischen Parlaments und der englischen Regierungen in den letzten Jahren, in den letzten Jahrzehnten an: fast immer, heute sowohl wie unter der Labour-Regierung, hat eine Minderheit über die Mehrheit regiert. Das ist nicht demokratisch, sondern, wenn man von dem demokratischen Grundgedanken ausgeht, geradezu unsittlich.
Deswegen heißt es in dem Art. 95, der in Straßburg mit 27 gegen 10 Stimmen angenommen worden ist — und unter den 27 Ja-Stimmen war die Stimme des Herrn von Brentano, des Fraktionsvorsitzenden der CDU, der sich sehr lebhaft für dieses Wahlrecht eingesetzt hat —:
Bis zum Inkrafttreten des in Art. 13 genannten Gesetzes werden die Wahlen zur Völkerkammer im Gebiete jedes Mitgliedstaates nach dem Verhältniswahlrecht
mit der Möglichkeit der Listenverbindung durchgesetzt.
Ja, was soll ich Ihnen denn nun glauben, meine Damen und Herren? Das, was Sie hier, oder das, was Sie in Straßburg sagen?
Im übrigen, meine sehr verehrten Damen und Herren, wer redet da von Parteizersplitterung? Diese Geschichtsklitterung sollten wir in diesem hohen Gremium doch sein lassen. Sehen Sie sich einmal die Zahl der Fraktionen — es kommt ja nicht auf die Zahl der Parteien, sondern auf die Zahl der Fraktionen an — im kaiserlichen Reichstag an. Da hatten wir unter dem absoluten Mehrheitswahlrecht zwei oder drei Fraktionen mehr als in der Weimarer Demokratie!
Dann wird gesagt, man solle auf diese Art und Weise für klare Mehrheiten sorgen. In die politische Terminologie zum Wahlrecht ist ein neues Wort eingeführt worden: das mehrheitbildende Wahlrecht. Die rein willkürliche und unechte Fiktion, daß dieses Wahlrecht hinter den oder die Kandidaten oder hinter den Bundestag eine klare Mehrheit bringe, wird also damit aufgegeben. Das wollen wir zunächst einmal feststellen. Aber bildet dieses Wahlrecht denn eine klare Mehrheit im Parlament? Sehen wir uns doch das Mutterland der wundervollen Erfindung des relativen Mehrheitswahlrechts an, nämlich England! Die Regierungsmehrheiten sind in den letzten Jahrzehnten dort knapper gewesen als bei uns.
— Bitte etwas bessere Zwischenrufe, damit man
wirklich darauf eingehen kann, Herr Wuermeling!
— Ein Staatssekretär sollte bessere Zwischenrufe machen!
Also sehen Sie sich doch bitte die englische Praxis an! Wenn eine kleine Absplitterung innerhalb der Mehrheitspartei erfolgt, sei es, daß sie auf Erkältung oder auf Opposition gegen die Regierung beruht, dann ist es nichts mit der Mehrheit. Es ist also eine rein willkürliche Unterstellung, zu sagen, die Festigung der Regierungsmehrheit könne auf diese Art und Weise erreicht werden.
Aber eins ist sicher: ein Absinken der Bereitschaft des Volkes, an diesen Pseudo-Wahlen mitzuwirken, erreichen Sie bestimmt.
Auch das wird in den Wählerzahlen in England ausgedrückt, wo es als ein besonderes Ereignis gilt, wenn einmal mehr als 60 % zur Wahlurne gehen. Sie können unser deutsches Volk auch dahin erziehen, so wie man es gemacht hat, als man es im Laufe von mehreren Monaten dreimal nacheinander zur Wahl aufrief, so daß man doch den Eindruck haben mußte: das ist alles eine reine Farce, darauf kommt es ja gar nicht an.
Eine klare Mehrheit wird also nicht erzielt. Aber dieses Wahlrecht selbst, das uns die Regierung jetzt vorlegt, ist so unklar wie nur möglich. Man muß Berufsmathematiker und Gelehrte der Zahlenmystik heranziehen, um auszurechnen, was aus den Stimmen der Wähler wird. Es ist klar: sie können stimmen, wie sie wollen; sie müssen aber darum knobeln, was hinterher aus diesen Stimmen wird. Ja, durch den inneren Proporz ist es sogar möglich, daß eine bayerische Stimme, die für die CSU abgegeben wird, einem Hamburger FDP-Mann zugute kommt.
Da sagen Sie mir nun einmal, so etwas habe einen vernünftigen Sinn!
Aber e i n Sinn kommt dabei zutage: daß Sie in ihrem eigenen Innenverhältnis der Koalitionsparteien die Proportion doch nicht bloß für ein Gebot der Gerechtigkeit, sondern auch für eine vernünftige politische Forderung ansehen. Sie kommen also an dem Proporz für Ihre eigenen Überlegungen doch nicht vorbei.
Man hat dieses Wahlrecht, das nun von der Regierung vorgelegt wird, als einen merkwürdigen Wechselbalg von sogenanntem Mehrheitswahlrecht und den Wünschen der Regierung, ihre eigene Macht zu sichern, bezeichnet. Denn das steht auch nach der lebhaftesten Verteidigung dieses Wahlrechts fest: daß es eigentlich überhaupt keine Linie hat. Es enthält Elemente des Mehrheitswahlrechts, Komponenten von der sogenannten Wählergemeinschaft; einen anmaßenderen Namen als den habe ich überhaupt noch nicht erlebt. Da gibt es eine
Handvoll von Persönlichkeiten - Personen sollen
wir lieber sagen; ich will nicht sagen, daß alle davon auch Persönlichkeiten sind —,
als wenn es nicht auch noch eine ganze Menge anderer gäbe, die sie nie danach gefragt haben, was sie denn von diesem Wahlrecht halten. Wenn es so einfach wäre, zu wissen, was die Wähler wollen, brauchten wir gar keine Wahl.
Jedenfalls das, was hier vorgelegt wird, ist ein gräßlicher Mißbrauch mit der Einrichtung der Wahl. Die Wahl hat keinen andern Zweck und keine andere Aufgabe, als eine Abstimmung im Volke darüber herbeizuführen, welchen Abgeordneten es sein Vertrauen schenkt, aber nicht darüber, eine bestimmte Regierungskoalition zu sichern.