Meine Damen und Herren! Wenn man in der ersten Lesung zu dem Regierungsentwurf Stellung nehmen will, muß man wohl zunächst an den Herrn Bundesinnenminister die Frage richten: Wie sieht denn nun dieser Regierungsentwurf eigentlich aus? Der Herr Innenminister hat den gedruckt vorliegenden Entwurf in der letzten Sitzung des Bundestags begründet, aber wenige Tage später konnte man bereits durch die Presse erfahren, daß die Bundesregierung gewillt sei, eine wichtige Änderung vorzunehmen.
Man wolle auf die zweite Stimme Verzicht leisten und wolle unter Umständen die Stichwahl, vielleicht sogar eine Stichwahl zwischen drei Kandidaten durchführen. Das bedeutet aber doch eine so wesentliche Änderung des Entwurfs, Herr Innenminister,
daß dann die Bundesregierung hätte auch den Mut
aufbringen sollen, diesen Entwurf zurückzuziehen
und dem Hause den Entwurf vorzulegen, der nun die letzte Meinung der Bundesregierung, vielleicht noch nicht die allerletzte, vertritt.
— Ach, Herr Wuermeling, es geht hier gar nicht um den Fortschritt, sondern es geht um ganz andere Dinge. Ich werde Ihnen das gleich sagen. — Aber vielleicht hat man auf die Zurückziehung dieses Entwurfes — und so etwas klang auch in der Presse an — mit Rücksicht auf das Prestige des Herrn Bundesinnenministers verzichtet, und wahrscheinlich, weil er dagegen Einspruch erhoben hat. Herr Bundesinnenminister, hier rächt sich die Tatsache, daß Sie es versäumt haben, im richtigen Augenblick den Entwurf zurückzuziehen oder ihn
mindestens verändert an den Bundestag zu bringen. Nachdem der Entwurf im Bundesrat eine einmütige Ablehnung erfahren hatte, hätte Sie einmal sehr ernsthaft überlegen sollen, ob es nicht zweckmäßiger gewesen wäre, jetzt einen anderen Entwurf seitens der Bundesregierung vorzulegen. Hier komme ich auf den Einwurf von Herrn Wuermeling: es führt doch einfach zu unhaltbaren Zuständen in der Gesetzgebung, wenn die Bundesregierung mit Rücksicht auf das Prestige einzelner Bundesminister Gesetzentwürfe zur ersten Lesung ins Parlament bringt, zu deren wesentlichen Punkten sie selber nicht mehr steht. Das muß einmal zu einer großen Verwirrung führen, das ist aber auch bestimmt dem Ansehen des Parlaments und der Bundesregierung nicht förderlich.
Wenn man zu dem Entwurf und zu der ganzen Frage des Wahlrechts Stellung nimmt, kann man doch an der gegenwärtigen politischen Situation nicht vorbeigehen. Wahlrechtsfragen, das wissen wir alle, sind immer sehr umstritten gewesen. Es ist unmöglich, ein Gesetz, das eine völlige Neuordnung des bisherigen Wahlrechts bedeutet, kurz vor dem Ende der Legislaturperiode zu verabschieden.
Ich glaube, dieser Punkt sollte bei allen Parteien etwas mehr Berücksichtigung finden, als es bisher der Fall gewesen ist. Mein Fraktionskollege Dr. Menzel hat bei der Begründung unseres Entwurfs schon betont, daß wir es für notwendig halten, zu Beginn der Legislaturperiode des neuen Bundestags über ein Wahlgesetz ausführlich zu beraten, und daß wir Wert darauf legen, ein solches Wahlgesetz dann mit einer breiten Mehrheit im Parlament zu verabschieden. Nur so wird man ein Wahlrecht schaffen, das auch die innerpolitischen Spannungen beseitigt. Aber so wie jetzt verfahren wird, kann doch der fatale Eindruck nicht vermieden werden, daß die Bundesregierung versucht, im letzten Augenblick ein Wahlgesetz durchzubringen, das ihr wieder die Mehrheit sichert. Sie werden mir hoffentlich diese Tendenz des Gesetzentwurfs nicht abstreiten wollen, trotz der Ausführungen, die Herr Scharnberg soeben dazu gemacht hat. Denn wozu hat denn schließlich der Bundeskanzler und mit ihm auch der Bundesinnenminister seit Monaten Kräfte in den Ministerien angesetzt, um immer neue Berechnungen durchzuführen und immer neue Vorschläge für einen solchen Gesetzentwurf zu machen, der dieser Koalition wieder eine Mehrheit sichern soll! Wenn Herr Scharnberg vorhin darauf hingewiesen hat, daß hier dieselbe Chance für alle bestehe, dann will ich das Wort von der Unwahrheit, das er heute morgen hier wiederholt gebraucht hat, in diesem Zusammenhang nicht wiederholen. Aber, Herr Scharnberg, es ist doch mindestens objektiv unehrlich, wenn Sie angesichts der vorhandenen Situation hier eine solche Behauptung aufstellen.
Es handelt sich doch jetzt nicht um die sachlichen Auseinandersetzungen über die Schaffung eines guten demokratischen Wahlrechts; es handelt sich einzig und allein um den Versuch der Bundesregierung, im neuen Bundestag wieder eine Mehrheit zu bekommen.
— Herr Euler, Ihre Zensuren sollten Sie mal in
Ihrer eigenen Partei anbringen; da haben Sie genug
dummes Zeug in der letzten Zeit erfahren können.
Wir wissen, daß der Bundeskanzler bei der Durchsetzung seiner Pläne und Vorstellungen nicht gerade sehr rücksichtsvoll ist. Seine ersten Wünsche gingen deshalb auch dahin, ein Wahlrecht zu bekommen — und das sollten Sie sich, Herr Euler, mindestens auch einmal ein wenig überlegen —, das möglichst seiner Partei, nämlich der CDU, ein großes Übergewicht sichert. Aber für eine solche Regelung hätte er schon gar keine Mehrheit bekommen. Er wird es deshalb sicher sehr begrüßt haben, daß der im Parlament so schweigsame Minister für die Angelegenheiten des Bundesrats bei seiner geistigen Rundreise durch die Welt nun in Australien ein Vorbild gefunden hat, das man hier in der Bundesrepublik einführen könnte.
Meine Damen und Herren, soviel Mühe Sie sich auch geben werden und soviel Sie auch darüber reden werden, niemand in der Bevölkerung draußen nimmt Ihnen doch ab, daß Sie hier nicht ein Gesetz zugunsten dieser Bundesregierung durchbringen wollen.
Aber wohin kommen wir denn mit der Demokratie — und das ist eben das Auschlaggebende bei der Diskussion im gegenwärtigen Zeitpunkt —, wenn jede Mehrheit dieses Bundestages am Schluß der Legislaturperiode den Versuch machen würde, ein Wahlgesetz zu verabschieden, das ihr wieder die Mehrheit bringt? Denn das, was Sie in diesem Falle für sich in Anspruch nehmen, würden Sie ja auch einer anderen Mehrheit des Parlaments am Schluß einer Legislaturperiode nicht verweigern können. Wenn aber die Wähler den Eindruck gewinnen, daß ihre Stimmabgabe nur dazu dienen soll, den machtpolitischen Ansprüchen bestimmter Gruppen zu dienen, dann wird es mit der Demokratie bald zu Ende sein.
Wenn Sie einen Weg suchen wollten, um das Ansehen der parlamentarischen Demokratie zu untergraben, — Sie konnten keinen besseren Weg gehen, als in diesem Augenblick den vorliegenden Gesetzentwurf einzubringen!
Meine Damen und Herren! Über die Haltung des Parlamentarischen Rates ist heute morgen auch noch gesprochen worden, und der Bundesinnenminister hat darauf hingewiesen, daß dieser bewußt darauf verzichtet habe, das erste Wahlgesetz auch für die kommenden Wahlen maßgebend sein zu lassen. Er hat dargelegt, daß der Parlamentarische Rat diese Haltung in der Erkenntnis eingenommen habe, daß alles in der Entwicklung begriffen sei. Ich will auf die Vorwürfe, die Herr Scharnberg gegen meinen Fraktionskollegen Menzel vorgebracht hat, im einzelnen nicht eingehen; das wird er wahrscheinlich selber noch tun. Aber, Herr Scharnberg, wenn Sie sich die Ausführungen von Herrn Menzel richtig angesehen hätten, dann hätten Sie diese Vorwürfe überhaupt nicht erhoben. Sie hätten zum mindesten das Wort von der Unwahrheit nicht gebraucht. Sie hätten dann, wenn Sie sich seine Rede genau angesehen hätten, festgestellt, daß Herr Menzel hier nicht vom Parlamentarischen Rat gesprochen hat, sondern von den Ministerpräsidenten, die auch Ihrer Partei angehören und die diesem Gesetz zugestimmt haben.
— Sehen Sie sich die Rede einmal an, Herr Schröder; dann werden Sie das bestätigt finden.
— Nein, gar nicht so, sondern wenn man hier solche Vorwürfe erhebt und von Unwahrheit spricht, dann sollte man sich zum mindesten das, was gesagt ist, einmal genau ansehen. Ich glaube, darauf würden auch Sie, Herr Schröder, Wert legen.
Meine Damen und Herren, ich habe dem Parlamentarischen Rat nicht angehört. Aber der Herr Innenminister muß ja wissen, welche Gründe damals maßgebend gewesen sind. Ich möchte jedoch immerhin auch zugunsten des Parlamentarischen Rats noch annehmen, daß man einem kommenden Bundestag, der direkt vom Volke gewählt worden ist, die Verabschiedung eines Wahlgesetzes überlassen wollte. Wenn das richtig ist — und ich sehe, daß Sie, Herr Becker, mir zustimmen —, dann wäre es doch Pflicht dieser Bundesregierung, die von Ihrem Vertrauen getragen wird, gewesen, zeitig genug den Entwurf eines solchen Wahlgesetzes vorzulegen.
Sie hat das nicht getan. Wir wissen, was der Grund dafür ist. Sie hat aus den inneren Schwierigkeiten heraus, die in der Koalition selbst bestehen, diesen Entwurf erst im letzten Augenblick vorlegen können. Auch diesen klaren Tatbestand sollten Sie doch in der Auseinandersetzung nicht verwischen.
Meine Damen und Herren! Wenn aber eine Regierung im Parlament eine Mehrheit gefunden und mit dieser Mehrheit vier Jahre regiert hat, ohne im Laufe der Legislaturperiode ein neues Wahlgesetz vorzulegen, dann sollte sie auch den Mut aufbringen, sich unter dem früheren Wahlrecht, unter dem diese Mehrheit gewählt worden ist, dem Urteil des Volkes zu stellen.
Sie sollte das um so mehr, als der Bundeskanzler vor einigen Monaten von dieser Stelle aus erklärt hat, daß er den Wahlen zuversichtlich entgegensehe.
Nun, wenn das stimmt, dann möge man diese Zuversicht auch beweisen und sie nicht durch ein Wahlrecht untermauern, das die Grundlage der Demokratie in der Bundesrepublik weitgehend zerstören wird.
— Meine Damen und Herren, ja, es scheint mir auch so, als ob Sie sehr wesentlich dazu beigetragen haben, diese Grundlagen jetzt schon zu zerstören, wenn ich mir nur einmal das Verhältnis ansehe, das zwischen der Bundesregierung und dem Parlament hier in diesem Hause besteht.
Der Herr Bundesinnenminister hat bei seiner Begründung ausgeführt, der Proporz der Weimarer Republik habe uns sogar den Verlust der Mitte gebracht, an dem dieser Staat zugrunde gegangen
sei. Und Herr Scharnberg hat sich ja sehr viel Mühe gegeben, auch immer wieder darauf hinzuweisen, daß der Weimarer Staat an dem Verhältniswahlrecht zugrunde gegangen sei. Diese Worte des Herrn Bundesministers, aus dem Munde eines Mannes, der in der Weimarer Zeit selbst einiges getan hat, um diese Mitte zu zerstören, sind immerhin bemerkenswert.
Herr Minister, Sie irren, und auch Herrn Scharnberg, Sie irren, wenn Sie glauben, daß die Grundlagen der Weimarer Republik durch das Verhältniswahlsystem zerstört worden seien.
Die Grundlagen der Weimarer Republik sind zerstört worden, weil es von Anbeginn an eine Partei in dieser Weimarer Republik gab, die kein Mittel scheute, um die Demokratie herabzusetzen und verächtlich zu machen; diese Partei war die Deutschnationale Partei.
Vielleicht prüfen und überlegen auch einige aus Ihren Reihen einmal, wieviel Schuld sie selbst aus dieser Zeit noch mit sich herumtragen.
Wenn Herr Scharnberg darauf hingewiesen hat, daß man damals, 1933, keine Möglichkeit mehr gehabt hätte, so muß ich fragen — ich hätte die Frage heute morgen nicht angeschnitten; aber nach den Ausführungen von Herrn Scharnberg bin ich dazu gezwungen —: Woran hat es denn gelegen, daß die noch vorhandenen rechtsstaatlichen Elemente in der Weimarer Republik dem Hitler-Regime keinen Widerstand leisten konnten? Doch an der Tatsache, daß man am 23. März 1933 einmütig von allen Parteien rechts von der Sozialdemokratie dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt hat!
Herr Innenminister, Ihre Partei hat sich in der Weimarer Zeit nicht gescheut, mit den ausgesprochenen Feinden der Demokratie, den Nationalsozialisten, gemeinsame Sache zu machen.
Denken Sie nur einmal an die Harzburger Front und den gemeinsamen Weg, den Sie gegangen sind bis zum bitteren Ende Ihrer Partei, bis Ihre Partei selber dabei unter die Räder kam!
Was veranlaßte denn diese Deutschnationale Partei unter der Führung von Herrn Hugenberg damals, diesen Weg zu gehen? Meine Damen und Herren — und das ist maßgebend für den Untergang der Weimarer Demokratie —, diese Agitation der Deutschnationalen gegen die Republik war doch getragen von dem Haß gegen jede Demokratie. von dem Haß gegen das gleiche Wahlrecht.
von dem Haß gegen die Bestimmung des Volkes über sein eigenes Schicksal und vor allen Dingen von dem nicht zu überbietenden Haß gegen die Sozialdemokratie.
Herr Minister, seien Sie überzeugt, mit diesem Wahlgesetz gehen Sie einen ähnlich verhängnisvollen Weg. In dem Augenblick, in dem Sie versuchen, die jetzige Mehrheit durch das Wahlgesetz auch für die nächsten vier Jahre zu sichern, zerstören Sie weitgehend die Grundlagen der Demokratie in der Bundesrepublik. Das kann keine demokratische Partei ruhig hinnehmen. Ich sage das mit allem Nachdruck, ich sage das auch mit dem Hinweis auf die Folgen, die durch die Annahme eines solchen Gesetzes eintreten müßten.
Dafür tragen Sie, Herr Minister, und dafür trägt die Bundesregierung dann die volle Verantwortung.
Vielleicht, Herr Minister, können Sie dann zum zweiten Mal in Ihrem Leben das Bewußtsein haben, daß Sie zur Zerstörung einer Demokratie wesentlich beigetragen haben.
Der Kollege Schröder hat vor einigen Tagen von dieser Stelle aus in einer anderen Angelegenheit das Wort gebraucht: „um des innerpolitischen Friedens willen".
— „Um des inneren Friedens willen", schön. Wenn es Ihnen ernst ist mit einem solchen Wort, dann kann dieser Gesetzentwurf nicht Gesetz werden, weil er den innerpolitischen Frieden zerstören muß.
Meine Damen und Herren, das in einem Augenblick, in dem täglich Tausende den Weg aus der Diktatur und der Unterdrückung in die demokratische Ordnung der Bundesrepublik suchen!
Sollen sie denn, wenn sie hier angekommen sind, etwa zu der Feststellung kommen, daß um des Machtbedürfnisses dieser Regierung willen auch hier die demokratische Ordnung zerstört wird?
— Nun, ich habe gerade zu Ihnen, Herr Schütz, und zum Vertriebenengesetz nachher noch ein paar Worte zu sagen. Vielleicht sparen Sie sich Ihre Erregung bis dahin auf.
Herr Kollege Dr. Ehlers, der ja gleichzeitig das hohe Amt des Präsidenten dieses Hauses bekleidet, hat zu den Wahlrechtsfragen vor einiger Zeit ebenfalls Stellung genommen. Er hat nachher — es war wohl in der vorigen Woche — dargelegt, daß seine Äußerungen in der Presse nicht richtig wiedergegeben worden seien.
Ich will mich damit im einzelnen nicht auseinandersetzen. Ich bin aber der Auffassung, daß auch nach dieser Berichtigung der erste Teil mit dem dritten Teil nicht ganz in Einklang zu bringen ist. In dem dritten Teil hat Herr Kollege Ehlers darauf hingewiesen, er habe so nebenbei hingeworfen, man könne von der Mehrheit nicht verlangen — ich habe den Wortlaut im Augenblick nicht vorliegen, aber so ungefähr war es wohl —, daß hier ein Wahlgesetz verabschiedet werde, das der Opposition einen Vorteil brächte.
Nun, meine Damen und Herren, auch wenn diese Bemerkung nur so hingeworfen war, muß doch einmal mit allem Nachdruck festgestellt werden, daß es sich bei dem Wahlgesetz gar nicht darum handelt, ob die Mehrheit oder die Minderheit, ob die Regierungsparteien oder die Opposition eine Chance haben sollen,
sondern ausschlaggebend kann doch einzig und allein sein, daß der Wille des Wählers zur Geltung kommt.
— Hoffentlich erinnern Sie sich daran, Herr Wuermeling, wenn es nachher um die Auseinandersetzungen über das Gesetz geht.
Die Auseinandersetzung über das Vertriebenengesetz in diesem Hause hat doch bewiesen, wo die Fronten im deutschen Volk wirklich liegen. Hoffentlich sind bei Ihnen — und gerade bei Ihnen, Herr Schütz — einige Nachgedanken über die Tatsache gekommen, daß das Vertriebenengesetz in der zweiten Lesung nur dadurch in einer halbwegs annehmbaren Form zustande kommen konnte, weil die sozialdemokratische Fraktion mit den Vertriebenen-Abgeordneten aus den anderen Fraktionen dafür sorgte, daß nicht bitterste Enttäuschung bei den Vertriebenen aufkam. Dadurch, daß die sozialdemokratische Fraktion sich so für das Vertriebenengesetz eingesetzt hat, obwohl es ihrer Vorstellung nicht ganz entspricht, hat sie für den inneren Frieden wirklich etwas getan, während Ihr Gesetzentwurf über das Wahlrecht nur der Zerstörung des inneren Friedens dient.
— Nun, über das Thema wollen wir beide uns lieber nicht unterhalten, Herr Wuermeling! Es gibt nämlich in diesem Hause niemanden, der es in einer Volksverhetzung weiter gebracht hätte, als Sie das getan haben!
Deshalb bin ich auf die Situation beim Vertriebenengesetz eingegangen. Sie möchten von der Mehrheit eine solche Situation in diesem Hause nicht wieder haben. Sie möchten deshalb, daß der Einfluß der Sozialdemokratischen Partei auf ein Mindestmaß heruntergedrückt wird. Wenn es möglich ist, möchten Sie durch dieses Wahlgesetz sogar eine Zweidrittelmehrheit erreichen, um damit die restaurativen Tendenzen der Bundesregierung auch im Grundgesetz verankern zu können.
Sie möchten auf diese Weise ein fortschrittliches Betriebsverfassungsgesetz und ein echtes Mitbestimmungsrecht verhindern. Sie möchten eine Sozialpolitik nach der Dehlerschen Vorstellung durchführen, und Sie möchten mit den Gewerkschaften im Sinne des Bundesministers der Justiz verfahren. Sie möchten endlich für Ihre Kleineuropapolitik immer eine feste und ausreichende Mehrheit haben. Das ist das Ziel, das Ihnen letzten Endes vorschwebt und das Sie mit diesem Wahlgesetz erreichen möchten.
An anderer Stelle habe ich schon einmal darauf hingewiesen, daß dieser Gesetzentwurf aus diesen Gründen in Wirklichkeit ein Gesetzentwurf gegen alle Schaffenden und gegen die Vertriebenen sein wird.
In dem Zusammenhang muß ich auch noch einmal daran erinnern, daß dieser Gesetzentwurf von der Bundesregierung ausgerechnet in dem Jahre eingebracht worden ist, in dem sich zum 75. Mal der Tag jährt, an dem Bismarck das Sozialistengesetz erließ. Damals, Herr Bundesinnenminister, hat Bismarck bekanntlich versucht, die Sozialdemokratische Partei zu vernichten. Heute hegen Sie wahrscheinlich den kühnen Gedanken, durch dieses Gesetz den Einfluß der Sozialdemokratischen Partei im Parlament auf ein Mindestmaß herabzudrücken.
Und so soll dann dem „Meister" Lehr das gelingen, was dem „Stümper" Bismarck vor 75 Jahren nicht gelungen ist.
Meine Damen und Herren! Angesichts der Tatsache — ich möchte das noch einmal mit allem Nachdruck sagen —, daß wir wenige Monate vor der Neuwahl dieses Bundestages stehen, gibt es nur eine Lösungsmöglichkeit: Die Neuwahl des Bundestages muß nach demselben Wahlrecht vorgenommen werden, das bei der Wahl dieses Bundestages in Kraft war. Für jede andere Lösungsmöglichkeit ist die Frist zu kurz bemessen, und die Schuld daran — das möchte ich auch noch einmal ausdrücklich feststellen — trägt die Bundesregierung, weil sie erst wenige Monate vor der Neuwahl mit diesem Entwurf ins Parlament gekommen ist.
Dieser Gesetzentwurf aber ist für die gesamte innerpolitische Entwicklung so entscheidend und so verhängnisvoll, daß unseres Erachtens über ihn nicht weiter beraten werden darf. Wir werden deshalb gegen die Überweisung an den Ausschuß stimmen, und wir hoffen, daß wir damit in diesem Hause eine Mehrheit finden. Wenn der Bundestag in dieser Weise zu erkennen gibt, daß er nicht gewillt ist, die innerpolitische Entwicklung schwersten Gefahren auszusetzen, dann ist das getan, was um des inneren Friedens willen geschehen muß.